Tupaias Karte
Die polynesische Kunst der Navigation
von Lars Eckstein und Anja Schwarz
Anders als oft behauptet, hat sich die globale Ordnung, wie wir sie heute kennen, nicht in den Metropolen Europas entwickelt und von dort aus durch Kolonialismus und Handel ausgebreitet. Im Grunde war es umgekehrt: Die Grundlagen der Moderne entstanden außerhalb Europas und wurden erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts importiert. Sie wurden weniger in Madrid, Paris oder London ausgehandelt als auf den unzähligen Schiffen, die die Ozeane kreuzten: Hier begegneten sich, oft gewaltsam, die verschiedensten Menschen und Dinge, Wissenssysteme und Weltanschauungen. Auf Schiffen wurde die massenhafte Migration und Entrechtung von Arbeitern erprobt; sie wurden getragen von Börsenhandel, Versicherungen oder Banken und waren Auslöser der ersten globalen Finanzkrisen; die karibischen Zuckermühlen, die sie versorgten, waren die Vorläufer industrieller Massenproduktion; und die atlantischen Sklavenaufstände und Revolutionen waren die ersten Rebellionen gegen ein sich etablierendes bürgerlich-kapitalistisches Weltsystem.
Dieses System sollte die Welt nicht nur geopolitisch verändern. Es etablierte auch eine neue, weltweit Gültigkeit beanspruchende Wissensordnung, mit der Konsequenz, dass der Westen die kolonialen Ursprünge und außereuropäischen Einflüsse seiner Moderne weitgehend abstreiten und vergessen konnte. Seinen Ausgang nimmt diese Ordnung in der Aufklärung, in der das bürgerlich-freiheitliche Subjekt zum universellen Maßstab der Erkenntnis wird. Konkurrierende Ordnungen von Wissen gerieten fortan entweder in Abhängigkeit zum neuen europäischen Standard oder sie wurden verdrängt. Wie solches Wissen in Vergessenheit geriet, lässt sich am Beispiel von Tupaias Karte illustrieren, die 1769 auf James Cooks erster Reise auf der „Endeavour“1 entstand, irgendwo im Südpazifik zwischen Tahiti und Aotearoa/Neuseeland.
Tupaia entstammte einer Familie von Meisterseglern und Priestern aus Raiatea in den Gesellschaftsinseln. Er lernte das rituelle Wissen pazifischer Navigationskunst und wurde in die einflussreiche Geheimgesellschaft der Arioi initiiert, die den Gott Oro verehrte, den der Legende nach in Raiatea geborenen Sohn des Meeresgotts Ta’aroa. Nachdem 1760 Krieger aus Bora Bora Raiatea erobert hatten, floh Tupaia mit Kultgegenständen der Arioi nach Tahiti, wo er zu einem wichtigen Vermittler wurde, als der britische Entdecker Samuel Wallis 1767 Tahiti erreichte.
Während des viermonatigen Aufenthalts der „Endeavour“ diskutierte er mit dem jungen Naturforscher Joseph Banks über polynesische Navigationskunst und tahitianische Gebräuche, ließ sich von Captain Cook und Leutnant Pickersgill das Schiff erklären und übte sich mit dem Maler Sydney Parkinson im Gebrauch von Wasserfarben. Er bat schließlich darum, die „Endeavour“ auf der Weiterreise nach Europa begleiten zu dürfen. In den folgenden Monaten leistete er der Expedition unverzichtbare Dienste. Cook überließ ihm bei der Erkundung der Gesellschaftsinseln vier Wochen lang die Navigation seines Schiffs. Tupaia trat als geschickter Mittler und Übersetzer auf, zuletzt bei den Maori in Neuseeland. Erst in Australien versagten seine Kenntnisse, er polarisierte zunehmend an Bord und starb in Batavia an einem Infekt, ohne Europa je erreicht zu haben. Und doch eröffnete Tupaia den Europäern Welten – denn der ihnen bekannte Pazifik beschränkte sich 1769 auf Tahiti und ein paar Nachbarinseln. Tupaia hingegen beschrieb Cook knapp 130 Inseln in einer Region von der Größe des Nordatlantiks, von denen er eine Vielzahl selbst bereist hatte – 74 davon zeichnete er in eine Karte ein.
Tupaias Karte ist in drei Versionen überliefert: Eine Skizze mit nur 58 Inseln, die Pickersgill besaß, findet sich als annotierte Kopie in den Briefen Georg Forsters, der mit seinem Vater Johann Reinhold Cooks zweite Pazifikreise auf der „Resolution“ begleitete. Eine vermutlich exakte Kopie der verlorenen Karte Cooks mit 74 Inseln ist im Nachlass von Joseph Banks erhalten. Und schließlich ließ Johann Reinhold Forster 1778 auf Basis der ersten beiden eine dritte Karte mit 79 Inseln in Kupfer stechen. Sie ist die bis heute bekannteste Version, jedoch gegenüber den Skizzen, die auf der „Endeavour“ entstanden, signifikant anders: Denn Johann Reinhold Forster unterlegte Tupaias Karte mit Längen- und Breitengraden und „korrigierte“ darin die Position der ihm bekannten Archipele. In der Konsequenz zerrte er beide Vorlagen entlang der Ost-West-Achse deutlich in die Länge.2
Wellen und Flugrouten von Seevögeln lesen
Forster steht damit am Beginn einer langen Tradition europäischer Wissenschaftler, die versucht haben, Tupaias Karte zu deuten. Bis in die 1980er Jahre hinein folgten fast alle seinem Prinzip: Sie passten die Karte in ein Koordinatensystem ein und versuchten darin, die von Tupaia „falsch“ verzeichneten Inseln „richtig“ zu verorten, was ihnen bei den meisten nicht einmal ansatzweise gelang. Tupaias Karte galt darum zunehmend als unbrauchbar, Tupaia selbst geriet als Hochstapler in Verruf.
Erst im Zuge der Emanzipationsbewegungen gegen die Kolonialherrschaft, die letztlich zu einer „pazifischen Renaissance“ seit den 1970er Jahren führte, setzte sich ein Paradigmenwechsel durch: Man begann zu verstehen, dass Tupaias Karte nicht nach modernen europäischen Maßstäben zu lesen ist, sondern dass sich in ihr pazifische und europäische Vorstellungen von Geografie überlagern.
Cook war auf seiner ersten Reise von 1768 bis 1771 von der Admiralität angewiesen, die Längen- und Breitengrade aller neuen Territorien zu bestimmen – doch er war dazu nur bedingt in der Lage. Die Breite war nicht das Problem, zu ihrer Bestimmung musste man lediglich den Winkel zwischen Polarstern, Beobachter und Horizont mit einem Sextanten messen, um die Entfernung zum Nord- und zum Südpol zu berechnen. Mit der Länge war es schwierig. Zwar wusste man schon lange, dass sie eine Funktion der zeitlichen Differenz zwischen zwei Orten ist – aber es gab keine Uhren, die auf hoher See verlässliche Angaben liefern konnten.
Cook rekonstruierte daher die Zeit in Greenwich durch komplexe astronomische Beobachtungen, was Stunden dauerte und nur vor Anker möglich war. Unterwegs musste er die Längenposition der „Endeavour“ mit Logleinen, Sanduhr, Kompass und Schätzungen zu Strömung und Abdrift berechnen, wobei jede Messung auf der vorhergehenden beruhte und alles von Mal zu Mal ungenauer wurde. Erst auf der zweiten Reise 1772 bis 1775, auf der ihn die Forsters begleiteten, hatte Cook ein Chronometer, das stets verlässlich auf Greenwich eingestellt war. Erst auf der „Resolution“ also schrieb sich jeder Moment der Reise in ein Netz von Koordinaten ein, das sich aus dem Herzen des britischen Empires um die ganze Welt spannte.
Vielleicht ist das der Grund, warum Cook Tupaia einen Monat lang die Navigation seines Schiffs überließ, und warum das gemeinsame Projekt einer Karte des Südpazifiks überhaupt gelingen konnte: Die polynesische Kunst der Navigation beruhte geradezu auf einer Umkehr der Vorstellung, dass sich der Reisende in einer statischen, objektiv und abstrakt vermessenen Welt bewegt. Pazifische Wayfinding‑Systeme wie Etak oder Star Compass tendieren im Gegenteil dazu, Reisende kognitiv zu fixieren und stattdessen eine Umwelt beweglicher Archipele zu dynamisieren – Inseln, die sich auf den Reisenden zubewegen und nicht umgekehrt. Meisternavigatoren orientierten sich stets neu, lasen Strömungen, Winde, Wellen, Riffe, Flugrouten von Seevögeln und zogen astronomische Konstellationen als Peilungshilfen heran.3
Die Meereswissenschaftler Anne di Piazza und Erik Pearthree konnten vor wenigen Jahren als Erste nachweisen, dass Tupaia genuin pazifische Vorstellungen nautischer Orientierung in Cooks Vorgaben einer zweidimensionalen Karte übersetzte: Wenn man die Vorstellung einer objektiven, kartesischen Orientierung verlässt und stattdessen rituell wichtige Orte (Raiatea, Tahiti, Mehetia, Pukapuka, Savaii) als subjektive Zentren akzeptiert, von denen aus verschiedene Zielinseln angepeilt werden, lässt sich tatsächlich die Position der meisten verzeichneten Inseln erklären.4
Tupaias Karte und ihre Rezeption stehen exemplarisch dafür, dass sich Dekolonisierung auch mit der Geopolitik des Wissens befassen muss und es darauf ankommt, fremde Erkenntnisformen anzuerkennen wie auch das vermeintlich objektive eigene Wissen kritisch zu historisieren. Und sie zeigt, wie schwierig es ist, zwei verschiedene Erkenntnissysteme in einer Darstellungsform abzubilden. Eine wirkliche Dekolonisierung der Wissenschaften bedeutet daher auch, Räume zu suchen oder zu schaffen, in denen sich Wissensformen produktiv begegnen können. Wissen dekolonisieren heißt, Tupaia erneut die Navigation der „Endeavour“ zu überlassen, um zwischen Gesellschaftsinseln zu übersetzen.
4 Siehe: www.captaincooksociety.com/home/detail/history-of-an-idea-about-tupaia-s-chart.
Lars Eckstein ist Professor für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Universität Potsdam. Anja Schwarz ist Juniorprofessorin für Cultural Studies Großbritanniens an der Universität Potsdam.
© Le Monde diplomatique, Berlin