Misstrauen und Aufbruch
In Elfenbeinküste herrscht unter Präsident Ouattara ein fragiler Frieden
von Vladimir Cagnolari
Von der großen Terrasse der Residenz des französischen Botschafters in Abidjan blickt man auf einen weitläufigen Park mit großen Bäumen. An diesem 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, flanieren hier Militärs in Ausgehuniform, französische Unternehmer und Angehörige der ivorischen Oberschicht. Ab und zu bleiben sie stehen, um die Aussicht auf die Lagune zu genießen. Die wird neuerdings von der eineinhalb Kilometer langen Henri-Konan-Bédié-Brücke1 überspannt, errichtet vom französischen Baukonzern Bouygues. Ende 2014 wurde sie von Präsident Alassane Ouattara eröffnet, der als Sieger aus der Präsidentschaftswahl von 2010 und dem darauffolgenden bewaffneten Konflikt seiner Anhänger mit den Truppen seines Amtsvorgängers und Rivalen Laurent Gbagbo hervorgegangen war.
Nach den Kämpfen mit über 3000 Toten, Hunderttausenden von Vertriebenen und der Zerstörung der Infrastruktur muss die zweitgrößte Wirtschaftsmacht Westafrikas wieder neu aufgebaut werden. Das hat sich Ouattara vorgenommen, der weiß, dass Brücken und Straßen als Zeichen des Aufschwungs der Elfenbeinküste sofort weithin sichtbar sind. Er will an die Zeit anknüpfen, als das „ivorische Wirtschaftswunder“ in französischen Geografiebüchern als Vorbild dargestellt wurde und Geschäfte aller Art zwischen Paris und Abidjan florierten.
Betrachtet man die herausgeputzte Menge, die sich im Garten des Botschafters drängt, könnte man fast glauben, diese Zeiten seien bereits zurückgekehrt. Gastgeber Georges Serre kann seine Befriedigung nicht verhehlen: „Heute sind 40 000 Menschen bei den französischen Unternehmen in der Elfenbeinküste angestellt, sie erwirtschaften 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und kommen für 50 Prozent der Steuereinnahmen auf.“ Der Botschafter braucht nicht weiter ins Detail zu gehen: Die Bahnverbindung und die beiden Containerterminals am Hafen bewirtschaftet der Bolloré-Konzern, um Wasser und Strom kümmert sich Bouygues, und der größte ivorische Mobilfunkanbieter Orange ist zugleich der wichtigste Sponsor der nationalen Fußballmeisterschaft. Frankreich ist wieder da, so viel ist klar. Aber war es jemals weg?
Am Nationalfeiertag sind die Häppchen mit französischen Fähnchen dekoriert, so kann sich jeder sein Stück Frankreich nehmen, genau wie sich die Franzosen ihr Stück Elfenbeinküste nehmen. Zur Feier des Tages spielt die ivorische republikanische Garde traditionelle Melodien, Champagnergläser werden geleert. Hoch lebe die französisch-ivorische Freundschaft!
Auf dem französischen Rasen in Abidjan begrüßen vermutlich alle, auch die ivorischen Regierungsmitglieder, diese Rückkehr zu den alten Verhältnissen. Schließlich hatte Frankreich unter der Tarnkappe der UNO Ouattaras Truppen den entscheidenden militärischen Beistand geleistet. Französische Soldaten hatten die Mauern der Residenz von Laurent Gbagbo mit schweren Waffen beschossen und anschließend Ouattaras Truppen die Tore geöffnet. Jetzt fließt das Wasser unter der Bédié-Brücke durch, und die Straßen des Landes sind neu asphaltiert.
„Laissez faire, laissez aller“, das alte wirtschaftsliberale Motto, das die Regierung sich zu eigen gemacht hat, lässt sich auch auf den Straßen beobachten. Vor allem im Norden, wo die Checkpoints der Armee zugunsten des „Verkehrsflusses“ deutlich reduziert wurden. Handelswaren und Reisende können sich wieder unbehelligt durchs Land bewegen, nachdem sie ein Jahrzehnt lang die Überfälle und Erpressungen von „Uniformierten“ aller Art befürchten mussten. Auf der im Dezember 2013 fertiggestellten Autobahn von Abidjan in die offizielle Hauptstadt Yamoussoukro setzen moderne Mautzahlstellen diesem Treiben nun ein Ende. Der Weg in den Norden, die politische Hochburg des amtierenden Präsidenten und seiner ehemaligen Rebellen, ist jetzt frei.
Staatsbesuch des Präsidenten im eigenen Land
Hinter Yamoussoukro muss man allerdings noch im Slalom um die unzähligen Schlaglöcher im Asphalt fahren, so dass Lkws und Busse zu plötzlichen, gefährlichen Ausweichmanövern gezwungen sind. Ouattara hat also noch einiges zu tun. Einstweilen nimmt er noch das Flugzeug, wenn er nach Korhogo, in die Hauptstadt des Nordens reisen will.
Im Juli 2013 stattete er Korhogo einen „Staatsbesuch“ im eigenen Land ab, indem er mit der gesamten Regierung dort eine seiner gelegentlichen Kabinettssitzungen außerhalb der Hauptstadt abhielt. Je näher die für Ende Oktober angesetzte Präsidentschaftswahl rückt, desto mehr wirken diese Besuche wie Wahlkampfveranstaltungen. Jedes Mal werden neue Investitionen angekündigt: Brücken und Straßen, aber auch neue Ausstattungen für Schulen und Krankenhäuser sowie Fahrzeuge für die Verwaltung.
Das Spektakel folgt immer demselben Muster und wird stundenlang im Staatsfernsehen übertragen. Aus Mitteln des „präsidialen Notprogramms“ wurden die Präfektur, das Rathaus, die Schulen und das Regionalkrankenhaus in Korhogo saniert und neu gestrichen. Bis dahin besaß die 300 000-Einwohner-Stadt nur zwei asphaltierte Hauptstraßen, jetzt gibt das Geratter der Teermaschinen den Takt vor. Aber: „Kann man Teer essen?“ Diese Frage stellen die Ivorer häufig, selbst im Norden, der 2010 überwiegend für Ouattara gestimmt hat.
Ein paar junge Männer sitzen nach Sonnenuntergang an einer schwach beleuchteten Straßenecke bei einem Glas Tee und diskutieren, wie man die Welt verbessern könnte, oder zumindest ihr Land. Alle sind sich einig: „Das Land kommt voran, aber wir haben nichts zu essen.“ Keiner von ihnen hat einen festen Job. Die Glücklichsten haben einen kleinen Laden, während andere von der Hand in den Mund leben und Gelegenheitsarbeiten erledigen, die sie sich selbst ausdenken müssen. „Jede Nacht“, erzählt Sinali, „frage ich mich, was ich morgen tun kann, um ein bisschen Geld nach Hause zu bringen. Als der Bürgerkrieg 2002 begann, war ich 25. Jetzt bin ich fast 40 und habe noch nicht mal ein eigenes Haus, in dem meine Familie wohnen kann. Für die Jugendhilfeprogramme bin ich längst zu alt.“
Alle machen sich Sorgen, weil die Preise steigen, für einen Sack Reis ebenso wie für Miete und Strom, der bei Sinali schon seit vier Monaten abgestellt ist. Um die Gruppe herum ist finstere Nacht, im Viertel brennen nur vereinzelte Lichter. Sinali war einst zur Rebellentruppe „Forces Nouvelles“ („Neue Kräfte“) gegangen, die den Norden kontrollierte. Als der letzte Konflikt 2011 beendet war, gab er seine Waffe ab und erhielt die Prämie von 800 000 CFA-Franc (1220 Euro), die der Staat an ehemalige Kämpfer zahlte. Mit der einen Hälfte beglich er seine Schulden, mit der anderen baute er eine Hühnerzucht auf, die jedoch bald wieder am Ende war. „Andere, die nicht so gefestigt sind, könnten wieder zu den Waffen greifen, wenn ihnen jemand dafür etwas zu essen gibt“, versichert er.
Trotz aller Enttäuschungen wollen Sinali und seine Freunde beim ersten Wahlgang am 25. Oktober ohne Wenn und Aber für Präsident Ouattara stimmen, auch als Zeichen des regionalen Zusammenhalts. Denn der wirtschaftlich hinterherhinkende Norden fühlte sich lange Jahre von den Verfechtern der „Ivorität“ zurückgesetzt, die behaupteten, sie könnten zwischen „echten“ und „Gelegenheits-Ivorern“ unterscheiden. So musste sich Alassane Ouattara vorwerfen lassen, er stamme in Wahrheit aus Burkina Faso, und zweimal durfte er sich aufgrund seiner „zweifelhaften Nationalität“ nicht zur Wahl stellen. Seine Kritiker hielten ihm vor, er stamme nicht – wie in der Verfassung vorgeschrieben – „von einer ivorischen Mutter und einem ivorischen Vater ab, die ihrerseits ivorischer Herkunft sind“.2
Ouattara wurde damit zur Symbolfigur aller Opfer der Ivoritätsideologie und zum Idol der Einwohner des Nordens. Die Rebellen, die 2002 versucht hatten, Laurent Gbagbo zu stürzen, hatten eine ähnliche Enttäuschung erlebt. Nachdem ihr Putschversuch gescheitert war, nannten sie sich „Forces Nouvelles“ und beherrschten fünf Jahre lang den Norden des Landes, das damals faktisch in zwei Teile gespalten war. Als Hauptstadt diente ihnen Bouaké, im zweitgrößten Ballungsgebiet des Landes.
Dort feiern in dieser Julinacht alle das Ende des Ramadan. Junge Leute strömen auf die Straßen, festlich gekleidete Kinder rennen ungestüm hintereinander her, lachen, spielen Verstecken, halten den Verkehr auf und laufen dann wieder zurück in die andere Richtung. Für eine Nacht sind sie der Herrschaft der Erwachsenen entkommen und veranstalten ein fröhliches Durcheinander, das kein Polizist zu regulieren versucht. Seit 2007 ist das Land wiedervereinigt, die Verwaltung funktioniert wieder, doch Bouaké ist immer noch rebellisch.
Die Zeit der zwei Zonen
Die zahllosen chinesischen Motorräder zeugen noch von den Jahren, als die Stadt nicht mehr unter der Kontrolle Abidjans stand und eher an die burkinische Hauptstadt Ouagadougou erinnerte, wo diese Zweiräder seit Langem zum Alltagsbild gehören. Ouagadougou war der Stützpunkt der Rebellen, die 2002 den Norden eroberten, und durch Burkina Faso kamen auch alle Handelsgüter, die das Leben in der abgespaltenen Zone aufrechterhielten.
Die Zonenkommandanten (genannt „com’zone“), die damals die Militärregierung bildeten, hatten mehr als die Hälfte des Staatsgebiets unter sich aufgeteilt und wurden dabei von zivilen „Verwaltungsbeauftragten“ unterstützt, die den politischen Flügel der „Neuen Kräfte“ bildeten. Deren Führungsfigur war Guillaume Soro, der 2012 zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt wurde.3 Gemeinsam kontrollierten sie den Norden und pressten der Bevölkerung Steuern für eine „Zentralkasse“ ab, mit der sie ihre Truppen und die Verwaltung finanzierten.
Der anarchische Motorradverkehr in Bouaké ist ein Überbleibsel aus jener Zeit. Viele junge Leute entschlossen sich damals, auf eigene Faust Motorradchauffeur zu werden, ohne Taxischein, Helm oder Versicherung. Nicht wenige landeten schließlich im Universitätskrankenhaus, dessen Ausstattung trotz seiner Sanierung nach dem Amtsantritt Ouattaras immer noch ungenügend ist. Hinter der frisch gestrichenen Fassade fehlt es am Nötigsten, obwohl es das einzige größere Krankenhaus für die gesamte Zone Zentrum-Nord-West und damit für mehr als die Hälfte des Landes zuständig ist. Abgesehen von der im Prinzip kostenlosen Versorgung für Schwangere, junge Mütter und Kinder kann sich die große Mehrheit der Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeitet, ärztliche Behandlungen und Medikamente kaum leisten.
Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, hat die Regierung im Januar 2015 eine allgemeine Krankenversicherung ins Leben gerufen. Bis dahin hatten etwa 85 Prozent der Ivorer keinerlei Versicherungsschutz. Nun bekommen alle, die einen monatlichen Beitrag von 1000 CFA-Francs (1,50 Euro) einzahlen, drei Viertel der Kosten für Routineuntersuchungen, Operationen, Krankenhausaufenthalte und Medikamente erstattet. Mit ihren lediglich 176 000 Mitgliedern steht die Krankenversicherung aber noch ganz am Anfang.
Von Bouaké Richtung Süden geht die Savanne allmählich in Urwald über. Der Horizont wird von einer saftig grünen Mauer abgeschnitten, überragt allein von der Kuppel der berühmten Basilika von Yamoussoukro. Seit 25 Jahren ist sie das Wahrzeichen der Hauptstadt, die Félix Houphouët-Boigny, der erste Präsident der unabhängigen Elfenbeinküste, in seinem Heimatdorf errichtete. Auf den breiten Boulevards fahren nur wenige Autos, und die ganze Stadt wirkt, als seien ihre Kleider eine Nummer zu groß. Der Umzug der Regierungsbehörden, den Houphouët-Boignys Nachfolger stets versprochen hatte, existiert weiterhin nur auf dem Papier.
Vor der Stadt beginnen die Kakaoplantagen, die dem Land Wohlstand gebracht haben, bevor die Kurse Ende der 1970er Jahre abzustürzen begannen. Die Branche wurde später auf Geheiß der internationalen Finanzinstitutionen privatisiert und fiel im letzten Jahrzehnt endgültig dem Chaos der politisch-militärischen Krisen zum Opfer. Die riesigen Plantagen von Tombokro entlang der Straße nach Westen liegen heute verlassen da und verwalden.
Nach seiner Amtsübernahme 2011 ging Ouattara auf die großen Produzenten zu, garantierte den Bauern wieder feste Preise und sorgte damit für einen Aufschwung der Branche, die mehrere Millionen Ivorer ernährt. 2014 erreichte die Kakaoernte das Rekordniveau von 1,7 Millionen Tonnen, immerhin 35 Prozent der weltweiten Produktion. Der Kakaosektor erwirtschaftet allein 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allerdings gibt es seit fast 20 Jahren immer wieder Streitigkeiten um Grund und Boden sowie erbitterte Konflikte darüber, wie die Ernte im besonders fruchtbaren Westen des Landes aufgeteilt werden soll.
Darunter hatte Duékoué besonders zu leiden. In der Stadt und ihrer näheren Umgebung wurden nach der letzten Wahl hunderte Menschen ermordet. Fünf Jahre später wirkt hier alles ganz normal und ruhig, fast so, als hätte das Massaker nie stattgefunden. Aber die Pausen in manchen Gesprächen deuten auf die abscheulichen Verbrechen hin, die hier begangen wurden. Und die Toten in den anonymen Massengräbern sind immer noch nicht identifiziert.
Duékoué liegt im Herzen der Region Guémon, deren Bergwälder seit Jahrzehnten von Einwanderern (zumeist aus Burkina Faso) und Binnenmigranten aus anderen Regionen der Elfenbeinküste gerodet werden. „Das Land gehört dem, der es erschließt“, hatte Houphouët-Boigny einst verkündet. Nach seinem Tod 1993 setzte sich jedoch die Idee der „Ivorität“ durch. Angesichts der Wirtschaftskrise forderten die „Einheimischen“4 ihr Land zurück, das sie den eingewanderten Bauern für den Kakaoanbau überlassen hatten. Viele geschlossene Verträge wurden angefochten, und im Südwesten, wo die Ivorer in der Minderheit waren, wurden Kakaopflanzer, die nicht aus der Region stammten, von dem Land vertrieben, das sie selbst erst urbar gemacht hatten. So begann eine Gewaltspirale, die den Westen der Elfenbeinküste in einen ethnischen Konfliktherd verwandelte.
Nach der letzten Präsidentschaftswahl wurde Duékoué zum Epizentrum der Auseinandersetzungen. Im März 2011 nahmen die Truppen Ouattaras auf ihrem Weg nach Abidjan die Stadt ein und zogen ins Carrefour-Viertel, die Hochburg der Gbagbo-Anhänger, die hauptsächlich der lokalen Weh-Ethnie entstammten. Unter Mithilfe der traditionellen Jäger vom Volk der Dozo, die faktisch zu einer Miliz geworden waren, verübten die Ouattara-Truppen ein Massaker. „Sie sagten: ‚Alle jungen Männer im Carrefour-Viertel sind Milizionäre‘ “, berichtet ein junger Mann. Wer fliehen konnte, rettete sich in die katholische Missionsstation, auf deren Gelände sich bald 30 000 Menschen drängten; fast 250 000 flohen ins benachbarte Liberia.
Laut UN gab es in Duékoué mindestens 500 Tote, nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz waren es mehr als 800, die meisten im Carrefour-Viertel. „Dort kam es zu entsetzlichen Szenen, das kann man nicht beschreiben“, sagt Denis Zehia, der Vorsitzende des Viertels. Für die Weh war der Albtraum damit noch nicht vorbei: In den folgenden Tagen wurden sie auch in den Wäldern verfolgt, und noch im Juli 2012 gab es einen Angriff auf das nahe der Stadt gelegene Flüchtlingslager.
Das Massaker von Duékoué und seine Folgen sind ein blutiger Schandfleck auf Präsident Ouattaras Erfolgsbilanz. Dass diese Verbrechen nie aufgeklärt wurden, nährt den Verdacht der Siegerjustiz, zumal Laurent Gbagbo und sein Helfer Charles Blé Goudé, der Chef der Jugendorganisation „Junge Patrioten“, heute vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stehen.5 Vielen anderen wurde bisher noch kein Prozess gemacht. Die als parteilich kritisierte ivorische Justiz erhob schließlich im Juni dieses Jahres Anklage gegen einige Männer, die Ouattara zum Sieg verholfen hatten, darunter die beiden berühmten Zonenkommandanten Chérif Ousmane und Losséni Fofana. Beide bekleiden hohe Posten im Sicherheitsapparat des aktuellen Regimes und werden in nächster Zukunft wohl kaum Schwierigkeiten bekommen.
Gerechtigkeit oder Versöhnung
„Ist Versöhnung ohne ein Mindestmaß an Gerechtigkeit überhaupt möglich?“, fragt sich Pater Cyprien Ahouré, der Leiter der katholischen Mission in Duékoué. Er hat bei allen gewaltsamen Auseinandersetzungen die Flüchtlinge (mal Burkiner, mal Baoulé, mal Weh) aufgenommen. Er leitete auch die 2011 gegründete Wahrheits- und Versöhnungskommission (CDVR) in Duékoué. „Die CDVR hat unsere Erwartungen nicht erfüllt. Wir haben die angestrebten Ziele nicht erreicht, vor allem gab es keine Entschädigungen“, berichtet Ahouré. „Für die Entwaffnung der ehemaligen Kämpfer wurde viel Geld ausgegeben, aber man kann doch nicht nur denen Geld geben, die ihre Waffen benutzt haben, und die Leute, die alles verloren haben, leer ausgehen lassen.“Auch ein Prozess der nationalen Versöhnung hat nicht stattgefunden. Die Kommission hat ihre Ergebnisse nie veröffentlicht, und die lang erwarteten Filmaufnahmen von den öffentlichen Verhandlungen wurden nie gesendet. Die Nachfolgeorganisation der CDVR, die im März einberufene Nationale Kommission für Versöhnung und Entschädigung der Opfer (Conariv), hat gerade erst mit einer ersten Phase zur Entschädigung von 4500 Betroffenen begonnen.
Derweil nimmt die Versöhnung von unten Gestalt an, ohne Beteiligung der Politiker. In Duékoué wie auch in anderen Landesteilen mussten die ethnischen Gruppen notgedrungen lernen, wieder zusammenzuleben. „Inzwischen gibt es wieder Kontakte und Verbindungen, denn wir können nur noch gewinnen, wir haben ja schon alles verloren. Der Präsident ist der Präsident. Wenn es morgen ein anderer ist, kommen wir auch damit klar“, versichert der Vorsitzende des Carrefour-Viertels. Die jungen Leute aus den verschiedenen Vierteln, die gestern noch gegeneinander gekämpft haben, sprechen wieder miteinander, aber es genügt ein Funke, um die Lunte erneut in Brand zu setzen.
Mit seinen 5 Millionen Einwohnern ist Abidjan das Zentrum des Wahlkampfs. Ein Drittel aller Wahlberechtigten lebt hier. In der Wirtschaftshauptstadt haben die Hochhaustürme des Geschäftsviertels Plateau ihren Glanz wiedererlangt. Früher waren sie die Symbole des ivorischen Wirtschaftswunders, heute stehen sie für den von Ouattara versprochenen Neuanfang in der Elfenbeinküste, deren Wirtschaft seit 2012 jährlich um mehr als 8 Prozent wächst. Die Ufer der Lagune werden neu gestaltet, es entsteht ein neues Autobahnkreuz, und spätestens bis zum Jahresende sollen die Bauarbeiten für eine S-Bahn beginnen. Die Bewohner der Slums, die sich im Zentrum der Stadt gebildet hatten, wurden vertrieben, und der Platz La Sorbonne, den Gbagbos Junge Patrioten als Hauptquartier genutzt hatten, ist heute Brachland und dient als Parkplatz.
Die Demobilisierung der ehemaligen Kämpfer ist inzwischen fast abgeschlossen. Nach offiziellen Angaben haben bislang 91 Prozent der 64 000 Kämpfer beider Seiten ihre Waffen abgegeben. Aber ob die Wiedereingliederung wirklich gelingt, wird sich erst im im Lauf der Zeit herausstellen. Die Zonenkommandanten, die einst über den Norden herrschten, wurden fast alle in andere Landesteile versetzt, haben aber hohe Positionen im staatlichen Sicherheitsapparat. Sie haben Ouattara zum Sieg verholfen – und bleiben daher unantastbar. Ein Expertenbericht im Auftrag des UN-Sicherheitsrats prangert den illegalen Goldabbau im Bergwerk Gamina an, das der ehemalige Zonenkommandant „Wattao“ und heutige stellvertretende Kommandant der Republikanischen Garde kontrolliert.
Erst Kommandant, dann Chef der Goldmine
Außerdem verweist der Bericht auf ein Waffenlager, das Zonenkommandant Kouakou Foffie in Korhogo behalten hat.6 Die Frage, welche Rolle die ehemaligen Zonenkommandanten in den künftigen Machtkämpfen spielen werden, ist also völlig offen.
Sie werden ihren Einfluss allerdings frühestens bei den Wahlen 2020 geltend machen können. Denn am 25. Oktober 2015 trifft Ouattara mit seinem starken Parteienbündnis7 auf eine zersplitterte Opposition. Seit der Internationale Strafgerichtshof im Juni 2014 die Anklage gegen Gbagbo bestätigt hat, zeigen sich tiefe Risse in dessen Partei, der Ivorischen Volksfront (Front Populaire Ivorien, FPI). Die „Widerspenstigen“ wollen erst an Wahlen teilnehmen, wenn der frühere Präsident wieder auf freiem Fuß ist. Sie hatten zuvor vergeblich versucht, den Parteivorsitzenden und ehemaligen Premierminister Pascal Affi N’Guessan zu stürzen. Sie werfen ihm vor, das Spiel der aktuellen Machthaber mitzuspielen und dem bevorstehenden Urnengang zu einem pluralistischen Anstrich zu verhelfen.
Bisher hatten es die Ivorer nicht eilig, sich in ins Wahlregister eintragen zu lassen. Auf den provisorischen Listen sind erst 367 000 Neuwähler registriert, so dass von den 9 Millionen potenziellen Wählern bis jetzt nur 6,1 Millionen tatsächlich wählen dürften. Vielleicht meinen viele, die Wahl sei ohnehin bereits entschieden. Vielleicht haben sie aber auch genug von den Konflikten, die das Land an den Abgrund geführt haben. Oder sie fürchten, die bewaffneten Auseinandersetzungen könnten durch die Wahl erneut aufflammen. Der Präsident hat einen friedliche Urnengang versprochen. Manche kriegsmüden Ivorer werden sich mit diesem Programm zufriedengeben.
Alassane Ouattara ist Volkswirt, hatte eine leitende Position beim Internationalen Währungsfonds und setzt dessen Prinzipien gern in die Tat um. Nach seiner Machtübernahme im April 2011 setzte er auf den Wiederaufbau der Infrastruktur, neue Investitionen und Wirtschaftswachstum. „Das Geld zirkuliert nicht, aber es arbeitet“, antwortete er beständig all jenen, die endlich die Ergebnisse des Wirtschaftsaufschwungs auch auf ihrem Teller sehen wollten.
Im Augenblick wartet die Bevölkerung noch ab, vor allem die Jungen (77,5 Prozent der Ivorer sind jünger als 35 Jahre). Es braucht jedoch mehr als eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, um die Ursachen der Konflikte zu beseitigen, die unter der Oberfläche weiter schwelen. Man versöhnt sich mangels Alternativen, und die Täter gehen in aller Regel straflos aus. In der Elfenbeinküste erklärt sich jeder zum Opfer, aber wer bekennt sich schuldig? Jedenfalls nicht die Politiker. Das haben die Menschen begriffen.
6 Siehe UN-Bericht Nr. S/2015/252, April 2015.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Vladimir Cagnolari ist Journalist.