13.08.2015

Armut macht schüchtern

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Armut macht schüchtern

Aufzeichnungen aus einem französischen Dorf, 1945

von Roger Vailland

Die Bäuerin in der Bresse hat eine Spezialität: das Huhn ullstein
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Chavannnes-sur-Reyssouze ist ein kleines Dorf in Frankreich. Der nächste Bahnhof ist zehn Kilometer entfernt. Vor dem Krieg gab es eine regelmäßige Busverbindung nach Mâcon und Bourg-en-Bresse, heute kommt der Bus nur noch zweimal pro Woche. Ein Gasthaus, zwei Müller an der Reyssouze, drei Lebensmittelläden, die alles verkaufen, sogar Brot, ein Hufschmied, keine Post, nur eine Telefonzelle.

Die Bauernhöfe sind durchschnittlich acht Hektar groß, das ist sogar für Frankreich sehr klein. Wenige Landarbeiter. Ebenso viele Grundbesitzer wie Pächter, mit ähnlichem Lebensniveau. Oft mischen sich beide Besitzstände: Zur Bewirtschaftung der eigenen drei, vier Hektar kommen ebenso viele, die gepachtet sind. Mischkultur ist die Regel: Weizen, Hafer, Mais, Kartoffeln, Rüben, etwas Wein, ein Pferd pro Hof, selten zwei, ein oder zwei Paar Ochsen, ein paar Kühe, gerade so viel Wiesen, wie man braucht, um das Vieh zu ernähren, ohne Heu zu kaufen, Reisig aus dem Holz der Hecken. Nicht spezialisierter Kleineigentümer, so lautet die klassische Bezeichnung des französischen Bauern. Chavannes-sur-Reyssouze im Departement Ain ist ein typisch französisches kleines Dorf.

Der Bürgermeister und die Abgeordneten aus der Vorkriegszeit stehen am rechten Rand der Radikalsozialisten.1 Viele, die sich davor fürchten, dass die verfassunggebende Versammlung2 „das Land in ein Abenteuer hineinzieht“, setzen heute auf das Votum der vielen kleinen Chavannes-sur-Reyssouzes in Frankreich. Deswegen wurden die Wahlbezirke auch so zugeschnitten, dass die Stimme eines Einwohners von Chavannes so viel zählt wie die von zwei Pariser Arbeitern.3

Während der Besatzung habe ich in Chavannes-sur-Reyssouze gelebt. Seit der Befreiung kehre ich regelmäßig dorthin zurück. Das Dorf ist immer noch meine offizielle Adresse, dort werde ich wählen. Und ich habe dort viele Freunde.

Jedes Mal, wenn ich aus Paris komme, spreche ich mit Freunden und Nachbarn über die jüngsten Ereignisse. Jedes Mal sagen sie: „Also hat sich immer noch nichts geändert.“ In den ersten Monaten nach der Befreiung sagten sie es erstaunt. Allmählich sagen sie es voller Wut.

Chavannes wartet also auf Veränderung? Auf was für eine Veränderung? Warum ist man in Chavannes enttäuscht und wütend? Es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Ich habe noch nicht erwähnt, dass Chavannes-sur-Reyssouze in der Bresse liegt. Die Bewohner der umliegenden Provinzen werden „Gelbbäuche“ genannt, weil Gaudes, eine Suppe aus Maismehl und Milch, ein wichtiger Bestandteil ihrer Nahrung ist.

Wie pittoresk, Gelbbäuche, die Maissuppe essen! Das alte, bäuerliche Frankreich ist überhaupt pittoresk. Woher kommt eigentlich die traditionelle Vorliebe für Maissuppe? Haben Sie schon mal Maissuppe gegessen? Sie hat nicht viel Geschmack, ist nicht besonders lecker, und die Ärzte sagen, dass sich auch ihr Nährwert in Grenzen hält. Aber sie macht satt. Nach einem Teller Maissuppe hat man keinen Hunger mehr, aber man fühlt sich nicht gestärkt. Ich habe lange gebraucht, um die Daseinsberechtigung der Maissuppe zu entdecken: Bis vor nicht allzu langer Zeit waren die Gelbbäuche einfach zu arm, um zu jeder Mahlzeit Brot zu essen. Der Weizen wurde verkauft, um die Pacht, den Tierarzt, Stiefel oder Nägel zu bezahlen, und der Bauer füllte sich den Bauch mit Mais, bis er davon gelb wurde.

Mit acht Hektar Land führt ein Gemüsegärtner in der Umgebung von Paris ein ordentliches Unternehmen. Er sät ausgewähltes Saatgut auf gedüngten, bewässerten Feldern und nutzt die neueste Agrartechnologie für seine Intensivkultur. Außerdem hat er ganz in der Nähe einen unersättlichen Absatzmarkt für sein Gemüse.

Ein Bauer in der Bresse dagegen, der auf seinem Land alles produziert, was er für das Leben seiner Familie braucht, und noch einen Überschuss erwirtschaften muss, um Kleidung, Werkzeug und so weiter zu kaufen, kommt mit acht Hektar nicht weit. Sein Weizenfeld ist zu klein, um den Kauf eines Traktors oder Mähbinders zu rechtfertigen, das Gleiche gilt für seine Wiesen und die schönen amerikanischen Mähmaschinen. Er hat nicht genug Zeit, sich gründlich um seinen Gemüsegarten und seinen Bienenstock zu kümmern. Er braucht die Arme seiner Söhne zu sehr, um sie auf die Landwirtschaftsschule zu schicken, wo sie den wissenschaftlichen Einsatz von Dünger erlernen würden. Tatsächlich nutzt er dieselben Techniken und mit wenigen Ausnahmen die gleichen Werkzeuge wie seine Ururgroßeltern. Deshalb kann er auf den Märkten nicht mit den Produkten aus Ländern mit Monokultur und moderner Technik konkurrieren. Er kann nur überleben, weil er seine Arbeit und die seiner Familie nicht berechnet. Würde er seine Selbstkosten berechnen und seine Arbeit zum Stundenlohn eines Tagelöhners einfließen lassen, müsste er feststellen, dass er immer mit Verlust verkauft – sogar heutzutage auf dem Schwarzmarkt.

Die Maissuppe und der Klumpen Butter

Dabei hatte der Bauer in der Bresse eine Spezialität: das Huhn. Der Erfolg des Bressehuhns beruht auf dem Zusammentreffen spezifischer lokaler Faktoren: der Zusammensetzung der Böden, der Ernährung auf Basis von Mais und Molke (wie die Bauern), einer bestimmte Hühnerrasse. Im Laufe der Zeit wurde eine geeignete Technik, Aufzucht in Dunkelheit, Kastration und Mästung, entwickelt. Das Bressehuhn ist in ganz Europa berühmt.

Nach 1918 erlebte seine Zucht einen großen Aufschwung. Auch dazu trugen verschiedene Faktoren bei: Durch die Verbreitung des Automobils konnte man die Hühner vom Hof abholen und schnell transportieren, die Organisation von Landwirtschaftswettbewerben lockte Großhändler aus Paris und London zu den großen Geflügelmessen, die Erfindung der Tiefkühlschränke korrigierte die Laune der Natur, die Hühner unbedingt im Sommer schlachtreif haben will, obwohl doch in den Städten die meisten zu Weihnachten verlangt werden.

Die Bauern in der Bresse produzierten immer mehr Hühner. Irgendwann kam der Tag, an dem ihre Hühner mehr Mais aßen, als der Hof hergab, und sie Mais im Ausland kaufen mussten. Das war ein entscheidender Moment. An diesem Tag wurden sie Teil des Kreislaufs des modernen Lebens. Bislang waren sie Bauern gewesen, die ihre Felder bestellten, um sich zu ernähren, und nur den Überschuss ihrer Ernten verkauften. Plötzlich wurden sie Industrielle, die einen Rohstoff, Mais, kauften und ein Endprodukt, das Huhn, verkauften. Sie fingen an, Geld zu verdienen, sie aßen jeden Tag Brot, manche kauften ihr Brot sogar beim Bäcker, weil auf ihren Feldern nur noch Mais wuchs, sie kauften Pferde, manche sogar Autos.

Nun aber kamen neue Probleme auf sie zu. Mitte der 1930er Jahre begriffen sie allmählich, dass ein Huhn, das sie dem Händler für zwanzig Franc verkauften, in Paris oder London für fünfzig weiterverkauft wurde. Wenn der kanadische oder rumänische Getreidehändler bezahlt war, blieben ihnen kaum zwei, drei Franc pro Huhn. Den großen Gewinn machten also die Geflügelhändler, weil sie über das nötige Kapital verfügten, um Kühltruhen zu kaufen, einen schnellen Transport zu organisieren, Werbung zu machen und so weiter. Nun entdeckte Chavannes die Spaltung der modernen Welt in Arbeiter und Kapitalisten. 1936 stimmten etwa dreißig von dreihundert Wählern für den sozialistischen Kandidaten.

Das Wesentliche an dieser Hühnergeschichte ist, dass die Gelbbäuche nach Jahrhunderten der Dumpfheit begriffen, dass sie ihr Schicksal verbessern konnten. Kein unbarmherziger Gott hatte sie verurteilt, bis in alle Ewigkeit Maissuppe zu essen. Nun hatten sie schon zu jeder Mahlzeit Brot. Eines Tages vielleicht auch Fleisch? Warum nicht?

Der Krieg lehrte sie etwas anderes. Zum einen entstand der Schwarzmarkt, auf dem sich viel weniger Gewinne machen lassen, als man sich das in der Stadt vorstellt. Meine Nachbarin hat ausgerechnet, dass sie auf dem Schwarzmarkt Dutzende Eier mehr verkaufen muss als vor dem Krieg, um auf demselben Schwarzmarkt eine Arbeitshose für ihren Mann zu kaufen.

Der Schwarzmarkt hatte vor allem moralische Folgen. Dieselbe Nachbarin hat mir hundertmal erzählt, wie sie vor dem Krieg jeden Mittwoch nach Pont-de-Vaux auf den Markt ging und Butter verkaufte. Alle Bäuerinnen aus der Gegend versammelten sich um den Platz, ihren Klumpen frischer Butter vor sich. Dann kamen die Bürgerdamen aus der Kleinstadt, betasteten ein Stück Butter, betasteten ein anderes, verzogen den Mund und sagten: „Letzte Woche war sie weißer. In Zukunft kaufe ich woanders“, oder: „Dafür gibt es zwei Sous weniger.“

„Ich hatte solche Lust, sie ihnen ins Gesicht zu werfen.“

Aber sie musste die Butter unbedingt verkaufen. Also lächelte sie. Armut heißt auch Demütigung.

Seit drei Jahren kommen die Damen aus Pont-de-Vaux zu ihr auf den Hof und betteln um Butter, jetzt lächeln sie, wenn die Bäuerin trocken eine Preissteigerung ankündigt und sagt: „Ich kann sie auch gern behalten.“ Der Schwarzmarkt lehrte die Gelbbäuche, dass die Leute aus der Stadt sie brauchen.

Durch einen wunderbaren Zufall trafen just am Tag der deutschen Kapitulation in Stalingrad die erste Aufforderung zur Zwangsarbeit in Deutschland und die Ankündigung einer groß angelegten Beschlagnahmung von Vieh in Chavannes ein. So erfuhr das Dorf am selben Tag, dass es nicht von den Deutschen verschont blieb und dass die Deutschen besiegt werden konnten. Der erste zur Zwangsarbeit Befohlene ging in den Untergrund, der sich auf der anderen Seite der Saône, in den Bergen um Macôn formierte. Die Résistance war geboren.

Der Mut kam nur ganz allmählich. Armut macht schüchtern und respektvoll gegenüber jedem, der Macht hat. Die Maissuppenesser mussten die Erinnerung an Jahrhunderte der Ohnmacht abschütteln, ehe sie die offene Auflehnung wagten.

Das erste heimlich geschlachtete Kalb war noch ein Ereignis. Aber am 10. Juni 1944 versteckte fast jeder Hof in Chavannes patriotische Kämpfer aus Pont-de-Vaux, die nach einem gescheiterten Aufstand fliehen mussten. In einigen Höfen bereitete man sich darauf vor, sich mit der Waffe einer Hausdurchsuchung zu widersetzen. Was für einen Weg hatten sie zurückgelegt!

Als die Befreiung kam, war den Gelbbäuchen bewusst, dass sie ihren Anteil daran hatten. So lernten sie, dass sie ihr Schicksal ändern können.

Angesichts des Wunsches, „das Gesicht der Welt zu ändern“, geraten politische Feinheiten leicht aus dem Blickfeld. In Chavannes versteht man nicht, warum sich Sozialisten und Kommunisten nicht zusammengetan haben, wo sie doch dasselbe Ziel verfolgen. In einer Nachbargemeinde, in Sermoyer, vollzogen die 52 Mitglieder der Sozialistischen Partei den Zusammenschluss gegen die Anweisungen aus der Stadt. Vor dem Krieg gab es in Chavannes überhaupt keine kommunistische Zelle, die vor Kurzem gegründete hat schon 42 Mitglieder. Pétain konnte sie nicht täuschen: „Er will uns in die Zeiten der Herren zurückbringen“, hatte mir schon 1942 mehr als ein alter Bauer erklärt.

Für die Bauern in Chavannes gibt es nur zwei politische Haltungen: Die einen wollen, dass man „in die Zeiten der Herren zurückkehrt“; die anderen wollen, dass es vorangeht, und sind für die fortschrittlichen Parteien. Chavannes wird links wählen, weil die Gelbbäuche vorangehen wollen. Aber sie wünschen sich, dass ihre Kandidaten ihnen sagen, was man tun muss, um voranzugehen, wie man es schafft, dass das Landleben in Frankreich das Niveau der fortschrittlichen Länder erreicht. Sie wollen auch fließend Wasser, Strom und sogar ein Badezimmer haben. Sie sind bereit, viel radikalere Lösungen zu akzeptieren, als man gemeinhin glaubt – der Krieg hat sie wachgerüttelt. Sie warten.

1 Liberale, linksbürgerliche Partei; das „radikal“ bezog sich auf die Ablehnung der Monarchie.

2 Nach der Befreiung beschloss die provisorische Regierung der Französischen Republik die Durchführung von Parlamentswahlen am 21. Oktober 1945. Die Wähler sollten auch per Referendum darüber entscheiden, ob die neue Nationalversammlung eine Verfassung beschließen solle. Es gab 96 Prozent Ja-Stimmen. Die Verfassung der IV. Republik trat nach einem zweiten Referendum am 27. Oktober 1946 in Kraft.

3 Die Abstimmung nach Arrondissements, die während der III. Republik galt, begünstigte die dünn besiedelten Gebiete gegenüber den Städten.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Roger Vailland (1907–1965) war Journalist, Romanautor, Essayist und Dramaturg. Im April 2015 erschien im Verlag Le Temps de cerise eine Sammlung seiner Artikel („Sacré Métier! Roger Vailland, journaliste“). Der vorliegende Text wurde am 28. September 1945 in der kommunistischen Wochenzeitung Action veröffentlicht.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2015, von Roger Vailland