Wo ist der Strand von Wladiwostok?
Spekulation und Niedergang in Russisch-Fernost von Jean Sabaté
Wladiwostok ist wahrlich geplagt. Und das schon durch seine geografische Lage: Die 600 000-Einwohner-Stadt – in der die Transsibirische Eisenbahn endet – liegt am Südende einer 30 Kilometer langen Halbinsel, die nur durch zwei Straßen erschlossen ist: die eine zweispurig, kurvenreich und mit gewaltigen Schlaglöchern übersät; die andere vierspurig und dennoch ständig verstopft. Die Staus sind hier schlimmer als in Moskau, wozu einiges gehört.
Und doch ist in dieser zerklüfteten Küstenlandschaft die Mythologie allgegenwärtig: Die Bucht von Wladiwostok (halb Militär-, halb Handelshafen) hat den Namen „Solotoi Rog“; das heißt „Goldenes Horn“ und soll an Istanbul erinnern. Die kleinen Buchten sind nach Diomedes, Odysseus, Ajax und Patroklos benannt.
Wladiwostok ist eine faszinierende, aber auch sehr enge Stadt. Fast das ganze Ufer ist mit Hafenanlagen überbaut – Zutritt verboten. Im Zentrum gibt es zwar einen 300 Meter langen Strand und auch an wenigen anderen Stellen hat man Zutritt zum Wasser, aber der Anblick ist so trostlos, dass er an ein süditalienisches Industriegebiet erinnert.
Eine weitere große Plage ist die rasante Motorisierung. Angeblich hat die Stadt mehr Pkws als Einwohner, und wenn man einmal dort war, kann man das glatt glauben. Ein ähnliches Verkehrschaos wird man selten erleben. Dass 99,9 Prozent der Autos Rechtslenker sind, obwohl Rechtsverkehr gilt, scheint niemanden sonderlich zu stören. Wie in vielen russischen Städten haben die Stadtplaner die massenhafte „Automobilisierung“ nicht vorausgesehen – geschweige denn die Straßenplanung an diese Entwicklung angepasst.
Die nächste Plage ist die maßlose Korruption. Die Stadt und die ganze Küstenprovinz (Primorski Krai) stehen in dem Ruf, eine der korruptesten Regionen von ganz Russland zu sein. Vor Ort hat man den Eindruck, dass die Stadtverwaltung in den letzten Jahren vorwiegend damit beschäftigt war, mit Immobilien zu spekulieren, statt sich um die Instandsetzung der Bürgersteige oder die Modernisierung des Wasserwerks und der Kanalisation zu kümmern.
Das Ergebnis macht den Besucher fassungslos: Häuser, Straßen, Schienen – alles in einem erbärmlichen Zustand. Auf den ersten Blick kann man sich kaum vorstellen, dass über diese verbogenen Gleise und Weichen überhaupt noch eine Straßenbahn fahren kann. Im Stadtzentrum müsste ein ganzes Viertel dringend saniert werden. Es wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert gebaut, und man kann diese verlorene Welt noch einmal heraufbeschwören, wenn man in dem kleinen Buch des russisch-französischen Journalisten und Abenteurers Joseph Kessel liest, der sich 1919 in Wladiwostok aufhielt.1 Vom alten Chinesenviertel, festgehalten in Fotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert, sind heute nur noch ein paar ein- oder zweistockige Backsteinhäuser übrig geblieben. Heute stehen sie im Zentrum der Stadt, und damit bei gewissen Bauspekulanten auf der Abrissliste.
Die Ambitionen der Immobilienbranche vertragen sich allerdings kaum mit der offiziellen Einwanderungspolitik. Im heutigen Wladiwostok leben zwar weniger Asiaten als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder als im heutigen Moskau. Die meisten Chinesen wurden schon 1938, nach der Schlacht am Chankasee, vertrieben; im Jahr darauf, zwei Jahre vor dem Großen Vaterländischen Krieg gegen die Achsenmächte, wurden die Japaner deportiert. Aber Presse und Lokalpolitiker verbreiten bis heute, vor allem in Wahlkampfzeiten, die Propaganda von der sogenannten Gelben Gefahr.2
Die neueste Plage sind die Pläne der Politiker
Dabei war die Stadt als Heimathafen der russischen Pazifikflotte von 1945 bis 1991 für Ausländer gesperrt. Manche Nostalgiker sprechen immer noch voller Wehmut von der wunderbaren Zeit: Damals sei das abgeschottete Wladiwostok noch eine saubere, blühende Stadt gewesen. Dabei vergessen sie zu erwähnen, dass sie durch den Sonderstatus auch relativ privilegiert waren, jedenfalls was die Versorgung betraf.
Die neueste Plage sind die Pläne der Politiker. In Wladiwostok soll 2012 das Gipfeltreffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums (Apec) stattfinden. Da das sowjetische Russland von diesem Forum lange Zeit ausgeschlossen war, ist dies ein besonders wichtiges Ereignis. Mit der Ausrichtung dieser Konferenz möchte der Kreml seine neue Asienstrategie einen wesentlichen Schritt voranbringen. Und Gouverneur Sergei Darkin nutzt die Gunst der Stunde. Er hat riesige Bauprojekte und Infrastrukturmaßnahmen angekündigt, die Wladiwostok zum „Vancouver des Ostens“ machen sollen.3
In den letzten Jahren wurden reihenweise neue, chimärenhafte Projekte entwickelt, das eine teurer als das andere: Sechs-Sterne-Hotels, pompöse Kongresszentren, als Krönung ein Tunnel und zwei riesige Brücken: Die eine soll über das „Goldene Horn“ schwingen, die andere das Festland mit der großen Insel Russki verbinden, die der Stadt im Süden vorgelagert ist. Die stellt sozusagen das andere Bosporusufer dar, obwohl die Insel praktisch unbewohnt ist. Auf der befinden sich nur verwitterte Militäranlagen, einige Datschen und die Lieblingsstrände der Einheimischen, die hier im Japanischen Meer, weitab vom verdreckten Hafen, baden können. Aber genau das macht Russki zum Traum aller Spekulanten.
Die russische Presse empört sich über diese Brücke nach „nikuda“ – nach Nirgendwo. Um ihr teures Vorhaben zu retten, haben die Stadtfürsten vorgeschlagen, die für den Gipfel geplanten Gebäude anschließend der künftigen Föderativen Universität Fernost zu überlassen. Aber die Hochschullehrer fragen sich besorgt, wie lange sie brauchen werden, um über beide Brücken auf die Insel zu gelangen. Die meisten Studenten und Dozenten wohnen im Stadtzentrum oder in der nördlichen Peripherie und lehnen den abgelegenen Insel-Campus ab. Zudem verschlingen die Prestigeprojekte sämtliche Subventionsgelder, so dass der Stadt nichts bleibt, um den Verkehrsinfarkt zu bekämpfen und die Alltagsprobleme der Bürger zu lösen.
Sollte die Fernost-Universität doch auf die Insel wandern, würden viele Studenten zu konkurrierenden Hochschulen in der Innenstadt wechseln. Dort reibt man sich schon die Hände. Der russische Präsident Dmitri Medwedjew kennt die Probleme: Wladiwostok sei wirklich eine wunderbare Stadt, erklärte er kürzlich gegenüber der Tageszeitung Kommersant, „aber man hat sie zerstört. Es gibt nicht einmal eine richtige Kanalisation, alles ist alt und baufällig.“ Er meinte aber auch, der Gipfel sei für die Stadt „ein guter Anlass“, ihre Probleme ernsthaft anzupacken.4
In Russland werden politische Auseinandersetzungen oft mittels „kompromat“ ausgetragen, also über Gerüchte und unüberprüfbare Anschuldigungen. Nach dem Erlass Medwedjews, wonach alle Regionalpolitiker ihre Einkünfte und die ihrer Ehepartner offenlegen müssten, nahm diesen Sommer die Moskauer Tageszeitung Nowaja Gaseta den Gouverneur Darkin aufs Korn und listete alle Einkünfte auf, die er nach Recherchen der Zeitung unter diversen Namen und auf Offshore-Konten zu verstecken suchte.5
Als schon das Gerücht umlief, Darkin werde seinen Posten verlieren, kam Ministerpräsident Putin im September persönlich zu seiner Rettung angereist. Putin hatte bereits 2001 Darkins Vorgänger Jewgeni Nasdratenko, eine Symbolfigur der Jelzin-Ära, auf seine Weise bestraft: Als Nadratenko beschuldigt wurde, seine schützende Hand über die Fischfangmafia zu halten, hat Putin ihn entlassen, gleich darauf aber zum Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Fischerei ernannt.
Die russische Regierung hat in jüngster Zeit mehrere protektionistische Maßnahmen beschlossen, um die von der Krise gebeutelten Wirtschaftsbereiche zu unterstützen. Die wirken in der Region Wladiwostok, für die der Außenhandel eine entscheidende Rolle spielt, allerdings kontraproduktiv. Zum Beispiel haben Maßnahmen gegen den Export von Alteisen und Rohholz oder die verstärkte Kontrolle des Fischfangs die Stadt weiter geschwächt, die ohnehin unter ihrer großen Entfernung von den wichtigen Zentren des Landes zu leiden hat. In Wladiwostok ist man sowieso der Meinung, dass sich Moskau nicht für seinen Fernen Osten interessiert. Deshalb ziehen immer mehr Leute weg. Die Abwanderung aus der Primorski Krai in andere Provinzen Russlands stieg auf neue Rekordhöhen. Auch die Stadt Wladiwostok verliert immer mehr Einwohner.
Um den heimischen Markt zu schützen, beschloss die Regierung Putin im Dezember 2008, die Importsteuer für fabrikneue Autos mit Wirkung vom 11. Januar 2009 von 25 auf 30 Prozent zu erhöhen; auch die Einfuhr von Gebrauchtwagen sollte teurer werden. Das war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es gab Protestkundgebungen, wie man sie noch nie erlebt hatte. Eine Bürgerinitiative namens TIGR (Kameradschaft der werktätigen Bürger Russlands) und die Russische Kommunistische Partei stellten sich an die Spitze der Bewegung. Am 14. Dezember 2008 blockierten mehr als 10 000 Demonstranten das Zentrum, andere versuchten vergeblich, den Flughafen zu besetzen.
Die Polizei und die Spezialeinheiten der Omon-Miliz konnten nichts tun – außer die Bedeutung der Kundgebung kleinzureden. Doch an den Protesten beteiligten sich auch zahlreiche Abgeordnete. Mitte Dezember forderten sowohl das Abgeordnetenhaus von Wladiwostok als auch das Parlament von Primorje hochoffiziell Präsident Mewedjew und Ministerpräsident Putin auf, die angekündigte Steuererhöhung zurückzunehmen.6
Proteste gegen Einfuhrzölle auf japanische Autos
Der Import von Gebrauchtwagen aus dem Ausland ist in Wladiwostok und ganz Russisch-Fernost seit Jahren ein bedeutender Wirtschaftszweig. Die meisten russischen Autofahrer ziehen ausländische Autos den russischen Fabrikaten bei weitem vor. Und natürlich fährt auch die Elite nur BMW, Mercedes oder Porsche Cayenne. In Fernost und in Ostsibirien, wo es keine Autofabriken gibt, kommt noch hinzu, dass die russischen Autos aus dem europäischen Teil des Landes antransportiert werden müssen, was den Preis in die Höhe treibt. Hier kommen mehr als 90 Prozent der Fahrzeuge aus Japan (daher die Rechtslenkung) oder Korea, und die meisten sind Gebrauchtwagen.
Das Ganze ist für die Seeleute, Hafenarbeiter und Gewerbetreibenden, die in Asien einkaufen und jährlich mehrere 10 000 Fahrzeuge einführen, ein einträgliches Nebengeschäft. Um die immer strengere Reglementierung zu umgehen, werden japanische Edeljeeps vor der Grenze auseinandergenommen und die Karosserien zerteilt. Man importiert sie also als Bausatz, um sie vor Ort wieder zusammenzusetzen oder auch nach den Vorstellungen des Käufers zu variieren.
Schätzungsweise 100 000 Leute arbeiten in der Küstenregion um Wladiwostok in kleineren und mittleren Privatunternehmen dieser Branche, die sich der Kontrolle durch die Behörden bisher weitgehend entziehen konnte. Die neue Importsteuer sollte daher eine gewisse Regulierungsfunktion erfüllen.
Moskau reagierte umgehend auf die Proteste. Die regionalen Politiker wurden öffentlich gerügt, mussten ihre ersten Äußerungen revidieren und stattdessen versichern, dass die Entscheidung der Regierung richtig sei. Damit wurde aber der Unmut der Bevölkerung nur noch mehr angeheizt. Eine für den 21. Dezember angekündigte Kundgebung wurde von der Omon-Miliz gewaltsam aufgelöst. Im Fernsehen gab es von den Protesten keine Bilder. Stattdessen lobten die staatlichen Sender die dürftigen Zugeständnisse des Kreml: die kostenlose Überführung russischer Autos in den Osten, um die Preise anzugleichen, und die Zusage ermäßigter Flugtickets in den europäischen Teil Russlands für Studenten und Rentner. Als im Januar das umstrittene Gesetz kam, gingen die Leute dennoch wieder auf die Straße, allerdings sorgten die Omon und die Kälte dafür, dass sich die Proteste in Grenzen hielten.
Die Probleme aber sind geblieben. Auch viele russische Wirtschaftsexperten kritisieren die protektionistischen Maßnahmen, mit denen die Regierung die russischen Autobauer vor der Pleite retten will. Dabei haben die massiven Finanzspritzen bisher nichts gebracht. Der Teufelskreis aus Korruption, Schluderei und staatlicher Wirtschaftslenkung konnte nicht durchbrochen werden. So bauen diese Unternehmen weiter Autos, die keiner haben will.
Anfang Mai 2009 brach die milde Jahreszeit wieder an. Doch bei den inszenierten Mai-Demonstrationen wie auch bei den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai herrschte eine eher trübe Stimmung. Im Hafen schienen die Leute wie in Zeitlupe zu arbeiten. Wegen des Einbruchs im Handel wurden weniger Waren umgeschlagen. Die Menschen warten auf das Ende der Wirtschaftskrise und verzehren ihre Reserven. Manche hoffen, dass die Regierung nach der Krise das Gesetz wieder zurücknehmen oder zumindest die Importsteuer senken wird, so dass die Geschäfte wieder in Gang kommen.
Die unbegründete Angst vor der Farbe Orange
Aber die meisten sind eher pessimistisch und fürchten, dass diese Maßnahme die angeschlagene Wirtschaft noch weiter schwächen werden und dass daran auch der Apec-Gipfel nichts ändern wird. Es droht also eine weitere Abwanderung in die europäischen Gebiete. Und natürlich gehen die jüngsten und aktivsten Leute immer als Erste.
Die Auseinandersetzung um die Importsteuer nahm mittlerweile eine politisch brisante Wendung. Im Januar 2009 veröffentlichte eine Kommission der Russischen Duma einen Bericht, in dem die Organisatoren der Kundgebungen als vom Ausland manipulierte Agenten hingestellt wurden: „Man kann die Massenkundgebungen gegen die Erhöhung der Zölle als organisierte Aktion zur Destabilisierung der gesellschaftlichen Situation in mehreren Regionen Russlands ansehen (…), einem Szenario folgend, das an die orangene Revolution erinnert.“ Die von „ausländischen Technokraten“ gelenkten Aktionen verfolgten vor allem das Ziel, „den Fernen Osten von Russland loszulösen“.7
Diese vermeintliche Sezessionsdrohung ist, sieht man von ein paar von Demonstranten geschwenkten orangefarbenen Fahnen ab, nichts als ein Schreckgespenst. Das hatte ein Teil der lokalen Elite schon zu Zeiten des alten Gouverneurs beschworen, um die Bürger für ihre eigenen Interessen einzuspannen. In Moskau möchte man lieber nicht darüber reden, was sich tatsächlich hinter den Protesten verbirgt.
Viktor Larin, der Direktor des Instituts für Geschichte in Wladiwostok, hat die Hintergründe dieser Stimmung erkundet. Seine Frage „Was ist die größte Gefahr für die Interessen Russlands und seiner Territorien in Fernost?“ haben die Bewohner der Region eindeutig beantwortet: Für 47 Prozent ist es „die schlechte Politik Moskaus“. Nur 37 Prozent nennen „die Militärmacht Chinas“ und 36 Prozent „den US-amerikanischen Imperialismus“.8
Jean Sabaté ist Forscher.