Wer kämpft für den Islamischen Staat?
Am 16. Juni eroberten kurdische Kämpfer, unterstützt durch US-Luftangriffe, die Stadt Tall Abyad im Norden Syriens, wo sich ein wichtiger Grenzübergang zur Türkei befindet. Der Fall von Tall Abyad ist für die Terrororganisation Islamischer Staat ein Rückschlag: Damit wird die Straßenverbindung zwischen Rakka, der inoffiziellen syrischen Hauptstadt des Kalifats (90 Kilometer südlich gelegen), und der Außenwelt abgeschnitten. Auf dieser Straße kamen bisher Tausende ausländischer Freiwilliger in das IS-Gebiet, von denen viele zu Selbstmordattentätern wurden. Heute zieht der Menschenstrom in die Gegenrichtung: Etwa 23 000 arabische und turkmenische Flüchtlinge sind vor den anrückenden Kurden in die Türkei geflohen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte zuvor den Westmächten vorgeworfen, sie würden mit ihren Luftschlägen die syrisch-kurdischen „Terroristen“ unterstützen. Am Ende hatte der IS offenbar nur noch 150 Kämpfer in Tall Abyad, und er schickte auch keine Verstärkung mehr, nachdem die Kurden die Stadt von drei Seiten umzingelt hatten. Der Sieg von Tall Abyad ist der jüngste in dem „Krieg innerhalb eines Kriegs“, der sich in der nordöstlichen Ecke Syriens zwischen IS-Kämpfern und dem militärischen Flügel der PYD abspielt.
Die PYD ist die Partei der syrischen Kurden,1 die in drei Enklaven entlang der syrisch-türkischen Grenze herrscht. Schon Ende Mai hatte ich an der Front 25 Kilometer östlich von Tall Abyad kurdische Kämpferinnen gesprochen, die eine bevorstehende Offensive andeuteten. Über unseren Köpfen waren ständig Flugzeuge zu hören – wahrscheinlich die U.S. Air Force –, aber ich registrierte keine Bombenabwürfe.
Syriens Kurden zwischen zwei Gegnern
Nujaa, eine 27-jährige Veteranin der Frauenmiliz, erklärte mir, sie würde mit ihrer Einheit weiter nach Westen in Richtung Tall Abyad vorrücken; noch am Morgen hatte es Kämpfe gegeben und mehrere kurdische Soldaten waren getötet und verwundet worden. In Qamischli, faktisch die kurdische Hauptstadt, unterhielt ich mich mit Sehanok Dibo, einem Berater der PYD-Führer Saleh Muslim und Asa Abdullah, der ebenfalls meinte, dass man Tall Abyad bald zu „befreien“ hoffte.
Er betonte mehrfach, dass nicht nur Kurden gegen den Islamischen Staat kämpfen, sondern auch Mitglieder der bewaffneten syrischen Opposition gegen Baschar al-Assad. Ich fragte mich, ob das nicht eher Propaganda ist, um die PYD weniger ethnozentrisch aussehen zu lassen und damit für die USA akzeptabler zu machen. Da ich keine gesehen hatte, wollte ich wissen, wie viele dieser prokurdischen Rebellen denn an der Front seien und ob sie zumindest den kleinen Raum füllen würden, in dem wir saßen. „Vielleicht zwei Räume“, gab Dibo schließlich zu.
Trotz der Dementis der PYD – und wahrscheinlich entgegen ihren besten Absichten – trägt der Konflikt im Nordosten Syriens viele Facetten eines ethnisch motivierten Kriegs: Die Kurden vertreiben die sunnitischen Araber, denen sie vorwerfen, den Islamischen Staat zu unterstützen. Wenn Araber fliehen, bestätigen sie damit aus kurdischer Sicht, dass sie mit dem Feind unter einer Decke stecken; die anderen Araber jedoch, die bleiben, stehen automatisch unter Verdacht, zu Zellen von „Schläfern“ zu gehören, die irgendwann losschlagen werden.
Die Kurden sagen, ihre Vorfahren hätten schon 20 000 Jahre lang in der Umgebung von Tall Abyad gelebt; die Araber seien dagegen erst vor Kurzem hier angesiedelt worden – im Zuge einer Kampagne in den 1970er Jahren, als das Baath-Regime entlang der türkischen Grenze einen 15 Kilometer breiten arabischen Gürtel schaffen wollte. Nach Aussagen von Arabern, die jetzt aus ihren Häusern vertrieben werden, hätten ihnen Kurden gesagt, sie sollten „zurück in die Wüste gehen“.
Nach der Eroberung von Tall Abyad könnten die syrischen Kurden – die mit 2,2 Millionen ein Zehntel der Bevölkerung Syriens ausmachen – zwei ihrer drei Enklaven zu einem Gebiet verbinden, das sie Rojava oder Westkurdistan nennen. Die größte dieser Enklaven – die Kurden sprechen von Kantonen –
Überschrift IS Fortsetzung
von Patrick Cockburn
wird „Dschasira“ (Insel) genannt, weil sie zwischen Tigris und Euphrat gelegen ist. Es ist ein isoliertes Staatsgebilde zwischen dem Irak im Osten und der Türkei im Norden.
In Qamischli, der größten Stadt von Dschasira, hat man das Gefühl, dass der Krieg weit weg ist. Es ist eine fruchtbare und weitgehend autarke Region mit Weizenfeldern und Ölquellen, von denen allerdings nur noch wenige in Betrieb sind. Der nächste Kanton liegt weiter im Westen rund um die zerstörte Stadt Kobani, die der Islamische Staat auch nach viereinhalb Monaten Belagerung nicht erobern konnte. Im Januar mussten die IS-Truppen endgültig abziehen, nachdem sie schätzungsweise 1000 Kämpfer verloren hatten – durch etwa 700 Angriffe der U.S. Air Force und den erbitterten Widerstand der Volksschutzeinheit (YPG).
Seit der Übernahme von Tall Abyad kontrollieren die Kurden einen 400 Kilometer langen Gebietsstreifen an der syrisch-türkischen Grenze. Das passt Ankara überhaupt nicht, wie die jüngsten Reaktionen zeigen. Der Krieg, den Erdoğan seit dem 24. Juli gegen den Islamischen Staat zu führen behauptet, richtet sich nämlich vor allem gegen die syrischen Kurden. Aber auch gegen die verbotene türkische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und damit indirekt gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP), deren Erfolg bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit im Parlament gekostet hat.2
Das war auch der Grund, warum die türkische Regierung entgegen ihrer Zusage wochenlang gezögert hat, Kampfjets der U.S. Air Force die Luftwaffenbasis Incirlik zur Verfügung zu stellen – sie wollte verhindern, dass die YPG noch mehr Unterstützung bekommt.
Der Fall von Tall Abyad Mitte Juni war zwar ein wichtiges Ereignis, doch in diesem zähen Konflikt haben militärische Einzelerfolge nur wenig zu sagen. Einige Beobachter sprechen bereits von einem neuen Dreißigjährigen Krieg. Wie im Mitteleuropa des 17. Jahrhunderts sind innerhalb und außerhalb der syrischen und irakischen Kampfzonen zu viele Parteien im Spiel, die sich eine Niederlage nicht leisten können und alles tun werden, um zu gewinnen.
In Qamischli sagte mir Sehanok Dibo, dass sich „die Machtverhältnisse in Syrien abrupt verschieben können, wenn einer der involvierten ausländischen Staaten seine Haltung ändert“. Im letzten Jahr erfolgte eine solche Veränderung, als die USA begannen, die YPG in Kobani mit Luftangriffen auf IS-Stellungen zu unterstützen. Aber die Lage könnte sich erneut ändern – mit katastrophalen Folgen für die Kurden –, wenn die türkische Armee die Grenze nach Süden überschreitet, um eine Pufferzone auf dem von den syrischen Kurden gehaltenen Territorium zu errichten.3
Obwohl die PYD versichert, dass sie nicht nur eine Partei für Kurden ist, sind religiöse und ethnische Loyalitäten die entscheidenden Triebkräfte in den vielschichtigen Bürgerkriegen, die in Syrien und im Irak toben – auch wenn die ursprünglichen Gründe für den Konflikt vielleicht andere waren. In beiden Ländern hat der Zusammenbruch der Zentralregierung die Differenzen zwischen Arabern und Kurden, zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Muslimen und Christen, zwischen säkularen und religiösen Kräften zum Vorschein gebracht und verschärft. Da die syrische und die irakische Bevölkerung in einem permanenten Kriegszustand leben, werden solche Differenzen fast nur noch gewaltsam ausgetragen. Von der iranischen Grenze bis zum Mittelmeer flieht die Zivilbevölkerung immer dann aus ihren Städten und Dörfern, wenn die Armee oder Miliz, die sie verteidigt, von gegnerischen Kräften besiegt wird.
Der Islamische Staat, der die Morde an Schiiten, Jesiden und allen anderen vermeintlichen Gegnern öffentlich zur Schau stellt, ist gewalttätiger als andere Gruppierungen. Aber die von Saudi-Arabien, der Türkei und Katar unterstützte Al-Nusra-Front ist auch grausam. So hat diese zur al-Qaida gehörende Truppe drusischen Dorfbewohnern seine extreme Version des Islam aufgezwungen und am 10. Juni in Qalb Lauzeh in der Provinz Idlib 20 Drusen erschossen. Und die syrische Regierung setzt ihrerseits Fassbomben und andere Waffen ein, mit denen sie jedes besiedelte Gebiet, in dem sich Widerstand regt, in Schutt und Asche legt – egal wie viele Zivilisten dabei umkommen. Viele Vororte von Damaskus, die irgendwann von Rebellen eingenommen worden waren, liegen heute in Ruinen, deren Anblick an die Fotos von Hamburg oder Dresden 1945 erinnert.
Araber unter Kollaborationsverdacht
Das Misstrauen und der Hass zwischen den einzelnen Gemeinschaften ist inzwischen schier unüberwindbar. Im Mai war ich in den Abdulaziz-Bergen, eine teilweise bewaldete Gegend südwestlich der Stadt Hasakah, die kurz zuvor von der YPG nach mehrtägigen Kämpfen erobert worden war. Ich fragte den YPG-Kommandeur, General Garzan Gerer, welche Probleme seine Leute bei der Einnahme der Gegend hatten. Er nannte zwei Schwierigkeiten: erstens das bergige Gelände und zweitens, „dass viele Dörfer arabisch sind und häufig den Daesh unterstützen“. Daesh ist die arabische Abkürzung für Islamischer Staat. Der General ging davon aus, dass viele Dorfbewohner nicht mehr zurückkehren würden.
Ganz so war es nicht, wie wir feststellten, als wir von der Front zurückfuhren. Wir trafen auf eine arabische Familie, die ihr Hab und Gut zu ihrem Haus in einem ansonsten verlassenen Dorf zurückschleppte. Die Leute winkten mit übertriebener Begeisterung hinter unserem Auto her, als seien sie unsicher, wie die siegreichen Kurden sie behandeln würden.
Viele irakische und syrische Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren haben ihr Leben lang nichts anderes getan als kämpfen. Zum Beispiel der 29-jährige Faradsch (in Wirklichkeit heißt er anders), der aus einem sunnitischen Dorf zwischen Hasakah und Qamischli stammt und ein Pädagogikstudium an der Universität Hasakah abgeschlossen hat. Er gehörte zu den IS-Kämpfern, die in Tall Abyad die Stellung hielten, als die YPG die Stadt bereits umzingelt hatte. Ein kurdischer Studienfreund hat Faradsch damals über WhatsApp erreicht und die Unterhaltung für mich aufgezeichnet.
Die Antworten des IS-Kämpfers waren teils wirr und unzusammenhängend, aber wenn er über den drohenden Fall der Stadt sprach, war er ganz ruhig. Womöglich, weil kämpfen das Einzige war, was er seit vier Jahren gemacht hatte. „Auch wenn wir die türkische Grenze verlieren“, meinte Faradsch, „hat der Islamische Staat noch immer offene Grenzen zum Irak. Er wird stark bleiben, und nach dem, was unsere Kommandeure berichten, kann er zwar einige Schlachten verlieren, aber er hat seine eigene Strategie, um den Krieg zu gewinnen.“ Über die US-Luftangriffe äußerte er sich ziemlich gelassen, weil die ohne Bodentruppen nicht viel bewirken würden. „Ich glaube, dass der Islamische Staat gewinnt und nicht verliert.“
Der Mann könnte recht behalten. Am 17. Mai eroberte der Islamische Staat Ramadi, die Hauptstadt der Provinz Anbar, die nur 120 Kilometer westlich von Bagdad liegt. Kurz darauf nahmen sie in Syrien die Stadt Palmyra ein, einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt östlich von Damaskus. Beide Ereignisse setzten dem Wunschdenken ein Ende, das in den westlichen Hauptstädten und in Bagdad aufgekommen war. Hier glaubte man, das selbst ernannte Kalifat sei durch die US-Luftangriffe und die feindlichen Staaten der Region inzwischen militärisch dermaßen geschwächt und ökonomisch in die Enge getrieben worden, dass es keine weiteren Offensiven mehr starten könne.
Tatsächlich spricht wenig dafür, dass das Kalifat, das am 29. Juni 2014 von Abu Bakr al-Baghdadi in Mossul ausgerufen wurde, heute in irgendeiner Weise schwächer geworden ist. Der Fall von Tikrit am 1. April dieses Jahres, nach monatelangen, von US-Luftschlägen unterstützten Angriffen der irakischen Armee und schiitischer Milizen, wurde so dargestellt, als sei der IS dem militärischen Druck, unter den er an vielen Fronten geraten war, nicht mehr lange gewachsen. Das Pentagon sprach sogar von der Rückeroberung Mossuls. Und der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi verkündete triumphierend, die „nächste Schlacht“ werde die riesige Provinz Anbar wieder unter die Herrschaft Bagdads bringen. Es geschah genau das Gegenteil: Kaum hatte die irakische Armee ihre Offensive begonnen, wurde sie von Einheiten des IS überrannt, die bei ihrem Gegenangriff Ramadi besetzten und Eliteeinheiten der irakischen Sicherheitskräfte in die Flucht schlugen.
Aus Sicht der Regierung in Bagdad und ihrer Unterstützer in den USA und Europa ist das militärische Gesamtbild ziemlich düster. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist es nicht gelungen, die irakische Armee neu aufzubauen, die sich im letzten Jahr, nach dem Verlust großer Teile des irakischen Nordens und Westens, auf so demütigende Weise aufgelöst hat. Nach Auskunft eines höheren Offiziers der Sicherheitskräfte verfügt die Armee heute nur noch über 10 000 bis 12 000 einsatzfähige Soldaten. Und wir sprechen von einer Armee, die früher einmal 360 000 Mann stark war, wobei allerdings viele nur auf dem Papier existierten und ihre Gehälter von Offizieren und Bürokraten im Verteidigungsministerium eingestrichen wurden.
Die wenigen kampfbereiten Einheiten, darunter die sogenannte Goldene Division und die Spezialeinheiten des Innenministeriums, wurden wie Feuerwehrbrigaden von einem Krisenherd zum nächsten geschickt, bis die Soldaten physisch erschöpft und von den schweren Verlusten demoralisiert waren. Die einzige wirkliche militärische Macht, auf die sich Bagdad heute stützen kann, sind die schiitischen Milizen, die zu kämpfen bereit sind, aber teilweise vom Iran kontrolliert werden.
Nach ihren schweren Verlusten in Kobani haben die IS-Kommandeure ihre Taktik geändert. Neuerdings geben sie ein Territorium, das sie nicht gut halten können, lieber auf und greifen anderswo überraschend an. Diese neue Taktik bedeutet, dass sie, falls die Bedingungen für sie nicht günstig sind, nicht bis zur letzten Patrone kämpfen. Stattdessen starten sie nadelstichartige Angriffe an vielen Stellen ihrer schwächer befestigten Frontabschnitte, etwa an der Front zu Irakisch-Kurdistan, die fast 1000 Kilometer lang ist. Diese Attacken scheitern zwar häufig, sie sind aber zum Teil sowieso nur als Ablenkung gedacht und sollen den Feind im Ungewissen lassen, wann und wo der Hauptangriff kommen wird.
Ausländische Freiwillige werden dabei oft als Kanonenfutter missbraucht, wohingegen das Leben der irakischen und syrischen Kämpfer inzwischen eher geschützt wird – auch wenn der IS immer noch den Märtyrertod propagiert. 2015 hat die Zahl der lokalen Kämpfer weiter zugenommen, weil der IS in den von ihm kontrollierten Gebieten – von der Größe Großbritanniens und einer Bevölkerung von 6 Millionen – alle jungen Männer ab 16 Jahren zum Militärdienst verpflichtet. Diese forcierte Rekrutierung macht es dem IS leichter möglich als 2014, an mehreren Fronten zugleich zu kämpfen, vom Umland um Bagdad bis zu den Vororten von Damaskus.
Faradsch hat nicht darüber gesprochen, ob er damit rechne, den Kampf um Tall Abyad zu überleben. Bei anderer Gelegenheit haben sich erfahrene IS-Kämpfer im letzten Augenblick noch davongemacht. Aber die von ihm geschilderten Gründe, warum er sich dem IS angeschlossen hat und ihm die Treue hält, wird auch für andere Kämpfer zutreffen: Sehr viele durchaus vernünftige Syrer und Iraker machen bei dieser fanatischen Bewegung mit – trotz ihrer barbarischen und öffentlich zur Schau gestellten Grausamkeit, der bizarren Ideologie und dem Todeskult. Und sie kämpfen weiter für den IS – trotz der Wahrscheinlichkeit vorübergehender Niederlagen. Auch in diesem Fall, sagt Faradsch, „glaube ich immer noch, dass wir im Recht sind, weil die meisten von uns nicht für Frauen oder Geld kämpfen. Wir kämpfen, weil wir vom Regime und von der Opposition im Stich gelassen wurden; also brauchen wir eine bewaffnete Organisation, um für unsere Rechte zu kämpfen.“
Bis zum vorigen Jahr war die Dschabhat al-Nusra (Unterstützungsfront) in den kurdischen Gebieten stark vertreten gewesen. Dann wurde sie unter heftigen Kämpfen verdrängt, und zwar einerseits von der YPG und andererseits vom Islamischen Stadt. Faradsch und seine Familie hatten sich ein Jahr nach Beginn des syrischen Aufstands von 2011 al-Nusra angeschlossen.
Wie aus Rebellen Dschihadisten wurden
„Zuerst träumten wir von einer Revolution und dass wir unsere Freiheit gewinnen“, erzählte er, „aber leider war die Volksbewegung nicht gut organisiert und wurde von Nachbarländern wie den Golfstaaten manipuliert, sodass sich die Revolution in den Dschihad verwandelt hat.“ Er sagt, wenn die Rebellen das Regime bekämpfen wollten, gab es keine andere Wahl, als zu einer religiösen Bewegung zu werden, die bei der konservativen Bevölkerung im Osten Syriens auf offene Ohren stößt. Ein weiteres Motiv war Vergeltung für „die vierzig Jahre andauernde Unterdrückung und Ungerechtigkeit des Regimes, das unseren Seelen so viel Schmerzen zugefügt hat“.
Im Juli 2012 zog sich die syrische Armee fast ganz aus den drei kurdischen Kantonen zurück, um ihre Positionen in anderen Gegenden zu verstärken. Sie hielt sich nur noch in Qamischli und Hasakah, zwei kleinen symbolischen Enklaven, sodass das Regime in Damaskus behaupten konnte, noch im ganzen Land präsent zu sein, auch wenn es nicht überall die Kontrolle ausübte. „Als die kurdischen Kräfte die Kantone übernahmen, hatten wir das Gefühl, dass unsere Revolution uns nichts gebracht hatte“, denn die Kurden, sagt Faradsch, „waren genauso repressiv wie das Regime.“
Er setzte sich als Kämpfer der Al-Nusra-Bewegung zur Wehr, bis sie von der YPG besiegt wurden. Dann kam der Islamische Staat in sein Heimatdorf, wo alle Männer von al-Nusra „vor die Wahl gestellt wurden, sich dem IS anzuschließen oder das Dorf zu verlassen“, berichtet Faradsch. Er war einer von fünf Männern, die sich zum Mitmachen entschlossen, zwei Einheimische und drei Tunesier.
Im Februar dieses Jahres, als kurdische Kämpfer in das Dorf einrückten, wurde er in militärischer Mission nach Rakka entsandt, während die anderen blieben, um zu kämpfen: „Sie verteidigten sich fünf Stunden lang, aber sie waren nur vier Männer gegen dreißig, drei Tunesier wurden getötet. Nur der einheimische Kämpfer konnte entkommen.“ Faradsch kam dann für einen Monat aus Rakka wieder in sein Dorf zurück und suchte in dieser Zeit viele Bekannte von früher auf.
Damals habe er auch viele ausländische Kämpfer aus Großbritannien, der Türkei und Frankreich getroffen, von denen einige inzwischen ganz gut Arabisch sprachen. Aber die konnten ihm nicht imponieren: „Ich kenne viele Kämpfer aus den Golfstaaten, aus Europa und Australien, die für Waffen, Ruhm, Frauen und Geld kämpfen“, berichtet Faradsch.
Als er die Freiwilligen aus Europa fragte, warum sie nach Syrien gekommen seien, erklärten ihm einige, dass sie zu Hause unglücklich waren. Manche sagten auch, sie hätten sich gelangweilt. Viele hätten im Islam ihr „spirituelles Glück“ gefunden, aber Faradsch meint auch, dass sie oft Konvertiten waren, die offenbar nicht viel Ahnung vom Islam oder von den lokalen Gebräuchen hatten. Seiner Meinung nach wurden die ausländischen Kämpfer zumeist als Selbstmordattentäter und Propagandisten eingesetzt, „die Einheimischen werden dagegen als Kämpfer gebraucht.“
Das gilt offenbar für das gesamte vom IS kontrollierte Territorium. Dabei ist es oft schwierig, die Zahl der ausländischen Kämpfer zu ermitteln, die an einer Schlacht beteiligt waren. Die kurdischen und irakischen Kommandeure behaupten gern, dass fast alle Soldaten der anderen Seite schwerbewaffnete Ausländer aus der muslimischen Welt oder Westeuropa sind. Das war auch die offizielle Darstellung, als die irakischen Peschmerga im August vorigen Jahres vom IS besiegt wurden.
Aber als ich mich mit christlichen und jesidischen Dorfbewohnern unterhielt, die ihre Angreifer vor ihrer Flucht noch gesehen hatten, erzählten sie, dass alle gegnerischen Kämpfer Iraker waren. Es seien gar nicht viele gewesen, die zudem auf unbewaffneten Fahrzeugen unterwegs waren.
Ein russisch-arabisches Vokabelheft im Tornister
Einige Frontabschnitte werden wohl allerdings von Ausländern gehalten. Auf dem Berg Abdulaziz zeigten mir kurdische Kämpfer ein Notizbuch, das man im IS-Hauptquartier gefunden hatte. Darin waren in einer fein säuberlichen Handschrift arabisch-russische Vokabeln für diverse Alltagsbegriffe aufgelistet. Und auf einer Seite war ein Zimmer skizziert, mit Pfeilen auf Tisch, Stühle und andere Möbelstücke, neben denen die arabischen Wörter standen. Wahrscheinlich kam der Besitzer des Notizbuchs aus einem russischsprachigen muslimischen Land im Kaukasus oder in Zentralasien.
Was Faradsch über sein Leben und seine Ansichten erzählt, ist deshalb so interessant, weil er weder ein Aussteiger noch ein IS-Propagandist ist. Er ist ein Mensch mit einem tiefen Hass auf das Assad-Regime, der sich derjenigen Organisation angeschlossen hat, die dieses Regime am effektivsten bekämpfen konnte.
Faradsch erzählte auch die Geschichte seines ehemaligen Anführers oder Emirs. Das war ein irakischer Kurde mit dem Kampfnamen Abu Abbas al-Kurdistani, der vor Kurzem im Krieg getötet wurde. Faradsch hatte ihn gefragt, warum er beim Islamischen Staat mitmachte, und Abu Abbas antwortete, dass die kurdische Regionalregierung im Nordirak ihn für vier Jahre ins Gefängnis gesteckt hatte, ohne dass es zu einem fairen Prozess gekommen wäre. „Korruption und Folter“ waren laut Abu Abbas die Gründe, die ihn dazu brachten, „eine Organisation zu finden, die ihm die Chance für seine Rache bietet. Der Schmerz, den unser Emir empfand, ähnelte dem unseren. Wir alle kämpfen als Antwort auf die Tyrannei und die Ungerechtigkeit, die wir erfahren haben. Der Islamische Staat ist die beste Wahl für die Unterdrückten im Nahen Osten.“
Die Einnahme von Tall Abyad durch die Kurden dürfte eine neue Welle von Spekulationen über den mutmaßlichen Niedergang des IS auslösen. Aber wie die meisten anderen Parteien, die an dem Bürgerkrieg im Irak und in Syrien beteiligt sind, ist das selbst ernannte Kalifat hier stark verwurzelt. Es wird nicht einfach so wieder von der Bildfläche verschwinden.4 Aufgrund seiner quasi guerillaartigen Kriegsführung hat der Verlust oder Gewinn einer einzelnen größeren oder kleineren Stadt für den IS weniger Bedeutung, als es scheinen mag. „Der Islamische Staat bleibt, der Islamische Stadt breitet sich aus“ lautet das Motto des IS. So ist es.
1 Vgl. Allan Kaval, „Die Kurden, eine neue Ordnungsmacht“, Le Monde diplomatique, November 2014.
2 Siehe Günter Seufert, „Türkei – alte Mächte, neue Fronten“, Le Monde diplomatique, Juli 2015.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Patrick Cockburn ist Auslandskorrespondent beim Independent.
© London Review of Books, www.lrb.co.uk, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin