Rebellion auf Okinawa
Die japanische Insel wehrt sich
von Gavan McCormack
gegen eine große neue US-Militärbasis
von Gavan McCormack
Der Streit um Okinawa gehört zu den eher unbekannten globalen Konflikten. Dabei ist er alles andere als neu: Seit nunmehr 18 Jahren blockieren die Inselbewohner den Plan, im Distrikt Henoko auf der Hauptinsel Okinawa eine neue Basis für die U.S. Marines zu bauen. Für den japanischen Regierungschef Shinzō Abe hat das Projekt höchste Priorität.
In Washington bekam Abe im April viel Beifall, als er sich zu den „gemeinsamen Werten“ Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte bekannte. Doch für die Okinawer klingt das Bekenntnis hohl. Sie mussten immer wieder erfahren, dass gegenüber den Ansprüchen des US-Militärs ihre verfassungsmäßigen Rechte nicht zählen. Einen Monat nach Abes USA-Reise fuhr Takeshi Onaga, der Gouverneur der Präfektur Okinawa, nach Washington und machte klar, dass die lokale Bevölkerung den Bau einer neuen Militärbasis nicht hinnehmen würde.
Die Inselgruppe Okinawa ist Teil der Ryūkyū-Inseln, die sich über 1000 Kilometer zwischen den japanischen Hauptinseln bis fast nach Taiwan erstrecken (siehe Karte). Aus chinesischer Sicht bilden sie eine maritime „große Mauer“, die den Zugang zum offenen Pazifik kontrolliert. Daher ist der völkerrechtliche Status der Gruppe für ganz Ostasien ein wichtiger geopolitischer Faktor. Die Inseln waren jahrhundertelang – als Teil des Königreichs Ryūkyū – mit China wie auch mit Japan assoziiert. Dabei kamen ihnen 500 Jahre lang die freundschaftlichen Beziehungen zugute, die unter dem chinesischen Tributsystem zwischen den Anrainern des Ostchinesischen Meers herrschten.1 Mitte des 19. Jahrhunderts konnte Ryūkyū selbstständig Verträge mit den USA, Frankreich und den Niederlanden abschließen.
Diese relative Autonomie endete, als sich Japan 1879 den Archipel einverleibte und das Königreich Ryūkyū abschaffte. Japanische Soldaten zogen in die Shuri-Burg. Es war die erste Militärbasis in der Geschichte von Okinawa. Die neuen Herren untersagten den Bewohnern den Gebrauch ihrer eigenen Sprache und zwangen ihnen japanische Namen und die Shintō-Religion auf.
China und später die USA galten fortan als feindliche Mächte. Bei der Invasion der US-Truppen im Frühjahr 1945 kam ein Viertel der Einwohner Okinawas um. Und viele Einheimische wurden von der japanischen Armee als Spione hingerichtet oder zum Selbstmord gezwungen.2 Dieses Trauma sitzt in Okinawa noch immer tief.
Siebzig Jahre später halten die USA nach wie vor 20 Prozent von Okinawa besetzt. Und die souveränen, extraterritorialen Rechte der USA sind fast dieselben wie von 1945 bis 1972, als die Inselgruppe noch unter direkter US-Militärverwaltung stand.
Die neue Anlage in Henoko soll die Futenma-Basis ersetzen, die inmitten der Stadt Ginowan liegt. Donald Rumsfeld hat sie einmal als „gefährlichsten Militärstützpunkt der Welt“ bezeichnet. Im August 2004 stürzte auf dem Campus der Universität ein Militärhubschrauber ab, was nur deshalb keine Todesopfer forderte, weil gerade Semesterferien waren.
Die neue Basis soll viel größer als Futenma werden; auf den 160 Hektar sind nicht nur Flugzeugpisten geplant, sondern auch ein Tiefwasserhafen. Die ganze Anlage mit zwei 1800 Meter langen Start- und Landebahnen und einem 272 Meter langen Kai soll zehn Meter über dem Meeresspiegel als eine auf Pfeilern ruhende Betonplattform errichtet werden.
Die Gegend ist eine der schönsten Küstenzonen Japans, die das Umweltministerium wegen ihrer außergewöhnlichen Biodiversität in die Weltnaturerbe-Liste der Unesco eintragen lassen will – als Habitat für Hunderte Korallenarten, Seepflanzen und Fische, Krabben, Seeschildkröten und Säugetiere, von denen viele zu seltenen oder gefährdeten Spezies gehören.
Würde sie gebaut, wäre die Henoko-Militärbasis wahrscheinlich bis zum Ende dieses Jahrhunderts eine der größten Militärkonzentrationen in Ostasien – und Herzstück des „Pivot to Asia“, der auf eine Verschiebung der US-Präsenz in Richtung Asien abzielt.3 Voller Verbitterung erinnern sich die Okinawer, dass man ihnen 1996 die bedingungslose Schließung der Basis Futenma versprochen hatte.
Heute behauptet die Regierung Abe, die US-Marineinfanterie sei für die Verteidigung Japans unentbehrlich und auf die Basis in Henoko angewiesen. Dagegen hatte Verteidigungsminister Gen Nakatani letztes Jahr zugegeben, dass man aus militärischer oder strategischer Sicht die Funktionen der Basis Henoko durchaus auf mehrere Standorte aufteilen und zum Beispiel auch nach Kyūshū, der südlichsten Hauptinseln Japans, verlegen könnte – was allerdings am Widerstand der dortigen Bevölkerung scheitern würde.
Schon die Inbesitznahme von Futenma durch das US-Militär war ein illegaler Akt: Die Basis wurde auf Land errichtet, das man seinen Besitzern „mit Bajonetten und Bulldozern“ weggenommen hat (wie man heute noch in Okinawa erzählt). Damit verstießen die USA gegen die Haager Konvention von 1907, die das Konfiszieren von privatem Land durch die militärische Besatzungsmacht untersagt.4
Der breite Widerstand in Okinawa hat den Bau der Basis Henoko, der 1996 beschlossen wurde, bis 2013 erfolgreich blockiert. Dann aber setzte die zweite Abe-Regierung alles daran, die Opposition zu neutralisieren. Dabei wurden zunächst die fünf Abgeordneten der Regierungspartei LDP, die für Okinawa im Tokioter Parlament sitzen, auf Linie gebracht, gefolgt von der Provinzorganisation der LDP und dem Gouverneur Hirokazu Nakaima.
Doch die Basisgegner schlugen zurück. 2014 gewannen sie die Kommunalwahlen in Nago City und vier Sitze im japanischen Unterhaus. Bei den Gouverneurswahlen im November propagierte der konservative Kandidat Takeshi Onaga eine gemeinsame Politik im Interesse Okinawas und appellierte an alle Parteien – bis hin zu den Kommunisten –, die Inselgruppe zu verteidigen. Mit dem Versprechen, alles zu tun, um das Henoko-Projekt zu stoppen, gewann Onaga bei einer Rekordwahlbeteiligung von 64 Prozent mit 361 000 zu 261 000 Stimmen.
Die Baugenehmigung für die Basis ist unrechtmäßig
In Tokio reagierte Yoshihide Suga, Chefkabinettssekretär der Abe-Regierung, mit der Erklärung, die Meinung der Okinawer sei unerheblich, und die Regierung müsse die legalen Prozeduren einhalten, also den Bau der Basis „ernsthaft und korrekt“ (shukushuku to) weiterbetreiben.5
Nachdem man die im Juli 2014 begonnenen Vorarbeiten wegen der Gouverneurswahlen eingestellt hatte, wurden sie im Januar 2015 wiederaufgenommen. Zugleich mobilisierte Abe die Bereitschaftspolizei und Schiffe der Küstenwache gegen die Demonstranten. Als sich im März am Rande des Musikfests Sanshin 29 Musiker bei strömendem Regen vor der Henoko-Baustelle versammelten, unterbrach die Polizei auf ziemlich rüde Weise das Solidaritätskonzert und riss den Musikern einfach ihren provisorischen Regenschutz weg.
Im Januar setzte der neue Gouverneur eine Expertenkommission ein, deren Auftrag lautet, das Vorgehen seines Vorgängers zu durchleuchten, der die Beschlagnahmung privater Grundstücke zugelassen hatte. Zudem forderte Onaga die Regierung in Tokio auf, die Vorarbeiten zu suspendieren. Im März wiederholte er diese Forderung und bestand zusätzlich darauf, Berichten über die Zerstörung von Korallenbänken nachzugehen. Doch Tokio hat bereits erklärt, dass man die Bauarbeiten fortsetzen will.
Nach Onagas Wahl weigerte sich die Regierung Abe vier Monate lang, mit dem neuen Gouverneur zu reden. Als im April und Mai endlich erstmals Gespräche stattfanden, hatten sich beide Seiten noch weiter voneinander entfernt. Onaga ärgerte sich besonders über Sugas „Shukushuku to“-Gerede: „Wenn Sie diesen herablassenden Ton beibehalten, werden Sie die Menschen in Okinawa noch mehr gegen sich aufbringen.“ Die Leute waren begeistert.
Was er damit meinte, machte der Gouverneur auch in einem Fünfminutendialog mit Regierungschef Abe vor laufenden Kameras klar: „Für die Bevölkerung Okinawas, der man für die weltweit gefährlichste – und mittlerweile obsolete – Basis Grund und Boden weggenommen hat, ist nichts empörender, als gesagt zu bekommen, sie habe die nächste Bürde zu schultern und solle, wenn ihr das nicht gefällt, einen alternativen Plan vorlegen.“ Der Satz fiel in der dritten Minute; die Journalisten wurden sofort rausgeschickt.
Abe dominiert das Parlament in Tokio wie kein Regierungschef vor ihm: Die Opposition ist schwach und gespalten , zudem sind die Massenmedien auf seiner Seite (die Presse- und TV-Barone sind seine Golfpartner und Dinnergäste). Doch jenseits des Parlaments und der Medien wächst die Sympathie für den Widerstand in Okinawa.
In den USA wurde Abe 2013 noch ziemlich kühl empfangen; Präsident Barack Obama verweigerte ihm sogar ein Abendessen und eine gemeinsame Pressekonferenz. Abes Slogans wie „Take back Japan“ und „Cast off the post-war regime“ und seine Forderung nach einer „korrekten“ patriotischen Geschichtserzählung zur patriotischen Erbauung der Japaner wurden in Washington als Beleidigung aufgefasst. Als würde man den von den USA etablierten japanischen Nachkriegsstaat ablehnen und Sympathien für das 1945 besiegte faschistische Regime hegen.
In diesem April wurde Abe in Washington jedoch begeistert begrüßt. Er durfte sogar eine Rede vor beiden Häusern des Kongresses halten, nachdem er sich bereit erklärt hatte, die Pläne der Washingtoner Strategen umzusetzen. So hat seine Regierung die bisher geltende Interpretation der japanischen Verfassung revidiert, die den Einsatz von Militär nur zur Selbstverteidigung des Landes erlaubt (siehe Artikel Seite 15). Künftig können sich japanische Streitkräfte weltweit an „Koalitionen der Willigen“ beteiligen, wie es die USA seit Längerem fordern.
Die Regierung zeigte sich auch bereit, die 225 000 Mann starke Armee auf nachrichtendienstlicher und Kommandoebene noch enger mit den US-Streitkräften zu koordinieren und weiterhin über 8 Milliarden Dollar pro Jahr an Subventionen zu zahlen, damit diese in Japan stationiert bleiben.6 Außer der Basis in Henoko soll die japanische Regierung auch neue US-Stützpunkte in Guam und auf den Marianen-Inseln bauen und großenteils finanzieren. Das würde Ausgaben von insgesamt 6,09 Milliarden Dollar bedeuten, inklusive der Kosten für die Verlegung von 8000 U.S. Marines plus Personal.
Abe nennt das Ganze „positiven Pazifismus“, der den in der Verfassung von 1947 festgeschriebenen „passiven Pazifismus“ ablösen soll. Der Republikaner John McCain, Vorsitzender des Committee on Armed Services des US-Senats, verkündete im Mai, er hoffe, dass japanische Soldaten zukünftig in Korea, im Mittleren Osten und im Südchinesischen Meer eingesetzt werden könnten.7
Am 16. Juli legte die von Onaga bestellte Expertenkommission ihren Bericht über den Entscheidungsprozess vor, in dessen Verlauf sein Vorgänger Hirokazu Nakaima die Konfiszierung der Flächen für die Henoko-Basis genehmigt hatte. Die Untersuchung brachte erhebliche Verfahrensfehler ans Licht, was die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Regierung in Zweifel zieht. Das eröffnet Onaga die Möglichkeit, die Genehmigung für die Landnahme für nichtig zu erklären und zu annullieren.
Am 4. August wurde dann überraschend ein Vierpunkteplan angekündigt, auf den sich die Regierung in Tokio und die Präfektur von Okinawa nach geheimen Verhandlungen geeinigt haben. Danach wollten beide Seiten vom 10. August an einen Monat lang über den Henoko-Plan diskutieren; in dieser Zeit sollte Tokio alle Arbeiten ruhen lassen, während die Präfektur von jeglichen juristischen oder administrativen Schritten (in Sachen Landkonfiszierung) absehen wollte.
Der Präfekt sollte außerdem die Erlaubnis bekommen, untersuchen zu lassen, wie sich die Arbeiten auf die Korallenbänke der Oura-Bucht auswirken würden. Damit gab die Regierung Abe erstmals zu erkennen, dass sie die Auseinandersetzung um Henoko ernst nimmt.
Bis Anfang September blieben die Gespräche zwischen Onaga und Vertretern der Regierung in Tokio jedoch ergebnislos. Regierungschef Shinzō Abe ist proamerikanischer als alle seine Vorgänger. Doch seine Haltung gegenüber Washington ist eine Mischung aus Unterwürfigkeit und Feindseligkeit. Hin- und hergerissen zwischen klientelistischer Unterwerfung und nationalistischer Selbstbehauptung (dem fundamentalen Widerspruch des modernen japanischen Staats), scheint Abe für das aktuelle Problem Okinawa keine Antwort zu haben.
Das einmonatige Moratorium wird das Henoko-Projekt nicht ernsthaft verzögern, zumal die Taifunsaison ohnehin eine Arbeitspause erzwungen hätte. Aber immerhin ruht der Konflikt bis Mitte September und die Demonstranten können sich von ihren anstrengenden Aktionen erholen. Tatsächlich gibt es keine Kompromisslösung für das Problem. Die Regierung in Tokio will die Militärbasis bauen und hat für die erste Bauphase schon Aufträge im Wert von 460 Millionen Dollar vergeben. Zudem plant sie bereits, in ganz Westjapan Steinbrüche auszubeuten und Sanddünen abzubauen, um die 21 Millionen Kubikmeter Material zu gewinnen, mit denen die Oura-Bucht aufgefüllt werden muss.
Kaum jemand zweifelt daran, dass Abe die Arbeiten nach Ablauf des Waffenstillstands wiederaufnehmen wird. Das dürfte die Proteste erneut anfachen und Gouverneur Onaga zwingen, die Lizenz zur Landgewinnung zu annullieren. Im Juli hat Onaga angekündigt, er wolle die Klage der Präfektur Okinawa weltweit bekanntmachen, indem er sie im September beim UN-Komitee für Menschenrechte in Genf einreicht.8
Allerdings sind die Menschen inzwischen misstrauisch geworden. Sie haben Zweifel, ob Onaga wirklich bereits ist, seine Ankündigungen wahr zu machen und die Erlaubnis für die Überbauung der Oura-Buch zu annullieren. In Okinawa fragt man sich, warum der Präfekt sich in monatelange Geheimverhandlungen mit der Regierung auf Gespräche verständigt hat, die im Grunde gegenstandslos sind. Ist auf Onaga Verlass, der ja schließlich derselben Partei angehört, die in Tokio an der Macht ist. Könnte es sein, dass er Widerstand nur geleistet hat, um sein Gesicht zu wahren, am Ende jedoch seine Wähler verraten wird?
Am Ende könnte Abe seinen Willen womöglich doch durchsetzen. Das würde allerdings nicht nur seinen Vertrauensverlust bei den japanischen Wählern beschleunigen. Es könnte auch dazu führen, dass die Okinawer ihren Kampf nicht darauf beschränken, den Bau einer neuen Basis zu stoppen, sondern alle Militäranlagen beseitigen wollen. Dann aber könnte sich die Opposition auf ganz Japan ausdehnen und womöglich gar das Bündnis mit den USA untergraben, dem Abe zu dienen glaubt.
3 Siehe Michael Klare, „Kurs auf den Pazifik“, Le Monde diplomatique, März 2012.
5 Okinawa Times, 25. Dezember 2014.
6 Experten schätzen, dass die japanischen Zahlungen seit 2012 bei etwa 8,6 Milliarden Dollar liegen.
7 The Japan Times, Tokio, 2. Mai 2015.
8 Siehe Ryukyu Shimpo (englische Ausgabe), 23. Juli 2015.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Gavan McCormack ist emeritierter Professor der Australian National University.