Guadeloupes kämpferische Gewerkschaften
Der Klassenfeind ist kein Sozialpartner von François Ruffin
Olivier Méri spricht von Klassenkampf und Massenaktion. Mit seiner Tochter auf dem Schoß, den Mund voller Guavensorbet. In Europa sind diese Begriffe längst aus der Mode, nicht aber hier, am Rand des Mangrovenwalds. Und nicht heute, an diesem Sonnabend im August, wo die Feuerwehrleute am Flughafen ihren Sieg feiern. Zwölf Stunden lang, von Mittag bis Mitternacht, dröhnt die Musik, und es gibt landestypische Gerichte (Chayotegratin, kreolischen Reis und Mangos, so viel man will) als Belohnung für einen sechsmonatigen Streik, der begleitet wurde von einer Besetzung der Industrie- und Handelskammer, Klagen vor dem Verwaltungsgericht und der Vermittlung durch den Präfekten.
„Am Anfang hatten wir fast nichts, stimmt’s?“ Olivier dreht sich zu seinem „Mentor“ Eddy Damas um. Damas ist Angestellter von France Télécom und Funktionär der Gewerkschaft Union générale des travailleurs guadeloupéens (UGTG). „2006 gab mir der Gewerkschaftsrat den Auftrag, die Organisation in den Betrieben am Flughafen auf Vordermann zu bringen. Der Flughafen ist ein strategischer Punkt, aber dort passierte gar nichts. Bei den Feuerwehrleuten hatten sie einen einzigen Gewerkschafter. Nach vielen Versammlungen, Umfragen und Flugblattaktionen sind heute 17 von 32 Mitarbeitern in der Gewerkschaft.“
„Sind Flugblattaktionen für euch so wichtig?“ „Absolut! Wenn du irgendein Papier verteilst, ist der Inhalt fast unwichtig. Aber durch den Händedruck, durch das Reden kannst du die Leute allmählich überzeugen. So verbreiten sich unsere Ideen in der Gesellschaft. Vor allem wenn du dabei dein UGTG-Hemd trägst. Du misst die Temperatur, und manchmal merkst du, dass die Leute heiß sind.“
Während wir eine Chocolat martiniquais trinken, geht Méri zur Tanzfläche. „Eins-zwei, eins-zwei“, testet er das Mikro. „Kommt ran, Genossen, kommt ran!“ Die Musik geht aus, die Lichtspots auch, und die „Genossen“ kommen, gefolgt von ihren Frauen und Kindern. Vor einer improvisierten Leinwand hält der junge Delegierte der UGTG einen Diavortrag: „Wir wurden alle von der Polizei gesucht, deshalb haben wir bei Freunden geschlafen. Wir haben uns im Wald versteckt – alle Geheimnisse werden wir euch nicht verraten! Wir haben es so gemacht wie die Sklaven: Wir sind verwildert.“ Auf dem nächsten Dia sieht man einen umgestürzten Lastwagen. „Niemand weiß, warum, aber was für ein Zufall, direkt vor der Handelskammer.“ Lachen ertönt. So ging es bis zur abschließenden Verhandlungsrunde, bei der für über Jahre unbezahlte Überstunden „zwischen 17 000 und 25 000 Euro netto“ herausgekommen sind. Und wem ist das zu verdanken? „Ich rufe Eddy Damas, Gewerkschaftsrat der UGTG.“ Unter Applaus bekommt er eine Eurogold-Uhr überreicht. Ebenso wie Liliane Gaschet von der Union nationale des syndicats autonomes (Unsa, Nationale Union der autonomen Gewerkschaften) und Fred Pausiclès von Force ouvrière (FO, Arbeitermacht, französische Gewerkschaft).
Nach der kurzen Zeremonie spucken die hohen Lautsprecher wieder ihre Dezibel aus. „Wir machen Sachen, von denen wir immer geträumt haben“, brüllt Pausiclès. „Wenn man früher sagte, man gehört zur FO, hieß es immer: ‚Ach so, die Arbeitgebergewerkschaft‘.“ Wir gehen raus, um den dröhnenden Boxen zu entkommen. Obwohl wir dann die Moskitoschwärme mit unserem Blut versorgen.
Erst blockieren, dann verhandeln
„Aber die treibende Kraft dieser Bewegung ist doch die UGTG, oder nicht?“ „Ja, aber die UGTG ist eine ganz spezielle Gewerkschaft!“, schwärmt der FO-Funktionär, Beamter im Verteidigungsministerium. Speziell nicht aufgrund der Mitgliederzahl, der Farbe ihrer Fahne oder ihres Vorsitzenden, sondern wegen ihres Arbeitsweise. „Wir sagen dem Chef höflich ‚guten Tag‘, wir schreiben einen Brief, einen zweiten, einen dritten, keine Reaktion. Für die von der UGTG zählt nur eins, wenn ein Problem gelöst werden muss: das Kräfteverhältnis.“ Da gibt es eine klare Ansage: „Erst wird blockiert, danach verhandelt.“ Seit ihrer Gründung durch eine Hand voll überzeugter Leute, Nationalisten, hat sie unglaubliche Erfolge erzielt. Nicht nur an den Wahlurnen. In Problembereichen wie dem Zuckerrohranbau, wo die Arbeiter nur drei Viertel des gesetzlichen Mindestlohn verdienten, haben sie mit einem Schlag 30 Prozent mehr herausgeholt. „Das bleibt hängen“, sagt Pausiclès. „Wenn die zu einem Boss sagen: ‚Sie werden kapitulieren‘, dann kapituliert er auch. Sonst hat er den Chef der Gewerkschaft mit einer Verstärkeranlage vor seinem Gartenzaun, wenn er nach Hause kommt. Der hilft ihm beim Einschlafen. Und wenn der Boss am nächsten Tag einkaufen geht, folgt ihm der Gewerkschafter durch die Gänge im Supermarkt. Er geht zur Messe? Der Gewerkschafter winkt ihm von der Nebenbank. Zu einem Bankett? Da ist er sein Tischnachbar.“
Die Geschichte klingt ziemlich nach einer Legende. „Fragen Sie den Chef von Orange Caraïbes, ob es eine Legende ist! Für ihn war es ein Albtraum! Außerdem ist diese mächtige, entschlossene Gewerkschaft so schlau, sich die richtigen Verbündeten zu suchen: Im Dezember und auch schon vorher wollte sie, dass wir zusammenarbeiten. Das Zugpferd sind natürlich sie.“
Mit von Mückenstichen geschwollenen Füßen gehen wir wieder zurück zum Fest. Auf Plastiktellern wartet gegrillter Red Snapper. Eine Frage ist offen geblieben: Wie haben sich die FO mit ihrem Vorsitzenden Jean-Claude Mailly während der langen Auseinandersetzung verhalten, die Guadeloupe seit dem 20. Januar 2009 gelähmt hat?1 Pausiclès lächelt. „Der Vorstand in Frankreich hat dauernd bei uns angerufen. Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten wir uns aus allem rausgehalten. ‚Das bringt nichts‘, ‚Ihr kriegt nie 200 Euro‘, ‚Das geht jetzt doch schon zwanzig Tage‘ … So was bekamen wir zu hören. Nicht sehr aufmunternd. Wir waren kein Vorbild.“
Ähnliches lässt sich auch von den anderen Gewerkschaften sagen. „Sie kämpfen um Plätze in irgendwelchen Ausschüssen, im Wirtschafts- und Sozialrat (CES), in allen regionalen CES, stehen also eher dem Establishment nahe. Ihre Finanzen hängen immer mehr von staatlichen Zuschüssen ab. Das macht sie nicht gerade kämpferisch.“
Als im Dezember 2008 der Vulkan in Guadeloupe bereits grollte, wurde das Überseedepartement in der französischen Presse lediglich wegen seiner „karibischen Autoren“2 erwähnt. Selbst die linke Presse hatte außer „Musik aus der Karibik“3 nichts zu berichten. Einen Monat später las man die Abkürzung LKP – Lyannaj Kont Pwofytasyon (Komitee gegen die Ausbeutung) – in wirklich jeder Zeitung – da waren die Auseinandersetzungen in Guadeloupe schon in vollem Gange. Die drei Buchstaben waren sogar bei den Kundgebungen in Frankreich zu hören. „Was ist ihr Geheimrezept?“, fragte man sich. „Ist es die Wärme auf den Inseln? Sind es die überhöhten Preise? Oder die charismatischen Anführer?“
In den Medien tauchte „das Ereignis“ wie üblich aus dem Nichts auf und hielt sich so lange, bis eine andere Neuigkeit den „Zorn“ in der fernen Provinz aus den Nachrichten verdrängte. In der militanten Linken verbreitete sich die Hoffnung, die Krise würde zwangsläufig in einen Aufstand münden. Die Menge würde sich spontan organisieren. Man müsse nur abwarten, und die mehr als reife, eigentlich bereits verfaulte Frucht des Liberalismus falle von selbst vom Baum. Die „Bewegung“ auf den Antillen wurde an diesem Glauben gemessen, der natürlich ein Körnchen Wahrheit enthält: Wenn das Volk in die Weltgeschichte eingreift, wie im Juli 1789, im Februar 1917 oder im November 1989, gibt es daran immer auch etwas Unerklärliches. Das darf aber nicht die andere, die alltägliche Geschichte verdecken, die sich im Dunkeln abspielt, die eifrige, schlichte Arbeit von Menschen, die Schritt für Schritt eine Organisation aufbauen, geduldig für ihre Sache werben, die Maschen ihrer Netze knüpfen und Allianzen schmieden, mit denen am Ende die Voraussetzungen für das Wunder geschaffen werden. In Guadeloupe war es die Gewerkschaft UGTG, die das rebellische LKP ermöglicht hat.
Pwofitasyon heißt Ausbeutung
„Sé silon jan ou bityé ou kapab rékolté saw planté“ lautete das Motto der UGTG bei ihrem Kongress 2008, ein auf Kreolisch abgewandeltes Zitat aus der Bibel: „Wir werden ernten, was wir gesät haben.“ Und im LKP erkennt man zahlreiche Pflänzchen, die lange zuvor gesät wurden: Schon 1997 geißelte die UGTG auf T-Shirts, Plakaten und Flugblättern die „pwofitasyon“ (Ausbeutung), ein Losungswort, das wie eine literarische Erfindung „von unten“ wirkt. Die Erfahrung, die die Gewerkschafter als unerschrockene Streikposten erworben hatten, kam zum Einsatz, als Straßensperren errichtet und bewacht werden mussten. Auch im Verbarrikadieren von Geschäften war man trainiert: An jedem 26. Mai schlossen Demonstranten gewaltsam die Läden von Pointe-à-Pitre. Diese Tradition galt dem Gedenken an den Tag, als Victor Schoelcher 1848 die Abschaffung der Sklaverei durchsetzte. 2003 wurde der 26. Mai endlich zum Feiertag erklärt.
Basisarbeit. Flugblätter. Wenn nötig auch Muskelkraft. Kein „Geheimrezept“. Wenn man in Guadeloupe Fragen zum letzten Winter stellt, rennt man offene Türen ein. Was hier selbstverständlich scheint, ist es für uns schon lange nicht mehr: Gewerkschaftsarbeit als „Kampf“.
Verhandlungen sind unverzichtbar, ihr Ergebnis hängt aber von den „Kräfteverhältnissen“ ab. Der „Klassenfeind“ ist kein „Sozialpartner“. Wenn man dazu noch die Forderung nach „Unabhängigkeit“ nimmt, hat man die Grundzüge der Politik der UGTG. Mit so einfachen Rezepten hat sie Anhänger gewonnen: Im Dezember 2008 erzielte die UGTG mit 52 Prozent die Mehrheit bei den Sozialwahlen.4 Zwei Tage nach diesem Erfolg folgten die anderen Gewerkschaften und Vereine ihrem Aufruf und trafen sich, um eine erste Kundgebung zu planen.
Der Gewerkschafter Louis Théodore ist, wie seine Freunde mit einem Grinsen erzählen, „Landbesitzer“ geworden. Er baut vor allem Flaschenananas an, eine Sorte für den Binnenmarkt. Im Hof halten Jeeps und Lieferwagen, sie bringen eine Tasche, einen Schlüssel, viele Pakete. Das Mobiltelefon klingelt immer wieder, Geschäfte werden besprochen.
Nachdem er in Frankreich Philosophie studiert und beim Militärdienst mehrere Strafen kassiert hatte, nachdem er Mao Tse-tung in Peking, Che Guevara in Santiago und Ben Barka in Algier begegnet war, nachdem er in Kuba Bäume gepflanzt und vieles mehr getan hatte, kehrte Théodore in den 1960er-Jahren in seine Heimat Guadeloupe zurück. „Damals wurde die Groupe d’organisation nationale de Guadeloupe (Gong) gegründet. Es war die Zeit, als wir – nach Algerien, Marokko, Tunesien und Schwarzafrika – an die Emanzipation glaubten. Der Streik der Bauarbeiter im Mai 1967 stand in diesem Zusammenhang, aber er wurde sofort unterdrückt.“ Es gab mehr als hundert Tote. Der Erste, den die französische Armee erschoss, war Jacques Nestor, wie viele andere spätere Opfer ein Aktivist der Gong. Auch in Frankreich (in Bordeaux) gab es Verhaftungen. „Sie haben uns gesucht, aber wir waren auf alles vorbereitet: Wir gingen in die Illegalität. Für mich wurden das acht Jahre. “ Aus dieser Zeit im Untergrund hat Théodore seinen Decknamen behalten: „Genosse Jean“.
Eine Eidechse flitzt über die Mauer und flüchtet sich hinter eine Melonenkiste. „Wir haben unsere Toten begraben. Wir haben die inhaftierten Kämpfer verteidigt. Und dann haben wir Bilanz gezogen: Was tun nach dieser Niederlage? Wir haben begriffen, dass man sich nicht auf die Politik beschränken darf, wenn man das Volk aufklären will, sondern man muss sie mit der Wirtschaft, der Kultur und der Gewerkschaftsarbeit verbinden. Schließlich kämpft kein Volk für Ideen, die nur in den Köpfen von ein paar Intellektuellen herumschwirren. Wir mussten lernen, die Sehnsüchte unseres Volks zu begreifen. Und dass der Kampf lange dauern würde. Zwei Jahrhunderte Sklaverei haben zwar eine regionale Musik, eine Sprache, eine Küche hervorgebracht, aber Guadeloupe hat keine Geschichte, es war ja niemals unabhängig“, erzählt uns „Genosse Jean“. „Wir mussten also ganz behutsam kleine Siege sammeln, Schritte hin zur Autonomie. Wir haben uns in Sainte-Rose niedergelassen, mitten in den Zuckerrohrfeldern.“
Die Basisarbeit begann, ein erster zarter Faden wurde geknüpft. „Ein Junge, der Theater spielte, brachte uns zu seinem Vater.“ Der hatte in vielen Fabriken gearbeitet und hegte Sympathien für den Kommunismus. „Wir trafen ihn oft am Abend.“ Der Faden wurde zu einem dickeren Strang. „Er hat uns dann zu Freunden gebracht, und während wir zusammen im Garten gearbeitet haben, haben wir miteinander geredet und viel gelernt.“ Ein Fragebogen wurde erarbeitet. Mit dem Tonbandgerät wurden drei Monate lange Informationen gesammelt. „Schließlich haben wir mit drei-, vierhundert Bauern einen Neuanfang gemacht. Wir haben ihnen gesagt: ‚Als wir zu euch gekommen sind, wussten wir gar nichts. Ihr seid unsere Lehrer. Wir werden alles aufschreiben, und dann sagt ihr uns, ob ihr euch gemeinsam organisieren wollt. Wir werden es nicht an eurer Stelle tun, aber wir werden euch unterstützen.‘ Sie waren richtig begeistert, weil wir wirklich verstanden hatten.“
Ein Beispiel aus dem Leben der Bauern: Die Zuckerrohrschneider wurden im Akkord bezahlt, sie mussten am Tag 417 Bündel schneiden, jedes mit zwölf Stück Zuckerrohr. 400 Bündel waren ihre Tagesnorm, die 17 zusätzlichen waren für ihre Hütte. „Die Abschaffung dieser Zusatzabgabe war eine unserer ersten Forderungen, neben der Lohngleichheit für Land- und Industriearbeiter. Und wir haben sie durchgesetzt.“ Trotz des Mordes an einem Gewerkschaftsführer erzielten die Bauern- und die Landarbeitergewerkschaft (UPG, Union paysanne de Gouadeloupe, und UTA, Union des travailleurs agricoles) gemeinsam beachtliche Erfolge: beim Mindestlohn, beim Anteil an der Ernte, den die Grundbesitzer ihnen überließen, beim Besitz von Grund und Boden. „Mit unserem Stil, mit unserem freien Umgangston, mit der kreolischen Sprache haben wir uns auf der ganzen Insel verständlich gemacht. Das war auch unsere Methode: Erstens: Informationen sammeln. Zweitens: durch Massenaktionen mit möglichst vielen Beteiligten das Kräfteverhältnis ändern. Drittens: Maß halten. Nicht sofort zu weit, nicht gleich bis zum Ende gehen wollen, erst mal Erfolge sammeln.“ Damit die Landarbeiter Vertrauen in die Organisationen gewinnen konnten und ihr Bewusstsein geschärft wurde. Auf diesem Fundament wurde 1973 dann die UGTG gegründet.
Das ist keine neuartige oder überraschende Geschichte: Jede Organisation erlebt vor allem in ihrer Anfangszeit heroische und schwierige Stunden. Und Begriffe wie „Massen“, „Arbeiter“, „Bewusstsein“ gehören zu dieser Epoche, als sich in der Dritten Welt ebenso wie im Westen der Sozialismus ausbreitete –, vor allem in den Köpfen. Erstaunlich ist, wie treu die UGTG dieser Geschichte geblieben ist, bis in die Wortwahl hinein – sie weder verleugnet noch relativiert.
Im Kofferraum des kleinen Renault von Eddy Damas liegt eine Broschüre mit dem Titel „Beschluss der Kommission: ‚Organisation, Stil und Arbeitsmethoden‘, Dezember 1975. Neuausgabe für die UGTG – Februar 2005“. Die Rhetorik darin ist kraftvoll, um nicht zu sagen bedrohlich: „Die UGTG ist keine Organisation, die Gewerkschaftsausweise verkauft, die UGTG ist eine Kampforganisation der Arbeiterklasse … Die UGTG braucht entschlossene Führer, die handeln und fähig sind, andere in den Kampf zu führen. Die UGTG braucht keine Schwätzer, die den ganzen Tag das Arbeitsgesetzbuch herunterbeten, auch keine Bürokraten, die unfähig sind, sich mit den Massen zu verbünden … Das Volk, nur das Volk ist die treibende Kraft und der Schöpfer der universellen Geschichte. Wir kämpfen für die Interessen der großen Mehrheit, nicht für eine Minderheit …“
Auch das war 1975 nicht überraschend. Wohl aber, dass so ein Text 2005, ohne Ergänzung, ohne Erklärungen neu aufgelegt wurde. Dass Damas ohne zu erröten „Unklarheiten“ zugibt, aber trotzdem erklärt: „Dieses Dokument ist die Grundlage für unseren Unterricht“, und das nach dreißig Jahren. Man muss sich nur vorstellen, die heutigen europäischen Gewerkschaften würden die Anträge ihrer früheren Kongresse neu auflegen, die voll waren mit Kampfbegriffen, während die aktuellen Dokumente nicht mal mehr von „Arbeitern“ oder „Werktätigen“ sprechen.
„Wir haben unseren Abstieg in die Hölle lange heruntergespielt, weil wir bei den Sozialwahlen immer die Mehrheit hatten.“ Im Büro der CGT5 in Pointe-à-Pitre paradiert auf einem LCI-Bildschirm eine Polizeikapelle. Generalsekretär Jean-Marie Nomertin macht den Fernseher aus. „1997 ist die UGTG zum ersten Mal bei den Wahlen angetreten. Sie hat uns eine Schlappe verpasst. Kein Zweifel. Eine haushohe Niederlage. Wir mussten uns entweder grundsätzlich infrage stellen, oder unsere Gewerkschaft würde verschwinden.“ Nomertin erkennt an, dass es „keine Wunder gibt“: „Um anerkannt zu werden, muss man vor Ort sein. Das hatte die CGT-Guadeloupe zehn Jahre lang versäumt. Junge Genossen wie ich haben dann damit wieder angefangen, in den Betrieben, bei den Arbeitern. Wir haben Arbeitskämpfe geführt und auch Erfolge erzielt, bei der Post, in der Baustoffbranche, auf den Bananenplantagen, wo wir zum Beispiel 4 000 Francs Jahresprämie durchgesetzt haben.“
Die Verbindungen der CGTG zu anderen Organisationen wurden gestärkt: Als sie im Dezember 2003 einen dreimonatigen Streik in den Banken organisierte, wurde sie von der UGTG mit 4 500 Demonstranten unterstützt. „Das ‚lyannaj‘, das Zusammengehen, vollzieht sich für uns seit zehn Jahren.“ Die Rückkehr „an die Basis“ hat sich ausgezahlt: „Der Mitgliederschwund war schon gebremst, es gab erste Neueintritte. Und dann hat sich unsere Mitgliederzahl in sechs Monaten verdoppelt.“ An der Seite der UGTG, der größten beteiligten Gruppe, stürzte sich die gesamte Gewerkschaftsbewegung in den Kampf.
„Sogar wir, die Force ouvrière, und das will was heißen!“, stellt FO-Regionalsekretär Max Evariste lachend fest. Er amüsiert sich so, als wäre ihm mit dem 44-tägigen Streik ein toller Witz gelungen. „Wir galten quasi als bewaffneter Arm der Arbeitgeber. Und das gefiel uns nicht. Mein Vorgänger stand weit rechts, er war immer an der Seite der Abgeordneten und des Arbeitgeberverbands.“ Nach seiner Wahl blieb Evariste ein paar Jahre brav. „Doch dann sah ich plötzlich, wie die UGTG die Sozialwahlen sprengte, und ich dachte: Ich bin jung, ich habe Lust zu kämpfen, warum sollten wir nicht auch mitmachen?“
Zum 1. Mai 2005 schloss sich die FO der gemeinsamen Demonstration an, man warf ihr prompt „Verrat“ vor. „Die anderen Gewerkschaften haben uns sofort mit offenen Armen begrüßt, ohne Groll, ohne Vorwurf, sie haben uns einen guten Platz angeboten, während wir uns noch mit unserer Vergangenheit herumschlagen mussten.“ Schon vor dem Mai 2005 hatte es bei Général Bricolage einen Streik gegeben. Das Geschäft gehört einem Béké, einem Mitglied der weißen herrschenden Klasse: Bernard Hayot kontrolliert den Großhandel auf der Insel. „Wir haben tatkräftige Unterstützung von der UGTG und der CGTG bekommen. Weil wir von der FO so was wie ‚Aktivisten auf Pfennigabsätzen‘ sind, sag ich immer, das ist alles nur Mädchenkram, keine Demos, Streikposten, Flugblattaktionen. Manche sagen ganz direkt: ‚Ich zahle meinen Beitrag und will meine Ruhe!‘ Bei der UGTG oder der CGTG geht es ganz anders zu: Die Mitglieder kommen, wenn was los ist. Und wenn die Funktionäre nicht kommen, fliegen sie raus.“
Evariste lächelt, freut sich auf sein Paradox: „Trotz unserer Schwächen existiert das LKP dank uns! O ja. Die Arbeitgeber haben gesagt: ‚Wenn sich auch noch die FO mit ihnen verbündet, dann …‘ In gewisser Hinsicht waren wir also schuld, dass die Bewegung, das LKP, nicht vorher entstand: Wir waren ja die Spalter. Und wenn es jetzt läuft, dann ist es uns zu verdanken!“ Er lacht fröhlich. FO-Gründer Léon Jouhaux6 schaut derweil nicht gerade belustigt von seinem Schwarzweißposter auf uns herab.
Nichts ersetzt die Arbeit an der Basis
So entstand also in den Kämpfen und Kundgebungen eine Vertrautheit an der Basis und Nähe in der Führung. Unter den Funktionären, die alle einer neuen Generation angehören, war das Lyannaj schon beschlossene Sache. Und die Gewerkschaften wollten sich nicht versammeln, um sich zu versammeln, und nicht überlegen, nur um zu überlegen. Sie hatten eine gemeinsame Grundlage gefunden: „Kampf“, „Basis“, „Kräfteverhältnis“. Und einen Anführer. „Domota sétan nou!“ Sein Name steht auf den Straßen, den Verkehrsschildern, „Domota gehört uns!“ Gegen das „Domota facho!“ im Industriegebiet (ohne Industrie) von Jarry, Béké-Gebiet, wo die französischen Banken, das Caribean World Trade Center und die gigantischen Supermärkte zu Hause sind.
Kindergeschrei ertönt: In der ersten Etage des Gebäudes befindet sich eine Kinderarztpraxis. In der zweiten die schlichten Räume der UGTG und das Büro ihres Chefs Elie Domota. „Wenn ich schon höre, man müsse den Kapitalismus zähmen! Wir sind die Kinder der Sklaverei, der barbarischsten Form des Kapitalismus. Sie haben getötet, aufgehängt, verbrannt, haben Hände, Beine, Köpfe abgeschnitten, nur für den Profit. Wie wollen sie uns jetzt einreden, der Löwe will nur noch Gras fressen?“
Kein Computer im Zimmer. Flugblätter. „Nichts ersetzt die Arbeit an der Basis. Am wenigsten irgendwelche Umfragen. Zwischen dem 17. Dezember und dem 20. Januar, als der Generalstreik anfing, sind wir mit Flugblättern durch ganz Guadeloupe gefahren und haben Meetings abgehalten. Wir waren überall: Sonnabend am Kreisverkehr vor dem Supermarkt, Sonntag nach der Messe vor der Kirche, Allerheiligen vor dem Friedhof. Und während des Radrennens durch Guadeloupe an den Etappenzielen. Man muss immer an die Basis zurückgehen, den Austausch lebendig halten. Die Gewerkschaftsfunktionäre haben vielleicht eine Vision, aber nur das Volk kann sie annehmen oder ablehnen.“
Während der Verhandlungen mit dem LKP hatte der Präfekt des Departements versucht zu tricksen – schon vor Abschluss des Abkommens kündigte er die Wiederaufnahme des Unterrichts an den Schulen an. „Wir haben darüber diskutiert, und ein Kollege war zu diesem Zugeständnis bereit. Wir seien doch auf dem guten Weg.“ Die UGTG wollte den Druck natürlich bis zum Schluss aufrechterhalten, die Schulen sollten noch nicht wieder aufmachen. „Wir haben dem Kollegen gesagt: Wenn du nicht überzeugt bist, geh raus und sag es ihnen. Er ist rausgegangen. Angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit kam er zurück. ‚Okay, ihr habt recht, ich hab’s begriffen.‘ Wenn die Basis nicht mitzieht, hat die Leitung etwas falsch gemacht.“
Die Presse lobt Domota und seine „Persönlichkeit“ mit zwiespältigen Worten: „sehr charismatisch“, „intelligent“, „durchtrieben“. Mag sein. Mag aber auch sein, dass seine Fähigkeiten einfach seine Organisation und das „Bewusstsein“ ihrer Mitglieder widerspiegeln.
Am Abend nach dem Treffen mit Domota, am 30. Juli 2009, zappten wir auf den Nachrichtensender i-télévision. Zu sehen war ein Bericht über die entlassene Belegschaft des insolventen Autozulieferers New Fabris, die drohte, ihre Fabrik mit Gasflaschen in die Luft zu jagen, falls sie keine Abfindung bekämen. Sie hatte Arbeiter von Continental, Aubade und Renault in das Werk eingeladen, und die Kollegen kamen auch. Der Bericht vermerkte, dass „allerdings kein nationaler Gewerkschaftsfunktionär anwesend war“.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
François Ruffin ist Journalist.