Chinas großer Umbau
Wie die Regierung eine ökonomische Bruchlandung verhindern will
von Michel Aglietta
Auf der Sitzung des Zentralkomitees im November 2013 verkündete die Kommunistische Partei Chinas (KPC) die Prioritäten seiner Reformpolitik für die nächsten zwanzig Jahre. Damit begann für die langfristige Wirtschaftsreform eine neue Phase mit einschneidenden ökonomischen und sozialen Veränderungen, die sich in jeweils fünfjährigen, strategisch geplanten Schritten vollziehen sollen. Der 13. Fünfjahresplan für die Jahre 2016 bis 2020 soll diesen Monat verkündet werden.
Für westliche Beobachter ist es fast unmöglich, nach nur 18 Monaten eine Bilanz dieser Reform zu ziehen, schon deshalb, weil sie nicht im selben theoretischen und ideologischen Bezugssystem denken wie die Chinesen. Für die meisten „Westler“ ist die Marktwirtschaft wie selbstverständlich die Basis, über der sich eine demokratische Gesellschaft erhebt. Deshalb geht es für sie bei „Strukturreformen“ vor allem darum, die Hindernisse für das Funktionieren der Märkte aus dem Wege zu räumen.
Ganz anders in China: Hier ist die Wirtschaftsreform ein Mittel zur Verwirklichung politischer Ziele, nämlich die Legitimität der KP-Herrschaft sowie die Einheit der Nation zu sichern, was eine Zähmung der zentrifugalen Kräfte erfordert. Will man dieses oberste Ziel realisieren, muss es dem Volk ständig besser gehen.
Zusätzlich beschwört Präsident Xi Jinping seit Kurzem eine geopolitische Vision, wie sie zuletzt 1979 von Deng Xiaoping propagiert wurde. Demnach soll China wieder seine historische Rolle in der Welt anstreben – als „Reich der Mitte“. Dazu sei es erforderlich, die wirtschaftliche Integration Asiens über den Yuan voranzutreiben, also die chinesische Währung vom Dollar abzukoppeln und zu einem vollgültigen internationalen Zahlungsmittel zu machen. Das mag zwar eine konsistente langfristige Vision darstellen, doch angesichts der Vielfalt der Ziele bleibt weitgehend unklar, in welcher Reihenfolge man sie realisieren will.
Tatsächlich ist die ganze Reform ein widersprüchlicher Prozess. Zum Beispiel hat der gesellschaftliche Wandel der letzten zwanzig Jahre 400 Millionen Menschen aus der Armut herausgeführt, aber zugleich hat das rasche Wirtschaftswachstum, die Mutter dieses außerordentlichen Erfolgs, die soziale Ungleichheit verstärkt und die Umwelt auf inzwischen unerträgliche Weise belastet.
Zwischen 1993 und 2012 war die Industrie der Wachstumsmotor schlechthin. China wurde zur „Werkbank“ für die ganze Welt, indem es seinen Haupttrumpf konsequent ausspielte: die gering qualifizierten, jungen Leute zogen als billige Arbeitskräfte in die Städte, wo sie von der sozialen Grundversorgung ausgeschlossen blieben. Um das rasche Wachstumstempo zu halten, wurde zudem kräftig in die Infrastruktur investiert. Das führte zu einer übermäßigen Akkumulation des Kapitals vor allem in der Grundstoff- und Schwerindustrie, die durch ein Konjunkturprogramm 2009/2010 – in Reaktion auf die globale Finanzkrise – noch verstärkt wurde.1 Diese staatliche Wachstumsstrategie hat gewaltige soziale Ungleichheiten geschaffen und eine Elite reich gemacht, deren Interessen heute mit der fälligen Neuausrichtung der chinesischen Entwicklungsstrategie kollidieren.
Allerdings stehen die Chancen für den Erfolg des alten Wachstumsregimes ohnehin nicht mehr so gut. Der Alterungsprozess lässt das Potenzial an verfügbaren Arbeitskräften schrumpfen.2 Damit werden auf dem Arbeitsmarkt Forderungen durchsetzbar, die auf Dauer für ein hohes Lohnniveau sorgen. Das treibt die Produktionskosten der chinesischen Industrie in die Höhe, was wiederum die Auslandsnachfrage schwächt.
Der alte Entwicklungspfad ist für die chinesische Führung also versperrt. Zugleich eröffnet das Anwachsen einer breiten Mittelklasse die Chance des Übergang zu einem neuartigen Wachstumsmodell. Die große Herausforderung besteht heute darin, das Land von der „Werkbank“ für die übrige Welt in eine „breite Wohlstandsgesellschaft“ zu verwandeln, die ihre Produktionsmittel effizienter einsetzt und dabei ihren Reichtum weniger ungleich verteilt. Als Hauptträger dieser Transformation bietet sich der dynamische privatwirtschaftliche Sektor an, sprich die Millionen innovativer Unternehmen, die bereit und fähig sind, die neuesten Technologien an die Nachfrage der wachsenden städtischen Verbraucherschichten anzupassen.
Die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuausrichtung wurde insbesondere in den letzten Jahren deutlich: Von 2012 bis 2015 ging das Wirtschaftswachstum von 12 auf (prognostizierte) 6 Prozent zurück. Die gewaltigen Überinvestitionen der Vergangenheit haben der Grundstoff- und Schwerindustrie massenhaft überschüssige Produktionskapazitäten beschert. Der Auslastungsgrad sank im Zeitraum von 2012 bis 2015 in der Stahlindustrie auf 71 Prozent, bei Aluminium und Zement auf 70 und in der Glasproduktion auf 72 Prozent. Auch in der Autobranche fiel die Auslastung auf 76 Prozent (die Rentabilitätsschwelle sehen Experten bei 78 bis 80 Prozent). Dieser drastische Einbruch hat einen gefährlichen Punkt erreicht: Viele der überdimensionierten, durch frühere Investitionen überschuldeten Staatsunternehmen sind in eine gefährliche finanzielle Schieflage geraten, was auch die Banken belastet, die ihnen das Geld geliehen haben.
Heute wird offiziell eingeräumt, dass mit der Rückführung der Überkapazitäten die Investitionsraten von ehemals 50 auf 35 Prozent des BIPs sinken werden. Sollte die Investitionstätigkeit angesichts der drohenden Finanzrestriktionen abrupt zurückgehen, könnte der wirtschaftliche Einbruch die jährliche Wachstumsrate auf unter 5 Prozent drücken. Das wäre dann die befürchtete „harte Landung“ mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft und auch die Legitimität des Staatsmacht. Weil die sozialen Sicherungssysteme noch kaum entwickelt sind, erträgt die chinesische städtische Gesellschaft keine Arbeitslosigkeit. Die Erwerbsbevölkerung wird zwar schrumpfen, aber zugleich werden bis 2020 weitere 100 Millionen Menschen vom Land in die Stadt ziehen. Das heißt: Jenseits der Landwirtschaft müssten pro Jahr mindestens 10 Millionen moderne Arbeitsplätze entstehen – 2014 waren es trotz des schon verlangsamten Wirtschaftswachstums noch 13,2 Millionen. Deshalb verfolgt die Regierung weiterhin das Ziel, die Wachstumsrate bei etwa 7 Prozent zu halten.
Es geht also darum, die geplante Umstrukturierung als „weiche Landung“ zu gestalten. Das scheint bislang zu gelingen. Der Anteil der Konsumausgaben am Wachstum des BIPs beginnt den der Investitionen zu überflügeln.3 In den Jahren 2012 und 2013 lag der Anteil des privaten und öffentlichen Konsums bei 51 Prozent der gesamten Wachstumsrate (von 7,8 und 7,7 Prozent), 2014 stieg er auf 77 Prozent (bei 7,3 Prozent Gesamtwachstum). Damit trägt der Konsum in wachsendem Maße zum BIP bei, während der Anteil der Investitionen sinkt. Gestiegen ist auch die Bedeutung des Dienstleistungssektors, der 2013 erstmals den industriellen Sektor überflügelt hat (46,1 Prozent gegenüber 43,9 Prozent).
Der gesamte Umstrukturierungsprozess kann freilich nur gelingen, wenn ihn nicht ein Infarkt des Finanzsektors blockiert. Die entscheidende Frage lautet daher, ob die gegenwärtige chinesische Schuldenlast tragfähig ist? Die Gesamtschulden der Wirtschaftsakteure (ohne Finanzsektor) beliefen sich Ende 2013 auf 220 Prozent des BIPs, davon 68 Prozent Unternehmensschulden. Die Vergleichsdaten liegen für die USA bei 317 Prozent, für Frankreich bei 331, für Japan bei 431 und für Indien bei 120 Prozent.
Der Yuan soll bis 2020 frei konvertierbar sein
Verschärft werden die Finanzprobleme der nicht ausgelasteten Unternehmen durch die niedrige Inflationsrate. Dadurch müssen die Unternehmen ihre Produkte oft zu sinkenden Preisen verkaufen, zugleich aber ihre aufgenommenen Kredite zu steigenden Realzinsen bedienen.
Die Finanzklemme der Unternehmen zwingt die Regierung zu Umstrukturierungsmaßnahmen, die den Abbau von Überkapazitäten fördern, ohne die Zerstörung des gesamten industriellen Geflechts zu riskieren. Mittels Fusionen, Entflechtungen und Kooperationen sollen die Unternehmen dazu gebracht werden, überschüssige Kapazitäten abzubauen. Zudem wird privates Kapital in die Unternehmen mit gemischten Eigentumsformen gelenkt und staatlicher Aktienbesitz in private Finanzholdings überführt, womit man die Effizienz des Managements zu steigern hofft. Die Geschäftsbanken sind angewiesen, abgelaufene Darlehensverträge mit Unternehmen nur dann zu erneuern, wenn die ihre Überkapazitäten um einen bestimmten Prozentsatz reduzieren.
Ein weiteres Problem: Die öffentlichen Schulden der Gebietskörperschaften sind seit Beginn des wirtschaftlichen Wiederbelebungsplans von 2009 stark angestiegen und beliefen sich im zweiten Halbjahr 2013 auf 33 Prozent des BIPs.4 Dies ist eine mittelbare Folge einer überaus ungleichen Verteilung der Steuereinnahmen zwischen den einzelnen Regionen und Provinzen. Deshalb haben sich die Provinzregierungen in neue Schulden gestürzt, die sie häufig bei fragwürdigen Gesellschaften aufnehmen, die wie Schattenbanken fungieren und deren ausgegebene Kredite von den offiziellen Geschäftsbanken refinanziert werden.5 Im Vorgriff auf die versprochene Steuerreform, die den Gebietskörperschaften mehr Geld einbringen soll, gibt die Regierung derzeit rund eine Trillion Yuan (140 Milliarden Euro) an staatlich garantierte Schuldverschreibungen aus, wodurch auch die Schattenbanken zurückgedrängt werden sollen.
Unter den vielen institutionellen Neuerungen, die den Strategiewechsel vorantreiben sollen, hat die chinesische Führung die Finanzreform zu ihrer dringlichsten Aufgabe erklärt. Dieses Ziel will sie erreichen, indem sie die Staatsunternehmen dem Wettbewerb aussetzt, was wiederum die Finanzinstitute zwingt, deren ökonomischen Risiken realistisch abzuschätzen. Zudem möchte sie den chinesischen Yuan zu einer internationalen Reservewährung machen, die bis 2020 voll konvertibel werden soll. Als ersten Schritt strebt die Regierung dazu noch 2015 die Aufnahme des Yuan in den Korb der Sonderziehungsrechte an.6 Deshalb muss sie ihre Währung vom Dollar abkoppeln, um die monetäre Unabhängigkeit Chinas unter Beweis zu stellen.
Demselben Ziel diente die Abwertung des Yuan gegenüber dem Dollar am 11. August 2015. Im Gegensatz zur Einschätzung, die damals in der schockierten Finanzwelt kursierte, wollte Peking damit keineswegs eine Abwertungskonkurrenz anheizen. Die 3 Prozent waren rein symbolisch gemeint und hatten kaum Auswirkungen auf den chinesischen Außenhandel – im Gegensatz zur Abwertung des Euro um 20 Prozent seit Sommer 2014. Vielmehr wollte der chinesische Staatsrat damit seinen Willen demonstrieren, den Yuan vom Dollar abzukoppeln und den Weg der finanzpolitischen Liberalisierung fortzusetzen.
In dieselbe Richtung zielen auch Maßnahmen wie die Freigabe der Bankenzinsen und die Schaffung von Finanzmarktinstrumenten (Aktien, festverzinsliche Wertpapiere, spekulative Finanzprodukte). Ziel ist die Konstruktion einer vollständigen, nach Zinshöhe, Laufzeiten und Risikotyp gegliederten Finanzarchitektur, die sich gleichsam autonom und ohne direkte Eingriffe der staatlichen Verwaltung reguliert. Die staatlichen Organe sollen also nicht mehr die Zinssätze festlegen und den Banken nicht mehr vorgeben, wem sie welche Kreditsummen zu gewähren haben.
In diesen politischen Rahmen gehören auch Maßnahmen wie die 2014 erfolgte Öffnung der Aktienmärkte durch eine steuerlich begünstigte Kooperation der Börsen von Hongkong und Schanghai oder die Liberalisierung der Devisenmärkte. Dass dies zu finanziellen Turbulenzen führt, kann nicht überraschen. Ähnlich jähe Veränderungen im Finanzsystem haben noch bei jedem Typ von Volkswirtschaft zu mehr oder minder schweren Krisen geführt. Das gilt für Großbritannien in den 1970er Jahren, für die USA in den 1980er Jahren, für Skandinavien, Frankreich und Japan zu Beginn der 1990er Jahre und selbst für Deutschland im Jahr 2002.
Solche Turbulenzen sind überwindbar, wenn die Regierungen wirksame Aufsichtsregeln schaffen und die Zentralbanken ihre geldpolitischen Instrumente neu justieren. Genau das versucht die chinesische Staatsführung in der aktuellen Phase. Wenn die Preise der Finanzanlagen bis Ende 2015 auf eine plausible Schwankungsbreite zu begrenzen sind, kann die Regierung schon 2016 das Kernstück ihres Übergangsplans in Angriff nehmen: den Umbau der Staatsunternehmen, eine Steuerreform, erweiterte Rechte auf Bodennutzung für die Landbevölkerung sowie die Vereinheitlichung der sozialen Sicherungssysteme und ihre Ausweitung auf bislang völlig rechtlose Gruppen.
5 Siehe Shi Ming, „Im Land der Schattenbanken“, Le Monde diplomatique, April 2012.
Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke
Michel Aglietta ist Professor für Ökonomie an der Universität Paris Ouest Nanterre.