Wem gehören die Gasfelder unter dem Mittelmeer?
Ein Keil zwischen Libanon und Israel
von Bashir El-Khoury
Die Libanesische Republik befindet sich – 67 Jahre nach der Gründung Israels – offiziell immer noch im Kriegszustand mit seinem südlichen Nachbarn. Auf den Grenzverlauf haben sich die beiden Staaten nie geeinigt. Zu dem alten Streit um das Gebiet südlich des Dorfs Scheeba im westlichen Golan ist 2011 ein weiterer gekommen. Dabei geht es um die Kontrolle eines Seegebiets, in dem bedeutende Erdgas- und Erdölvorkommen lagern sollen.
Die keilförmige umstrittene Zone ist etwa 870 Quadratkilometer groß. Sie umfasst 3 Prozent der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), innerhalb derer der Libanon ein souveränes Recht auf Exploration und Förderung natürlicher Ressourcen beansprucht. Diese erstreckt sich von der Küstenlinie bis zu einer 200- Meilen-Grenze, also 370 Kilometer ins offene Meer. Solange die Förderung nicht begonnen hat, lässt sich der genaue Umfang der vermuteten Gasvorkommen schwer ermitteln. Eine Studie der Beratungsfirma Beicip-Franlab, die zum französischen Forschungsinstitut IFP Énergies nouvelles gehört, geht davon aus, dass im südlichen Teil, zu der auch der umstrittene Keil gehört, bis zu 340 Milliarden Kubikmeter Erdgas lagern könnten.
Die Hinweise auf einen riesigen Rohstoffschatz unter dem Meeresgrund wurden vor zwei Jahren durch die Entdeckung der israelischen Lagerstätte Karish bestärkt, die in unmittelbarer Nähe des umstrittenen Gebiets liegt. Mit einem geschätzten Volumen von 50 Milliarden Kubikmetern ist dieses Gasfeld die fünftgrößte Lagerstätte, die Israel in den letzten zehn Jahren entdeckt hat. Auch in den beiden Gasfeldern Leviathan und Tamar weiter südlich lagern nach Angaben der privaten Unternehmen, die mit der Ausbeutung beauftragt sind (darunter die US-Firma Noble Energy), etwa 540 und 250 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Damit gehören diese Felder zu den größten bislang im levantinischen Becken entdeckten Vorkommen.
Das Karish-Feld liegt liegt nur vier Kilometer südlich der von Beirut festgelegten Südgrenze seiner AWZ. Diese Nähe schürt im Libanon die Angst, Israel könnte auch die Vorkommen auf libanesischer Seite ausbeuten: Mittels Horizontalbohrungen lassen sich Erdgas- oder Ölvorkommen in angrenzenden Lagerstätten anzapfen.
Die libanesischen Befürchtungen haben noch einen weiteren Grund: den gravierenden energiepolitischen Entwicklungsunterschied zwischen dem Zedernstaat und seinem südlichen Nachbarn: Israels gesamte Erdgasreserven wurden 2012 vom interministeriellen „Tzemach-Komitee“ auf 950 Milliarden Kubikmeter geschätzt – bei einem Eigenverbrauch, der von BP für 2014 auf 7 Milliarden Kubikmeter beziffert wird. Israel entwickelt sich also schrittweise zu einer Energiemacht, die auch die Technik zur Förderung von Offshore-Vorkommen beherrscht.
Im Gegensatz dazu deckt der Libanon immer noch 96 Prozent seines Energiebedarfs durch Importe und muss immer wieder den Aufschub geplanter Förderprojekte vermelden, was zumeist mit inneren politischen Konflikten zusammenhängt. Dabei interessieren sich bereits mehrere ausländische Energiekonzerne für die Förderung der libanesischen Offshore-Vorkommen, darunter ExxonMobile, Shell und Total. Die Ausbeutung dieser Gasvorkommen wäre ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Und auch zu einer dringend notwendigen finanziellen Entlastung, denn der Staat ächzt unter einer Schuldenlast, die auf 140 Prozent der Wirtschaftsleistung angewachsen ist, eine der höchsten weltweit.
Die Streitigkeiten zwischen beiden Staaten begannen im Juli 2011, als Israel offiziell die Grenze seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone festlegte. Die verlief weiter nördlich als die Linie, die der Libanon 2010 in seinem Antrag vor den Vereinten Nationen als seine südliche AWZ-Grenze beansprucht hatte. Tel Aviv beruft sich auf ein Abgrenzungsabkommen, dass es 2010 mit der Republik Zypern geschlossen hat, wie auch auf eine Vereinbarung zwischen den Regierungen in Beirut und Nikosia aus dem Jahr 2007. Doch das libanesische Parlament hat den Text von 2007 nie ratifiziert und ihn später als den Zukunftsinteressen des Landes abträglich erklärt. Das Dokument lässt im Übrigen offen, wo die AWZ-Grenzen von Zypern, Israel und Libanon aneinanderstoßen. Die zyprisch-israelische Vereinbarung wird zudem von Ankara angefochten, weil es den von der Türkei seit 1974 besetzten Nordteil Zyperns einbezieht.
Keine gerichtliche Einigung möglich
Der Libanon stützt sich bei seiner 2010 angemeldeten AWZ-Abgrenzung auf das 1949 unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen mit Israel und die internationalen Normen, die im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 (UNCLOS) anerkannt sind. Der Libanon hat UNCLOS 1995 ratifiziert – im Gegensatz zu Israel (und auch der Türkei). Dennoch beruft sich Tel Aviv auf diverse darin festgelegten Prinzipien.
Für die Lösung von Grenzstreitigkeiten haben Staaten im Allgemeinen drei Möglichkeiten: direkte Verhandlungen, ein internationales Schiedsverfahren oder eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) beziehungsweise dem Internationalen Seegerichtshof in Hamburg, der seit 1996 auf Grundlage des UN-Seerechtsübereinkommens als eigenständige Institution arbeitet.
Der IGH hat schon mehrfach Entscheidungen in Fällen getroffen, die dem israelisch-syrischen Streit ähnlich waren. Das gilt etwa für den Streit um die Abgrenzung des Festlandsockels zwischen Tunesien und Libyen, der 1982 (also noch vor Abschluss des UNCLOS) entschieden wurde.
Auf diesen drei Lösungswegen wurden schon hunderte größerer und kleinerer seerechtlicher Streitfälle beigelegt. Aber im israelisch-libanesischen Fall scheint keiner dieser Wege gangbar. Direkte Verhandlungen sind nur schwer vorstellbar, weil die beiden Länder immer noch keinen Friedensvertrag unterzeichnet haben. Ein internationales Schiedsverfahren würde indirekt die Anerkennung der Legitimität Israels durch den Libanon beinhalten. Und der Weg vor den Hamburger Seegerichtshof ist versperrt, weil Israel das Seerechtsübereinkommen nicht ratifiziert hat. Zudem hat Israel bereits gegen mehrere Entscheidungen des IGH verstoßen und außerdem Rechtsgutachten des Haager Gerichts ignoriert, zum Beispiel das von 2004, in dem der IGH den Bau der Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland als Verletzung des internationalen Rechts qualifiziert hat.
Angesichts dieser verfahrenstechnischen Sackgasse konzentrieren sich die diplomatischen Bemühungen auf eine „gütliche“ Einigung. Vor allem aber will man die Gefahr einer Eskalation minimieren. Seit Beginn des Konflikts laufen indirekte Verhandlungen unter Führung der USA, die jedoch bislang ohne Ergebnis blieben. Einer der US-Vorschläge, der im Herbst 2012 von Beirut in Betracht gezogen, von Israel aber ein Jahr später abgelehnt wurde, bestand darin, dem Libanon mehr als die Hälfte des umstrittenen Gebiets zuzusprechen und so das „umstrittene Gebiet“ im Hinblick auf eine künftige Regelung zu verkleinern.
Vor diesem Hintergrund befürchten einige Beobachter eine Verschärfung der Spannungen. Die Gefahr einer direkten Konfrontation scheint allerdings auf absehbare Zeit gering. Das liegt vor allem am Krieg in Syrien, der die Karten in der Region neu gemischt und die geostrategischen Interessen der Akteure verschoben hat. Und im Libanon hat man derzeit angesichts der tiefen politischen Spaltung und der wachsenden Welle sozialer Unruhen und Proteste andere Sorgen. Auch die Hisbollah, die militärisch tief in den syrischen Konflikt verstrickt ist, zieht eine Ruhepause an der Südfront vor. Das zeigt ein Zwischenfall vom Januar dieses Jahres: Nach einem israelischen Luftangriff auf der syrischen Seite der Golanhöhen, bei dem ein General der iranischen Revolutionsgarden und sechs Hisbollah-Kämpfer getötet wurden, fiel die Reaktion der schiitischen Miliz relativ zurückhaltend aus: Sie beschoss einen israelischen Militärkonvoi auf dem Scheeba-Gebiet, wobei zwei israelische Soldaten getötet und sieben verletzt wurden. Für die Hisbollah ist das syrische Regime das entscheidende Scharnier für die Beziehungen mit Teheran. Assad zu verteidigen und seinen Sturz zu verhindern, ist für die „Partei Allahs“ momentan wichtiger als der Kampf gegen Israel.
Und auch Tel Aviv hat kein Interesse an einer Eskalation. Die energiepolitische Unabhängigkeit hat hohe Priorität und eine Verschärfung der Spannungen könnte eine rasche Erschließung der Förderstätten gefährden, die alle in der Nähe des umstrittenen Gebiets liegen. Nachdem die Förderung im Tamar-Gasfeld 2013 begonnen hat, will Israel Anfang 2016 mit der Ausbeutung von Leviathan beginnen.
Ein gigantisches Gasfeld vor Ägypten entdeckt
Der Streit zwischen Israel und dem Libanon ist nur einer der vielen geostrategischen Grenzkonflikte in einer Region, der Experten eine zentrale Rolle in der globalen Gasförderung prophezeien. Die Schätzungen besagen, dass im Levantinischen Becken etwa 3500 Milliarden Kubikmeter Erdgas lagern. Das wären knapp 14 Prozent der Gasreserven Katars, also der drittgrößten der Welt (nach Russland und Iran). Diese Einschätzung wurde bestätigt, als der italienische Energiekonzern ENI im August 2015 vor der Küste Ägyptens ein „gigantisches“ Gasfeld entdeckte. Das neue Vorkommen namens Zohr liegt in der Shorouk-Zone, etwa 190 Kilometer nördlich von Port Said und soll fast 850 Milliarden Kubikmeter Erdgas enthalten. Seine Entdeckung könnte die energiepolitische Situation Ägyptens grundsätzlich ändern; aber dadurch können auch die regionalen Rivalitäten zwischen den sieben Anrainerstaaten, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Zypern und Ägypten, bedrohlich angeheizt werden.
Mit Ausnahme des Abkommens zwischen Nikosia und Tel Aviv von 2010 und der jüngsten Annäherung zwischen Ägypten und der Republik Zypern gibt es bislang keine multi- oder bilateralen Verträge, die einen regionalen Rahmen für die Ausbeutung der Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer vorgeben. Das Bürgerkriegsland Syrien ist überhaupt nicht eingebunden. Damaskus hat die Seegrenzen mit seinen Nachbarstaaten nie festgelegt; vor allem nicht mit der Türkei, deren Provinz Hatay, vor der ebenfalls Gasvorkommen vermutet werden, von Syrien beansprucht wird.
Kairo befürchtet einen Übergriff Israels auf die ägyptische Ausschließliche Wirtschaftszone. Es will sich zudem allen Plänen Tel Avivs widersetzen, die ägyptisch-israelische Pipeline zwischen Arish und Ashkelon für Gaslieferungen nach Europa zu nutzen. Aber auch Israel fürchtet seit Entdeckung des Zohr-Gasfelds um seine Exporte – wie die im März vereinbarten Lieferungen an Ägypten – und seinen Status als künftiger Hauptgaslieferant in der Region. Die Entdeckung von Zohr könnte eine lange Periode energiepolitischer Verflechtung beenden, die sich zwischen Israel und Ägypten seit Beginn der Herrschaft Hosni Mubaraks entwickelt hat, aber bereits durch den Sturz des ägyptischen Herrschers erschüttert wurde. Seitdem haben bewaffnete Gruppen, die dem IS nahestehen, mehrfach Sabotageakte gegen die israelisch-ägyptische Pipeline durchgeführt.
Die diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv befinden sich seit der israelischen Aktion gegen türkischen Schiffe mit Lieferungen für Gaza im Mai 2010 auf einem Tiefpunkt. Allerdings laufen die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern relativ normal weiter. Und was die Versorgung mit Öl und Gas betrifft, ist die Türkei neben Ägypten der zweite Partner Israels in der Region.
Um das Risiko einer energiepolitischen Isolation zu minimieren, hat Israel eine strategische Annäherung an die Republik Zypern und Griechenland vollzogen, womit man den Verlust des wichtigen Partners Ägypten kompensieren will. Seit drei Jahren beraten Vertreter der Regierungen dieser drei Staaten zusammen mit der Europäischen Union über den Bau einer Gaspipeline und eines Flüssigerdgas-Terminals, der den Export nach Europa ermöglichen würde.1 Nikosia und Tel Aviv haben zudem gemeinsame Interessen in der zypriotischen AWZ. Die israelischen Unternehmen Delek und Avner Oil halten 30 Prozent der Konzessionen für das südöstlich von Zypern gelegenen Aphrodite-Gasfeld, dessen Volumen auf 140 Milliarden Kubikmeter geschätzt wird.
Die Türkei wiederum will ihre Einflusszone im östlichen Mittelmeer erhalten und blickt mit großer Sorge auf die energiepolitische Emanzipation Zyperns, dessen Nordteil sie seit 1974 besetzt hält. In Reaktion auf die zyprisch-israelische Annäherung entsandte Ankara im November 2014 Forschungsschiffe vor die Küste Nordzyperns wie auch in die Nähe des Aphrodite-Vorkommens südlich der Insel.
Der letzte Streitpunkt in der Region betrifft das Gaza-Marine-Gasfeld, das im Jahr 2000 von British Petroleum ermittelt und auf ein Potenzial von 40 Milliarden Kubikmeter geschätzt wurde. Offiziell hat Israel die souveränen Rechte der Palästinensischen Autonomiebehörde über diese Lagerstätte anerkannt. Doch ihre Ausbeutung wird von Tel Aviv verhindert. Bis heute konnte noch keine einzige Bohrung niedergebracht werden.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Bashir El-Khoury ist Journalist.