Vernünftig, menschlich, illegal
von Barbara Kuchler
Das Dublin-System der innereuropäischen Verteilung von Flüchtlingen steht auf der Kippe – offiziell und inoffiziell. Offiziell-politisch wird es mittlerweile von vielen hinterfragt und dürfte in absehbarer Zeit durch ein Quotensystem ersetzt werden. Inoffiziell ist es indes schon länger ein Zombie, eine leere Hülle, die nur noch für manches Erschreckspiel gut ist.
Ungarn lässt Flüchtlinge mal in Wellen nach Deutschland ausreisen, um Signale zu setzen oder EU-interne Machtkämpfe zu betreiben, dann wieder blockiert es, nur Stunden später, jegliche Ausreise von Flüchtlingen und leitet sie mit höchst fragwürdigen Tricks in Aufnahmelager um, unter Berufung auf Dublin, das deren Weiterreise verbiete.
Das sind böse Spiele auf dem Rücken derjenigen, die ohnehin schon zu lange Leid und Willkür erfahren haben. Aber ein kreativer Umgang mit Dublin kann auch in menschenfreundlicher und konstruktiver Absicht gepflegt werden. Das böse Spiel kann damit in ein gutes verwandelt werden. Der praktische Effekt könnte sein, Flüchtlingen einen Rest von Selbstbestimmung und Freizügigkeit zurückzugeben. Für Deutschland würde das lediglich voraussetzen, dass die deutsche Polizei – nur in diesem Punkt und in ungewohnter Richtung – sich ein Beispiel an südeuropäischen Polizeiorganisationen nimmt.
Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass in die EU einreisende Flüchtlinge von demjenigen Land betreut werden müssen, in dem sie zuerst ankommen. Dieses Land muss sie registrieren, sicher unterbringen, ein Asylverfahren in die Wege leiten und ihnen gegebenenfalls Asyl oder sonstiges Aufenthaltsrecht gewähren.
Das führt zu drei Problemen. Das erste ist eine enorme Ungleichverteilung der Lasten. Es ist aus geografischen Gründen unausweichlich, dass die allermeisten Flüchtlinge in Italien oder Griechenland ankommen. Für ein Land wie Deutschland dagegen bleiben theoretisch nur diejenigen übrig, die per Flugzeug einreisen, was ein Visum voraussetzt; abgesehen von denjenigen, die es schaffen, vom Mittelmeer bis nach Helgoland zu schwimmen und dort erstmals europäischen Boden zu betreten.
Zweitens führt „Dublin“ zur einer immer rigideren Abriegelung der europäischen Außengrenzen, weil den Außenländern zu ihrem Selbstschutz nichts anderes übrig bleibt, als den Zustrom von Flüchtlingen mit allen Mitteln einzudämmen.
Zu diesem Zweck setzen sie militärische Aufklärungstechnik ein, bauen Zäune, schleppen Flüchtlingsboote ins offene Meer zurück oder machen sie auf hoher See manövrierunfähig.1 Damit werden die Migranten auf immer neue und immer gefährlichere Fluchtrouten gedrängt.
Seit die traditionelle Gibraltar-Route mit militärischer Technologie überwacht wird, kommen die Schlepperboote über Libyen nach Italien. Weil die türkisch-griechische Landgrenze in Thrakien mittlerweile hermetisch abgeriegelt ist, versuchen Flüchtlinge, mit Schlauchbooten von der türkischen Ägäisküste aus griechische Inseln zu erreichen. An der serbisch-ungarischen Grenze steht jetzt ein neuer, mit Natodraht bestückter Zaun, der eine von zwei der meist genutzten Balkanrouten blockieren soll.
Der Ort, an dem man leben will
Drittens bedeutet „Dublin“, dass die Flüchtlinge, wenn sie es denn in die EU geschafft haben, einer willkürlichen Zuständigkeitsbürokratie ausgeliefert sind. Sie haben vielleicht in Deutschland Verwandte, müssen aber in Bulgarien leben; oder sie könnten in England bei Bekannten unterkommen, dürfen aber Österreich nicht verlassen. Das Fluchtland selbst zu wählen, ist ja kein extravaganter Luxus, wie wenn ein Tourist sich seinen Lieblingsbungalow am Strand aussuchen darf. Flüchtlinge zieht es dorthin, wo sie Verwandte oder Freunde haben oder wo es bereits nationale, ethnische oder religiöse Communitys gibt, in denen sie Anschluss finden.
Das war immer schon so, auch zu den Zeiten der massenhaften Emigration aus Deutschland im 19.Jahrhundert, und es ist auch gut so. Auf diese Weise finden geflüchtete Menschen Hilfe beim Einleben in ein fremdes Land und fremde Sitten, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Sie belasten die sozialen Sicherungssysteme kürzer und können so auch ein halbwegs würdiges, selbstbestimmtes Leben führen. Sie noch weiter zu entwurzeln und ihnen auch diese Verbindungen noch zu nehmen, nützt niemandem.
Man darf sich nichts vormachen: Viele, insbesondere der syrischen und eritreischen Flüchtlinge, die zurzeit ankommen, werden hier bleiben. Viele werden als Asylberechtigte oder Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt, und wenn sich in drei Jahren, wenn ihr Schutzstatus erneut überprüft wird, nichts Grundlegendes an der Lage in ihrem Herkunftsland geändert hat, erhalten sie ein dauerhaftes Bleiberecht.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Syrien in drei Jahres ein friedliches, sicheres Land sein und Eritrea ein demokratisches, freiheitliches Regime besitzen wird, ist – so traurig das ist – gering. Die Menschen müssen dann eine Chance haben, in Europa nicht nur irgendwie verwahrt und grundversorgt zu werden, sondern eine Existenz aufzubauen, politisch aktiv zu sein. Dafür muss man ihnen die Wahl ihres Wohnsitzes freistellen, wie anderen Menschen auch. Hilfsorganisationen fordern deshalb seit Langem, das Dublin-System abzuschaffen, Freizügigkeit für Flüchtlinge innerhalb Europas zu gewähren, und die daraus entstehende Ungleichverteilung zwischen den Staaten finanziell auszugleichen.2
Dass das Dublin-Abkommen völlig ungeeignet ist, mit der europäischen Flüchtlingskrise zurechtzukommen, gilt nicht erst seit einigen Wochen. Faktisch ist Dublin bereits seit längerer Zeit tot oder doch ausgehöhlt. Die wichtigen Transitländer wie Italien, Griechenland, Bulgarien und Ungarn haben schon längst aufgehört, Dublin umzusetzen. Dort wird allenfalls eine Zufallsauswahl der Zigtausenden ankommenden und nach Norden ziehenden Flüchtlinge registriert. Sie bleiben oftmals ohne jegliche Unterbringung und Versorgung, damit droht ihnen Obdachlosigkeit und Verwahrlosung, oder Inhaftierung und Misshandlung.3
Sie ziehen also weiter. Die Polizisten und Grenzschützer haben systematische Grenzkontrollen längst aufgegeben, sie drücken an den Übergängen und an den Marschrouten über „grüne Grenzen“ beide Augen zu, führen allenfalls sporadisch Alibikontrollen durch, die Aufgegriffene nur wenige Tage aufhalten, oder sie schicken die Flüchtlinge mit einem Passierschein weiter – offiziell zu irgendwelchen Flüchtlingslagern, tatsächlich aber, wie alle Beteiligten wissen, an die Grenze zum nächstgelegenen nördlichen Nachbarstaat.
Von italienischen Polizisten wird berichtet, dass sie fragen, wer im Land bleiben will und wer nicht – und dann nur die registrieren, die von sich aus bleiben wollen. Ebenso drückt die österreichische Polizei beide Augen zu. Streng genommen dürfte in den Zügen, die täglich aus Verona in München eintreffen, kein einziger unregistrierter Flüchtling mehr sitzen – tatsächlich sind es täglich Hunderte. Die französische Polizei schickt papierlos Eingereiste oft mit der Aufforderung weiter, innerhalb von drei Tagen in ein Land weiterzureisen, das zu ihrer Aufnahme „bereit“ ist. Von den ungarischen Praktiken ganz zu schweigen.4
Nur die deutsche Polizei macht – brav, deutsch und gründlich – alles korrekt. Zuverlässig registriert sie in den Erstankunftsorten wie München und Rosenheim die Ankommenden, einen nach dem anderen, und schickt sie in Aufnahmelager weiter. Nun sind darunter natürlich auch sehr viele, besonders nach den dramatischen Entwicklungen der letzten Zeit, die nirgends lieber als in Deutschland sein wollen und ihr Traumziel erreicht haben. Aber prinzipiell und mittelfristig gilt dies keineswegs für alle, manche wollen eben auch in andere Länder, wo sie Verwandte oder sonstigen Anschluss haben.
Wer aber einem deutschen Polizisten sagt, dass er woandershin will, erhält die freundliche, aber unanfechtbare Auskunft, dass das nicht gehe und dass er ab jetzt unter deutsche Zuständigkeit falle. Aber könnte sich Deutschland nicht in diesem Punkt, in einer Art List der Vernunft, der Praxis seiner südlichen Nachbarn anschließen? Und wäre das in dieser Situation nicht das Beste? Deutschland bedeckt sich derzeit ziemlich mit Ruhm, was die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen auch aus Transitländern angeht. Aber könnte man auf Wünsche zur Weiterreise, mit der List der Vernunft, nicht ähnlich flüchtlingsfreundlich und flexibel reagieren?
Durch schlicht pragmatischen Umgang mit dem Problem könnte die deutsche Polizei mitwirken, unter der Hand und auf leisen Sohlen ein menschlicheres Regime der Flüchtlingsverteilung einzuführen, das die Wünsche der Betroffenen stärker berücksichtigt.
Was spräche zum Beispiel dagegen, angesichts eines Flüchtlings, der in der Münchner Registrierungsstelle „Sweden“ sagt oder „My brother is in Amsterdam“, die Stirn zu runzeln, den Stift wegzustecken und sich für fünf Minuten anderen Aufgaben zu widmen? Oder größeren Gruppen von abgefangenen Flüchtlingen mitzuteilen, dass diejenigen, die in Deutschland Asyl beantragen wollen, bei der Registrierungsprozedur zuerst drankommen? Dann könnte man diejenigen, die eigentlich ein anderes Ziel haben, darauf hinweisen, dass sie erst nach den anderen registriert werden und in zwei Stunden wiederkommen sollen. Warum sollte man nicht Flüchtlinge als Menschen mit eigenem Willen, eigenen Prioritäten und eigener Entscheidungsfähigkeit behandeln?
Vorteilhaft wäre das für beide Seiten. Den Schaden hätten theoretisch die weiteren, nördlicheren Fluchtländer; aber die sind bislang nicht als Problemherd bekannt. Und sofern man Freizügigkeit überhaupt für sinnvoll hält, wäre das zu vertreten.
Ohnehin wird berichtet, dass die deutsche Polizei bei der Durchsetzung der Gesetzeslage mit Maß und Verhältnismäßigkeit vorgeht. So wird gegenüber Flüchtlingen, die auf Bahnhöfen in Empfang genommen werden, nicht die ganze Härte der Polizeigewalt aufgefahren: Wenn jemand davonrennt, wird ein flüchtiger Flüchtling nicht von Polizeitrupps durch den Bahnhof verfolgt und gewaltsam zurückgeholt.5 Diese sehr menschliche Praxis ließe sich noch ausweiten.
Deutschland kann nicht im Alleingang das Dublin-Abkommen exekutieren, wenn es nicht auch die auf den Fluchtrouten „vor uns“ liegenden Länder tun. Die ganze Dublin-Maschinerie ist ohnehin seit Langem äußerst ineffizient und deshalb praktisch irrelevant. Speziell für Syrer wurden die Dublin-Regelungen kürzlich sogar offiziell ausgesetzt, besser gesagt: ihre Handhabung wurde modifiziert. Syrer sollen künftig nicht mehr in den Ersteinreise- beziehungsweise Erstregistrierungsstaat zurückgeschickt werden, vielmehr erklärt sich Deutschland bereit, für sie das Asylverfahren durchzuführen. Das Dublin-Abkommen erlaubt dies ausdrücklich, wird also durch einen solchen freiwilligen „Selbsteintritt“ eines Staats nicht etwa unterminiert, sondern vielmehr respektiert.
Für Flüchtlinge anderer Nationen bleiben die Dublin-Zuständigkeiten und auch die Möglichkeit von Dublin-Abschiebungen offiziell in Kraft, wenn auch mit begrenztem praktischem Erfolg, weil deutsche Gerichte wegen der katastrophalen Lebensbedingungen von Flüchtlingen in den entsprechenden Ländern bereits Abschiebestopps verhängt haben. 2014 hat sich Deutschland etwa 2300 Menschen aus anderen EU-Staaten rücküberstellen lassen und im Gegenzug 4700 Menschen in andere Länder rückgeführt. 30 000 weitere hätten theoretisch rückgeführt werden müssen, wurden aber faktisch wegen menschenunwürdiger Lebensbedingungen nicht abgeschoben.6
Warum dann nicht sich das Ganze sparen und einfach in der Praxis Freizügigkeit von Flüchtlingen zulassen? Fragt man Polizisten, was der Sinn der ganzen Abfangaktionen sei, kann man hören: Es würden eben politische Vorgaben exekutiert, deren Sinn für die Street-level-Betreuer auch nicht in jedem Fall einsichtig sei.7
Die Südländer tolerieren Regelabweichungen eher, aber sie zeigen darin – gewollt oder ungewollt – auch Vernunft. Sie kapitulieren vor der Tatsache, dass der durch nackte Not und Gewalt getriebene Flüchtlingsstrom sich nicht aufhalten und, angesichts fehlender legaler Einreisemöglichkeiten, auch nicht in legale Bahnen lenken lässt. Sie beugen sich der „normativen Kraft des Faktischen“. Darin liegt nicht nur – obwohl sicher auch – Faulheit, Korruptheit und Eigeninteresse. Darin liegt auch eine Chance, nämlich die Chance, unter der Hand und unter Umgehung der steinigen politischen Entscheidungswege ein humaneres Flüchtlingsregime in Europa zu schaffen.
In den südlichen Ländern ist traditionell in allen Lebensbereichen die Toleranz für informelle Problemlösungen höher als in Mitteleuropa: Toleranz für flexible Regelauslegungen und sehr unterschiedlich lange oder kurze Dienstwege je nach Grad der Bekanntschaft mit dem zuständigen Beamten – mit fließenden Übergängen zu Korruption. Das gilt für Strafzettel, Baugenehmigungen, öffentliche Aufträge und vieles mehr. In Deutschland ist das bürokratisch-rechtsstaatliche Ethos sehr viel weiter durchgesetzt und tiefer verwurzelt.
Vernünftiger Regelverstoß
Die allermeisten Beamten handeln in der Tat bei ihrer Arbeit so, wie es im Buche steht: universalistisch, regelgemäß, unbeeinflussbar, an nachlesbaren Paragrafen orientiert. Und, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das ist eine großartige Errungenschaft. Wir können zutiefst dankbar sein, in einem Land zu leben, in dem Gesetze tatsächlich gelten, die Polizei rechtsstaatlich arbeitet, Polizisten nicht bestechlich sind und man sich darauf verlassen kann, dass ein gestellter Antrag auch weitergeleitet wird, und zwar auch ohne dass ihm ein 50-Euro-Schein beigelegt wird. Es geht nicht darum, einen Bakschisch-Staat herbeizuwünschen, wie er in weiten Teilen Ost- und Südosteuropas etabliert ist.
Gleichwohl darf formale Korrektheit nicht zum Maß aller Dinge erklärt werden; an bestimmten, gut gewählten Stellen davon abzuweichen kann sinnvoll sein. Informelle Praktiken, ein lichtscheues „Unterleben“, eine gewisse Abweichung zwischen formalen Regeln und täglicher Praxis ist der Alltag in jedem Bereich des Sozialen – das gehört zum altbekannten und unerschütterlichen Wissensbestand der Soziologie.
In jeder Organisation und jeder Institution gibt es ein gerüttelt Maß an Regelabweichung und „brauchbarer Illegalität“, und dies ist auch nicht zu verwechseln mit schlichter Korruptheit selbstsüchtiger Individuen, sondern kann einen fein austarierten, unterstützenswerten Sinn haben, der nur für Paragrafen zu komplex ist.8
In jeder Schule gibt es „illegale“ Praktiken von Schülern, die vor allem das Mogeln, Spicken, Vorhersagen von Prüfungsfragen betreffen, und diese sind für die Schule im Ganzen keineswegs nur kontraproduktiv, sondern sie haben ihren guten Sinn in der Erzeugung von Solidarität, Zusammenhalt, Sozialkompetenz. In jedem Unternehmen gibt es Arbeits- und Abstimmungsmethoden, die man besser nicht schriftlich dokumentiert, die aber dem Vorangehen der Sache dienen und auf die das Unternehmen nicht ohne Schaden verzichten könnte. Und dasselbe gilt sogar für eine rechtsstaatlich kontrollierte Polizei.
Es kommt darauf an, informelle Praktiken mit Maß und Ziel zu gebrauchen – nicht wild-wuchernd, überhandnehmend und unkontrollierbar. Die Handhabung oder eben Nichthandhabung der Dublin-Vorschriften ist ein Punkt, an dem gezieltes Augenzudrücken und bewusste Pflichtvergessenheit sich lohnen und einer sinnvollen Sache dienen könnten. Es würde die Welt ein Stückchen humaner machen. Es wäre auch nicht einer Unwilligkeit und Korruptionsnähe deutscher Polizeibeamter geschuldet, sondern einer schlichten europäischen Realität, mit der die Politik nicht zurechtkommt.
Wie damit praktisch begonnen werden kann, ist natürlich eine diffizile Frage, denn offensichtlich kann es nicht durch eine zentrale Verordnung geschehen. Im Süden kann man sich für so etwas auf den alltäglichen Schlendrian verlassen.
In Deutschland steht dieser natürliche Verbündete nicht zur Verfügung, und es müsste auf dem Weg von zarten Andeutungen, leisen Winken, stillschweigenden Einverständnissen und einer langsam sich herauskristallisierenden Definition des Sinnvollen vorgegangen werden. Die Polizei könnte so zum größten Freund und Helfer von Flüchtlingen werden.
Oftmals sind informelle Wege schneller und effektiver als formelle. Dafür ist Dublin ein paradigmatischer Anwendungsfall. Das Dublin-Abkommen bröckelt mittlerweile offiziell-politisch: Ohne das, was jeden Tag auf der Straße geschieht, wäre das nicht passiert, oder es hätte, allein auf dem Weg von politischen Debatten und einem Ingangsetzen der EU-Abstimmungsmaschinerie, noch Jahre oder Jahrzehnte gedauert.
Und für den nächsten Schritt, das Festzurren einer Neuregelung der Flüchtlingsverteilung, gilt dasselbe. Es wird auf ein Quotensystem orientiert an Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft hinauslaufen, obwohl eine generelle Freizügigkeit aus den genannten Gründen besser und humaner wäre. Aber auch bei einem Quotensystem gibt es Spielräume in der Frage, inwieweit Flüchtlinge einfach „en gros“ und blockweise bestimmten Ländern zugewiesen werden oder inwieweit die Wünsche und Vernetzungen der Betroffenen dabei berücksichtigt werden. Und auch hierfür können hinreichende Erfahrungen von der Straße nützlich sein.
Wenn in der Praxis bereits Erfahrungen mit Freizügigkeit vorliegen, können sich auch offizielle Beschlussvorlagen daran orientieren und dadurch inspirieren lassen. Ansonsten wird ein schlichtes zahlenmäßiges „Stückgut“-System der Flüchtlingsverteilung (wie Pro Asyl es nennt) immer als die einfachere Lösung erscheinen.
Die Wünsche der Betroffenen selbst zu berücksichtigen, ist zunächst aufwendiger und erst mittelfristig lohnend: Für die Integration in Wohnungs- und Arbeitsmarkt ist es das Allerbeste und Effektivste, wenn Flüchtlinge auf eigene Netzwerke zurückgreifen können. Unzählige Arbeitsstunden in Arbeitsämtern und Wohnungsvermittlungsstellen können dadurch gespart werden.
Wenn für eine solche ebenso pragmatische wie humane Lösung auf der Straße schon vorgearbeitet wird, steigen die Chancen, dass auch die Politik dies zu verkraften vermag.
4 Vgl. Peter Burghardt u. a., „Fünf Tage in Europa“, Süddeutsche Zeitung, 14.–16. August 2015.
5 Susi Wimmer, Philipp Schulte, „Endstation Hauptbahnhof“, in: Süddeutsche Zeitung, 12. August 2015.
6 Pro Asyl, Zahlen und Fakten 2014: www.proasyl.de/de/themen/zahlen-und-fakten.
7 Lisa Schnell, „Der Zug der Elenden“, Süddeutsche Zeitung, 26. Juni 2015.
Barbara Kuchler ist Soziologin an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschienen: „Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte“, 2013; und: „Symbiosen von Recht und Korruption“, in: Martina Löw (Hg.), „Vielfalt und Zusammenhalt: Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2012“, 2014, beide Frankfurt am Main (Campus).
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