Südafrikas kurzes Gedächtnis
Die Rolle der Nachbarstaaten im Kampf gegen die Apartheid gerät in Vergessenheit
von Jeremy Harding
Ein toter Mann liegt neben dem Rad eines Lastwagens. Drei Personen stehen dabei und schauen, das Gesicht von der Kamera abgewandt, auf den Leichnam hinab.
Das Foto wurde 1983 in Mosambik aufgenommen. Szenen wie diese waren damals nichts Ungewöhnliches. Der Fotograf ist unbekannt: Das Negativ fand sich im Archiv der Nachrichtenagentur von Mosambik. Die Aufnahme war in der Ausstellung „On the Frontline“ im Mandela Centre of Memory in Johannesburg zu sehen, die Fotos aus dem südlichen Afrika zeigte, die in den letzten Apartheidjahren von Mitte der 1970er bis in die frühen 1990er Jahre entstanden sind.
In der Ausstellung war dokumentiert, was den gerade unabhängig gewordenen Staaten blühte, wenn sie sich auf die Seite der Apartheidgegner – namentlich des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) – schlugen. Und wie hart die Reaktion des damaligen Südafrika ausfiel. Der Preis war, den die betreffenden Länder für ihre Solidarität zahlen mussten, war hoch. Das Fotomaterial kam aus Mosambik, Lesotho, Sambia, Angola und anderen Ländern, die dem ANC und der südwestafrikanischen Befreiungsorganisation Swapo Unterstützung und Zuflucht gewährt hatten.Aus dem späteren Namibia waren auch eindrückliche Bilder aus der Zeit der südafrikanischen Besetzung zu sehen. Und eine kleine Fotosammlung erzählte die Geschichte des Friedens und Wiederaufbaus nach einem fünfzehn Jahre andauernden Regionalkrieg.
Mosambik und Angola erlangten 1975, nach einem Befreiungskampf, der in den 1960er Jahren begonnen hatte, ihre Unabhängigkeit von Portugal. Zu dem Zeitpunkt, an dem das Foto von dem Toten am Lastwagen gemacht wurde, waren die Verheißungen der Unabhängigkeit jedoch bereits verblasst, und das Land lag in Trümmern.
Mosambiks Probleme mit seinen Nachbarn begannen, kurze Zeit nachdem die Portugiesen abgezogen waren und die neue Frelimo-Regierung der Guerillabewegung Robert Mugabes an der Grenze zu Rhodesien (dem heutigen Simbabwe) Rückzugsräume zur Verfügung stellte. Die rhodesischen Sicherheitskräfte revanchierten sich mit der Unterstützung des Aufstands der Renamo gegen die mosambikanische Regierung.
Als die Herrschaft der weißen Minderheit in Simbabwe 1980 am Ende war, nahm Südafrika die Rebellen gegen die Frelimo-Regierung unter ihre Fittiche. Die vom Apartheidregime ausgebildeten und ausgerüsteten Guerillas belagerten abgelegene Dörfer, zerstörten Eisenbahngleise, sprengten Stromtrassen und schossen auf alles, was sich auf den Straßen bewegte. Sie terrorisierten die Zivilbevölkerung und zwangen sie zur Kollaboration. Viele der zwangsrekrutierten Männer waren unter 18 Jahre alt, also streng genommen Kindersoldaten.
1984 war die Lage der Freilimo-Regierung so verzweifelt geworden, dass sie sich bereit erklärte, als Gegenleistung für einen Verzicht Südafrikas auf Unterstützung der Renamo, den ANC aus Mosambik auszuweisen. Das Nkomato-Abkommen hielt jedoch nicht lange, weil vor allem Südafrika seinen Teil der Vereinbarung nicht einhielt. Der Krieg in Mosambik ging weiter. Nach acht Jahren, mit Hunger und Epidemien, waren etwa eine Million Menschen tot und vier Millionen zu Flüchtlingen geworden.
Ein unübersehbares Thema in der Ausstellung war der Tod. Eine schockierende Aufnahme von 1982 aus Lesotho zeigte die Opfer einer geheimen südafrikanischen Militäraktion gegen einen ANC-Unterschlupf in der Hauptstadt Maseru. Auf einem anderen Bild waren zahlreiche Leichen in einem tiefen Graben zu sehen; es war 1978 in der angolanischen Stadt Cassinga entstanden, nach einem der schwersten Angriffe, den die Südafrikaner während dieses unerklärten Kriegs unternommen hatten. Die Toten waren – etwa 600 – Exilnamibier und kubanische Soldaten, die im Verlauf südafrikanischer Luftangriffe und bei Kämpfen gegen südafrikanische Fallschirmjägerkommandos starben.
Bürgerkriege über Grenzen hinweg
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere Parteien in den Krieg in Angola involviert. Die Unabhängigkeitsregierung der prosowjetischen MPLA hatte 1975 einen Umsturzversuch nur überlebt, weil Fidel Castro ein Kontingent kubanischer Soldaten entsandt hatte, das sich gegen die südafrikanischen Truppen behaupten konnte, die schon kurz vor der Hauptstadt Luanda standen. Danach zogen sich die Südafrikaner zwar zurück, betrieben jedoch weiterhin den Umsturz des neuen Regimes. Zu diesem Zweck alimentierten sie die von dem Warlord Jonas Savimbi angeführte Rebellenbewegung Unita in Südangola, dessen Kämpfer sie ausbildeten und mit Waffen versorgten (wie bald danach auch die USA).
Die Südafrikaner hatten sich in Savimbis Rückzugsgebiet in der Nähe der namibischen Grenze festgesetzt, während der ANC bei der MPLA-Regierung Zuflucht fand. Das südafrikanische Apartheidregime wollte nicht hinnehmen, dass sich die namibischen Freiheitskämpfer der Swapo mit Billigung der Regierung in Luanda mehr oder weniger frei im Grenzgebiet bewegen konnten. Sie sahen ein unabhängiges, von einer marxistisch-leninistischen Befreiungsbewegung regiertes Namibia als echte Bedrohung an und befürchteten eine Umzingelung des südafrikanischen Territoriums, die das Ende des weißen Minderheitsregimes einläuten könnte.
Mit dem Massaker von Cassinga demonstrierte die Regierung in Südafrika ihre Bereitschaft, den Kampf gegen die Swapo zu eskalieren. Die später getöteten Kubaner waren aus ihren nahe gelegenen Kasernen ausgerückt, um die Stadt zu verteidigen. Unter den Toten waren Dutzende von Swapo-Kämpfern, aber viele der Ermordeten waren auch normale namibische Flüchtlinge. Da sich der Krieg in Namibia damals intensivierte – wie Bilder des südafrikanischen Fotografen John Liebenberg belegen –, flüchteten viele Namibier nach Angola. Bis 1980 waren mindestens 40 000 Flüchtlinge über die Grenze geflohen; 1985 waren es bereits 75 000.1 Die People’s Liberation Army of Namibia (PLAN), der militärische Arm der Swapo, hatte wahrscheinlich nie mehr als 18 000 Kämpfer unter Waffen.
Die Vielzahl der beteiligten Akteure ergab zwar ein verwirrendes Bild, doch im Grunde waren die Fronten klar: Angola war Ende der 1980er Jahre zu einem Schauplatz des Kalten Kriegs geworden, auf dem zwei Allianzen einen dramatischen Konflikt austrugen. Auf der einen Seite die angolanische Regierung, Kuba, die Sowjetunion und die regionalen Antiapartheidkräfte, auf der anderen die Vereinigten Staaten, Südafrika und ihre Hilfstruppe Unita.
In diesem brutalen Konflikt starben mindestens eine halbe Million Menschen, vor allem an Hunger und Unterernährung, und mehrere Millionen wurden zu Flüchtlingen. Wie in Mosambik gab es auch in Angola sehr viele Opfer von Landminen: Mindestens 87 000 Angolaner wurden verstümmelt oder getötet. In einem Krankenhaus in Zentralangola hat Liebenberg ein Kind fotografiert, das verwundet worden war, während es auf dem Rücken seiner Mutter festgebunden war.
Angola wurde von Südafrika hart bedrängt, aber die Regierung und ihre Verbündeten leisteten erfolgreich Widerstand. Auf späteren Fotos (einschließlich meiner eigenen) lässt sich das nahende Ende der Kämpfe deutlich ablesen. Die Bilder stammen aus dem Jahr 1988, als das Kriegsgeschehen sich zugunsten der Regierung zu wenden begann.
Im September 1987 hatten angolanische Elitetruppen eine Militäroffensive gegen die weit im Süden liegende Basis der Unita begonnen, waren aber von der Südafrikanischen Verteidigungsarmee SADF zurückgeschlagen worden. Die Lage schien aussichtslos. Aber als die SADF hinter den Stoßtruppen der Unita nach Norden vorrückte, verschanzten sich die Regierungssoldaten in der Stadt Cuito Cuanavale. Die Kubaner schickten Verstärkungen an die Front und setzten MIG-23-Kampfflugzeuge ein, unter deren Beschuss die südafrikanischen Truppen ihren Vormarsch abbrachen.
Nachdem sich Cuito Cuanavale gegen eine monatelange Belagerung hatte behaupten können, ging Castro in die Offensive und zog Truppen und Waffen weiter westlich in der Nähe der namibischen Grenze zusammen. Dieser Plan wurde von der Sowjetunion – trotz einiger Bedenken – gebilligt. Kurze Zeit sah es so aus, als seien die südafrikanischen Bataillone auf angolanischem Territorium eingekesselt und könnten nicht mehr kampflos abziehen.
Neuer Nationalismus alter Freiheitskämpfer
Die Fotos aus Cuito Cuanavale vom Mai 1988 dokumentieren das neue Selbstvertrauen der angolanischen Truppen: Sie hatten sich in schwieriger Lage behauptet, und der Krieg ging seinem Ende zu. Auf einem Bild kann man sehen, wie angolanische Infanteristen einen eroberten südafrikanischen Panzer inspizieren. Der Kampf um Cuito Cuanavale war allerdings noch nicht ganz vorbei: Kurz nach diesem Foto wurde dieselbe Stellung von südafrikanischen Granaten getroffen und einer der abgebildeten Soldaten schwer verwundet. Zu diesem Zeitpunkt konnte die SADF dank ihrer hochmodernen Artillerie, die das staatliche Rüstungsunternehmen Armscor nach einem kanadischen Prototyp produzierte2 , noch über 40 Kilometer zielgenau treffen. Tatsächlich hatten die Südafrikaner jedoch die militärisch Initiative bereits eingebüßt.
In militärischer Hinsicht war in Angola ein Kräftegleichgewicht erreicht. Und seit die südafrikanischen Townships gegen das Apartheidregime rebellierten, hatte die SADF zugleich einen Krieg im eigenen Land zu führen – während auf globaler Ebene die Entspannung zwischen den USA und der UdSSR in eine rasche Verständigung zwischen Sieger und Verlierer mündete. Im August 1988 zog sich die SADF aus Angola zurück, womit für Namibia der Weg in die Unabhängigkeit frei war. Der Abzug der südafrikanischen Truppen aus Angola bedeutete die entscheidende Wende, was ein ruhiges, emblematisches Foto von Liebenberg zeigt: junge weiße Soldaten, die in gepanzerten Mannschaftswagen eine Pontonbrücke an der namibisch-angolanischen Grenze überqueren.
Die Tage der Apartheid waren gezählt. Kuba stimmte einem schrittweisen Abzug seiner Truppen zu, und Ende 1989 durften die Bürger Namibias zum ersten Mal in ihrer Geschichte zur Wahl gehen, die der Swapo einen überwältigenden Sieg brachte. Im Februar 1990 wurde Nelson Mandela aus der Haft entlassen. 1991 verließ der letzte kubanische Soldat Angola, wo im Jahr darauf die ersten Wahlen nach westlichem Muster stattfanden und die MPLA an der Macht bestätigten.
Auch in Mosambik machte der Friedensprozess, unterstützt durch umfangreiche ausländische Hilfslieferungen, weitere Fortschritte. 1989 einigten sich die Frelimo und die Aufständischen auf eine neue Verfassung, die den Weg für eine Nachkriegsordnung ebnete. Die Kämpfe zogen sich jedoch bis zu den Wahlen von 1994 hin, mit der die herrschende Partei ihre Macht absicherte.
Die Atmosphäre nach den Apartheidkriegen in Angola ist in einem Bild eingefangen, das Musiker bei einer Veranstaltung zur Aufklärung über Landminen zeigte. Die Zeit des Wiederaufbaus war gekommen, aber die Hinterlassenschaften des Kriegs waren überall noch im Boden vergraben.
In Angola blieb der Frieden, anders als in Mosambik, noch lange zerbrechlich, weil sich Savimbi weigerte, seine Wahlniederlage anzuerkennen. Der Unita-Führer erwies sich als unberechenbarer und destruktiver Warlord, der sich – von seinen Partnern aus der Zeit des Kalten Kriegs im Stich gelassen – den regionalen Friedensvereinbarungen widersetzte und den Konflikt am Köcheln hielt, bis er 2002 von Regierungstruppen getötet wurde.
Die Ausstellung „On the Frontline“ war eine Lektion über die Geschichte des südlichen Afrika – und sie ist auch für die Gegenwart bedeutsam. Während die Kuratoren die Bilder hängten, versank Südafrika in einer Flut gewalttätiger Übergriffe gegen Migranten. Das Mandela Centre arrangierte die Ausstellung bewusst als Aufruf gegen den Verlust historischer Erinnerungen. Viele der Migranten, die in Durban und Johannesburg angegriffen wurden, stammten aus den Ländern, die für ihren Widerstand gegen die Apartheid einen hohen Preis bezahlt hatten.
Während Tausende Migranten aus Simbabwe, Mosambik und Malawi über die Grenzen zurückflohen oder in von der südafrikanischen Regierung eingerichteten „Sicherheitslagern“ Zuflucht suchten, nutzte das Mandela Centre die Ausstellung zu einem präzisen Zweck: Sie sollte „die Südafrikaner an ihre Dankesschuld gegenüber den Nachbarländern und den vielen anderen afrikanischen Staaten erinnern, die unseren Freiheitskampf unterstützt haben“, erklärte Verne Harris, der Leiter der Forschungs- und Archivabteilung.
Bei der Eröffnung der Ausstellung warf Graça Machel, die Witwe des ehemaligen mosambikanischen Präsidenten Samora Machel und Nelson Mandelas, der südafrikanischen Regierung und den Staatsführungen der umliegenden Länder vor, sie hätten die moralischen Maßstäbe aufgegeben, die einst zum Widerstand gegen Südafrika und zur Vision einer Zukunft ohne Apartheid geführt haben. Für Machel haben die neuen Führer den alten Traum verraten: „Sie haben nicht mehr den großen Traum, uns alle zu motivieren, zu etwas aufzublicken, das größer ist als jeder Einzelne von uns.“
Die unausgesprochene Botschaft an den herrschenden ANC lautete: Ein Land mit einer Arbeitslosigkeit von 24 Prozent, chronischer Armut, hoher Kriminalität, fehlenden oder unzureichenden Wohnungen und unbezahlbaren Versorgungsleistungen sollte sich auf die von Roosevelts New Deal inspirierten Grundsätze des 1994 aufgelegten Rekonstruktions- und Entwicklungsprogramms (RDP) zurückbesinnen. Die jüngsten fremdenfeindlichen Übergriffe seien überwiegend von Leuten verübt worden, deren wirtschaftliche Lage sich seit der Zeit der Apartheid nicht verbessert hat – von Menschen also, die laut Graça Machel „selbst ums Überleben kämpfen“ und „am Ende ihrer Kräfte angekommen“ sind.
Könnte ein neues Entwicklungsprogramm ohne die Schwächen und Einseitigkeiten des RDP für mehr soziale Gerechtigkeit in Südafrika sorgen? Und könnte das die Feindseligkeiten gegenüber Immigranten abbauen? Eine klare Antwort darauf gibt es nicht.
Die Debatte in Südafrika steht immer noch im Zeichen der schwierigen Vergangenheit und der Erinnerung an die jüngste Geschichte. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit beinhaltet die Aufforderung, an den Werten festzuhalten, in deren Namen der Kampf gegen die Apartheid geführt wurde. Er ist zugleich eine Warnung, dass Südafrika sein anspruchsvolles Gleichheitsideal nie wird erreichen können, wenn es nicht an „dem Traum“ – im Sinne von Martin Luther King – festhält und wenn der ANC sich nicht auf seine sozialistischen Wurzeln besinnt.
Wie der französische Sonderweg, der sich auf eine republikanische Tradition und eigene Werte beruft, die als vorbildlich gelten und doch ständig angefeindet werden und bedroht sind, bezieht sich auch Südafrika auf die Einzigartigkeit seiner nationalen Vergangenheit, die ganz besondere politische Lösungen nötig mache. Dazu gehört ein Staat, der in alle Bereiche des öffentlichen Lebens einschließlich der Wirtschaft regulierend eingreift und sich entsprechend hohe Ausgaben leistet.
Die südafrikanische Einwanderungspolitik und das Asylrecht sind traditionell liberal, wenngleich die Regierung neuerdings die Zuwanderung durch strenge Visa-Bedingungen und Strafen für überzogene Aufenthaltsfristen zu drosseln versucht. Im Februar 2014 polemisierte Innenminister Naledi Pador, gegen „Wirtschaftsmigranten“, die das Asylrecht „missbrauchen“.3 In Wirklichkeit liegt das Problem tiefer. Als bekennender „nationbuilder“ verspürte Nelson Mandela ein so tiefes Bedürfnis, der Welt ein Vorbild zu geben, und erfuhr zugleich so umfassende internationale Anerkennung für die Transformation im Regenbogenstaat, dass die Identifizierung des Volkes mit der Nation einen Chauvinismus hervorbrachte, der insbesondere unter der Jugend sehr verbreitet ist. Graça Machel war sich dessen wohl bewusst: Ihr Ruf nach Solidarität – und einem einheitsstiftenden Narrativ – richtete sich nicht nur an Südafrika, sondern an die Region als Ganzes.
„On the Frontline“ war eine Erinnerungsstütze für alle Südafrikaner, die ihren Glauben an „den Traum“ teilen: Denn Erinnerung ist tatsächlich eine höchst selektive Fähigkeit und im Fall von Südafrika außerdem hochgradig politisiert. Deshalb sind die Mandela Foundation und das von der Stiftung getragene Centre of Memory auf diesem Gebiet besonders stark engagiert. Da sich die von dem Zentrum gepflegte Erinnerungskultur vor allem auf „Leben und Zeitalter Nelson Mandelas“ konzentriert, kann es auf eine lehrreiche Vergangenheit der gemeinsamen Kämpfe, Leiden und Opfer verweisen. Zudem organisiert das Zentrum in seinen großzügigen Räumen in Johannesburg regelmäßig Diskussionsveranstaltungen, bei denen die Prinzipien der Antiapartheidbewegung wachgehalten werden. Und zwar auch mit Leuten, die gegenüber dem neuen Südafrika noch Vorbehalte haben.
Letztes Jahr hatte das Zentrum den Dokumentarfilm „1994 – The Bloody Miracle“ gezeigt, der von den Morden im Vorfeld der damaligen Wahlen in den Townships handelte. Die Veranstaltung brachte interessante Begegnungen und Diskussionen: etwa zwischen der Tochter von Alwyn Wolfaardt, der einer weißen, ethnisch fundamentalistischen „Afrikaander Widerstandsbewegung“ angehörte, und dem schwarzen Polizisten, der Wolfaardt erschossen hat; oder zwischen Mitgliedern des AfriForum, das sich für die ethnischen Rechte der Afrikaander einsetzt, und jungen radikalen schwarzen Südafrikanern, die über die Zukunft Südafrika diskutierten. Das Zentrum organisierte zudem ein kontroverses Gespräch zwischen der Aktivistengruppe Treatment for Aids, einer NGO, die sich für Aidskranke einsetzt, und Mitgliedern der ANC-Regierung, deren Vorgängerin – allen voran Thabo Mbeki – sich strikt geweigert hatten, HIV als Ursache von Aids anzuerkennen.
Obschon das Zentrum bemüht ist, seine Gäste freundlich zu behandeln und zwischen den verfeindeten Positionen zu vermitteln, bleiben solche Gespräche stets ein heikles Unterfangen. Wie Sello Hatang, der Geschäftsführer der Mandela Foundation, erklärt, wolle die Stiftung vor allem „einen sicheren Raum schaffen, in dem die Leute das Unaussprechliche aussprechen können“. Und dieses Bemühen zahlt sich aus. Indem Begegnungen zwischen Menschen organisiert werden, die sich sonst niemals treffen würden, steht das Zentrum für alles, was Mandela verkörpert: als ein großer Vermittler sowie als Visionär einer Befreiungsbewegung, die zu der Zeit, als ihre Führer im Gefängnis oder im Exil waren, deutlich linkere Positionen vertrat als die heutige Regierungspartei ANC. Und das ist keine Geschichtsklitterung: Mandela war eine Persönlichkeit der Linken. Er war sogar für kurze Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei, sah sich dann aber genötigt, im Interesse der Versöhnung die soziale Gerechtigkeit zurückzustellen und dem Aufbau der neuen „Regenbogennation“ zu opfern. Er hatte keine andere Wahl, und seine Entscheidung war weise. Doch heute stellt sich in Südafrika die Frage, ob man die Revolution zu neuem Leben erweckt oder endgültig beerdigt.
In dieser Debatte spielt das Mandela Centre eine zurückhaltende, aber maßgebliche Rolle und entfernt sich dabei ständig weiter von der Politik der herrschenden Partei. Viele seiner Erinnerungsveranstaltungen beschäftigen sich mit drängenden, hochaktuellen Fragen: So reagierte es sehr schnell auf die fremdenfeindlichen Übergriffe im April, und die Ausstellung „On the Frontline“ leistete dazu einen wichtigen Beitrag.
Die größte Herausforderung ist – wie auch Machel festgestellt hat –, dass die jüngeren Generation in Südafrika nichts oder nur sehr wenig über die Geschichte und noch weniger über die Länder weiß, aus denen Millionen afrikanischer Migranten ohne Papiere nach Südafrika kommen, um sich als billige Arbeitskräfte oder Kleinstunternehmer durchzuschlagen. Die älteren Südafrikaner sind nach wie vor bereit, den Nachbarstaaten für das zu danken, was sie im Kampf gegen die Apartheid geleistet haben – und sie schämen sich der jüngsten Übergriffe. Aber so etwas wie ein kollektives Gedächtnis existiert nicht. Und in einem Land, in dem fast 70 Prozent der Einwohner unter 35 sind, liegt die Zukunft in den Händen der Jugend.4
„Kein Afrikaner ist in Afrika Ausländer“, schrieb der Philosoph Achille Mbembe, Dozent an der Universität von Witwatersrand, als Antwort auf die jüngsten Übergriffe. Seiner Ansicht nach versäumen es die Südafrikaner, den Verpflichtungen gegenüber ihren Nachbarstaaten nachzukommen.
Mbembe war über die Unruhen so empört, dass er den Vorschlag machte, Südafrika müsse an Länder wie Angola und Mosambik, die den Kampf gegen die Apartheid unterstützt haben, nachträglich Entschädigungszahlungen leisten: für die Toten und Verstümmelten dieser Länder wie für „die lange Zeit des Elends und der Verzweiflung“, mit der sie einen hohen Preis für die Solidarität mit Südafrika bezahlt haben. „Wenn die schwarzen Südafrikaner von ihrer moralischen Verpflichtung nichts mehr hören wollen, ist es vielleicht an der Zeit, ihnen die ökonomische Rechnung zu präsentieren und Entschädigung einzufordern.“5 Der Traum ist nicht mehr, was er einmal war.
3 timeslive.co.za/scitech/2014/02/25/econmic-migrants-abusing-refugee-act-pandor.
4 countryoffice.unfpa.org/southafrica/2013/04/22/6609/youth.
5 africasacountry.com/2015/04/achille-mbembe-writes-about-xenophobic-south-africa.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Jeremy Harding ist Journalist.