13.08.2015

Kunde statt Bürger

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Kunde statt Bürger

von Colin Crouch

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Der einschlägige Begriff, unter dem man öffentliche Dienstleistungsanbieter zu Handlungsweisen verpflichten will, die denen gewöhnlicher Marktteilnehmer entsprechen, lautet „New Pu­blic Management“. Geprägt wurde er vermutlich 1991 von dem britischen Verwaltungsexperten Christopher Hood. Zwei Jahre später erschien in den USA das Buch „Der innovative Staat. Mit Unternehmergeist zur Verwaltung der Zukunft“ von David Osborne und Ted Gaebler. Die Idee fand in vielen Ländern Anklang, vor allem aber bei der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).

Keiner der Autoren war ein Feind des öffentlichen Dienstes. Vielmehr befürchteten sie, dass er ineffizient und zunehmend unnahbar werde, weil er von jenem Wettbewerbsdruck verschont war, der privaten Anbietern Anreize zu ständigen Verbesserungen gerade auch im Bereich der Kundenfreundlichkeit gibt. Sie wollten den öffentlichen Sektor retten, indem sie Verfahren vorschlugen, um diesem Problem entgegenzuwirken.

Ein Vorwurf der Neoliberalen und der Befürworter des „New Public Management“ (NPM) gegenüber dem öffentlichen Dienst alter Form lautet, er habe seine Nutzer nicht als Menschen, sondern gleichsam als Objekte betrachtet, weshalb es zu erheblichen Verbesserungen für diese führen müsse, wenn sie den Status von „Kunden“ erhielten. Die Advokaten des alten öffentlichen Dienstes hingegen behaupten, seine Nutzer müssten als Bürger begriffen werden, und erst ihre Verwandlung in Kunden mache sie tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.

Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von „Kunden“ die Rede.

In beiden Bereichen war die Umbenennung eine Begleiterscheinung weitreichender Privatisierungsmaßnahmen. Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt „Passengers for Manchester please change at Birmingham“ die Durchsage „Customers for Manchester …“ erklingt? Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, dass die „customers for Manchester“ die Stadt nicht bereisen, sondern kaufen wollen. Soll die Umbenennung dazu führen, dass das Bahnpersonal die vormaligen Fahrgäste respektvoller behandelt? Das allerdings ließe sich auch erreichen, indem man den Mitarbeitern im Zuge ihrer Ausbildung beibringt, dass Fahrgäste keine Objekte, sondern Bürger sind.

Das einzige Merkmal, das den „Kunden“ von anderen Dienstleistungsnutzern unterscheidet, ist seine Absicht, den fraglichen Service käuflich zu erstehen. Liegt es also vielleicht an der Bezeichnung „Kunde“, dass auf britischen Bahnhöfen eine Unmenge von Angestellten den Kundenstatus neuerdings anhand des vorzuweisenden Tickets kontrollieren? Oder dass man auf Flughäfen an jeder Ecke eine Vielzahl von Läden findet, aber kaum irgendwo einen ruhigen Sitzplatz?

Anhand der britischen Steuerbehörde Her Majesty’s Revenue and Customs (HMRC) lässt sich veranschaulichen, was mit den Nutzern geschieht, wenn ein Dienstleister darauf geschult wird, sein Fachwissen privatwirtschaftlichen Motiven unterzuordnen. In den neunziger Jahren begann die damals noch als „Inland Revenue“ firmierende Behörde im Rahmen einer „NPM“-Initiative, die Steuerzahler als „Kunden“ zu bezeichnen – die waren bis dahin tatsächlich eher als Objekte denn als Bürger behandelt worden. Die Einführung des „Kunden“-Konzepts führte dazu, dass die Finanzbehörden Steuerschuldner (wie auch Rückzahlungsberechtigte) zunehmend als Personen beziehungsweise Organisationen mit eigenen Bedürfnissen und Eigenschaften ansahen und nach Wegen der Steuererhebung suchten, die dem Kundenkonzept entsprachen.

Das war in vielerlei Hinsicht ein Fortschritt. Allerdings hatte das Verfahren auch zwei fragwürdige Folgen. Schließlich setzt es ein Umdenken voraus, wenn Steuerzahler sich selbst als „Kunden“ der Steuerbehörde verstehen sollen, der sie ja nichts abkaufen wollen, eher im Gegenteil.

Ob das gelungen ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls unternahm man nicht den geringsten Versuch, die weniger schräge Idee zu verfolgen, den Steuerzahler als Bürger und damit als Inhaber bürgerlicher Rechte und Pflichten anzusehen – ein Gedanke, der in neoliberalen Überlegungen grundsätzlich keine Rolle spielt. So wie man die Studierenden durch Erhebung von Studiengebühren zu „Kunden“ der Universitäten gemacht hat, wurden auch die Steuerzahler qua obrigkeitlichem Oktroi zu „Kunden“ gemacht.

Schlimmer noch ist, dass zweitens das „Kunden“-Konzept unvermeidlich eine Ungleichheit impliziert, die sich mit dem Konzept eines mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers nicht verträgt. In jedem privatwirtschaftlichen Unternehmen werden Kunden mit hoher Kaufkraft besser behandelt als solche mit geringer – es gibt im privaten Sektor keine Entsprechung zum staatlichen Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz.

Im Zuge der „Kunden“-Reform hat die britische Steuerbehörde die Steuerzahler anhand des Steueraufkommens in Gruppen eingeteilt, von natürlichen Personen bis zu Großkonzernen. Letztere werden, was Wunder, anders als die anderen behandelt, indem man ihnen etwa einen persönlichen „Custom Relationship Manager“ zur Verfügung stellt.

Das mit der Kontrolle der Staatsausgaben betraute „Public Accounts Committee“ des Unterhauses hat dies bereits im Jahr 2011 kritisiert: „Wir ­haben ernsthafte Bedenken, dass Großunternehmen von der Behörde besser behandelt werden als andere Steuerzahler. […] Die Behörde setzt sich damit selbst dem Verdacht aus, zu enge Beziehungen zu Großunternehmen zu pflegen“.1 Aber sucht denn nicht jeder Vertriebsmitarbeiter genau solche Beziehungen zu zahlungskräftigen Kunden?

Billigflieger als Modell für den öffentlichen Dienst

Das verblüffendste Beispiel für die besondere Behandlung, die HMRC wohlhabenden „Kunden“ und Großunternehmen angedeihen lässt, wurde Anfang 2015 aufgedeckt. Wie sich herausstellte, wusste die Behörde seit 2010, dass die Schweizer Tochtergesellschaft der HSBC, der größten Bank Großbritanniens, mehr als 6000 britischen Bürgern dabei geholfen hatte, illegale Konten in der Schweiz einzurichten, um Steuern zu vermeiden. Insgesamt gab es 30 000 derartige Konten, auf denen insgesamt 78 Milliarden Pfund deponiert worden waren. Ein IT-Angestellter der Schweizer Bank, Hervé Falciani, kopierte die Kontendaten und verkaufte sie im Jahr 2009 an die französischen Behörden. Diese wurden gegen die beteiligten Franzosen aktiv und gaben die Namen anderer Kontoinhaber an die jeweiligen Staaten weiter.

Daraufhin kam es in Griechenland, Spanien, den USA, Belgien und Argentinien zu Verhaftungen. Auch die HMRC erhielt eine Liste mit den Namen potenzieller Steuerhinterzieher. Allerdings hat man dort, Stand Ende 2014, lediglich einen einzigen Fall weiterverfolgt; weitere 135 Millionen Pfund an unbezahlten Steuern wurden auf dem Wege diskreter informeller Deals mit den Beteiligten eingeholt. Zur selben Zeit sprach sich die britische Regierung für ein hartes Vorgehen gegen kleine Steuersünder aus.2

Chef von HMRC war bis 2012 David Hartnett, der wegen großzügiger Steuerdeals mit Goldman Sachs und Vodafone schon früher in die Kritik geraten war. 2010 erklärte Hartnett vor einer Konferenz von Buchhaltern und Steuerbeamten in Indien: „Meiner Ansicht nach ist es in der modernen Welt kein zukunftsweisender Weg, in Steuerstreitigkeiten um jeden Preis auf Sieg zu setzen [...]. Wir tun alles, um strittige Fragen auf nichtkonfrontativem Wege beizulegen und wo immer möglich mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten.“3 Nachdem der 61-jährige Hartnett im September 2012 mit allen Ehren in den Ruhestand verabschiedet worden war, übernahm er einen Posten als Berater für „financial crime governance“ bei der besagten HSBC.

Da die Steuerbehörde HMRC nach wie vor zum britischen Staatsapparat gehört, lässt sich an ihr nicht zeigen, welche Folgen es hat, wenn qualifizierte öffentliche Dienstleistungen an den privaten Sektor übertragen werden. Diese Übertragung wird gewöhnlich als Auflösung eines staatlichen Monopols und Gewinn für die Wahlfreiheit des Kunden beworben.

Wer aber ist dieser Kunde? Da die Verträge über die Ausgliederung von Dienstleistungen von staatlichen Behörden vergeben werden, sind sie hier auch die Kunden; die Nutzer der Dienstleistungen hingegen sind nur das: Nutzer, Pseudokunden. Das beauftragte Unternehmen ist nicht ihnen, sondern der Behörde gegenüber rechenschaftspflichtig, deren Interessen nicht notwendig mit denen der Nutzer übereinstimmen müssen. Denn das Hauptinteresse der Behörden besteht ja darin, die Kosten zu senken, während es den Nutzern vermutlich eher um eine möglichst hohe Qualität der Dienstleistung geht. Daraus ergeben sich automatisch Konflikte, zumal Kostensenkungen für gewöhnlich nicht mit Qualitätssteigerung einhergehen.

Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“ orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber Hinausgehende zur Kasse bitten.

So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden) von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“.

Der Slogan „easyCouncil“ konnte sich zwar nicht durchsetzen, der Grundgedanke dieser Umgestaltung des öffentlichen Dienstes jedoch hat innerhalb wie außerhalb Großbritanniens viele Anhänger gefunden. In Barnet hat man inzwischen so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl an Unternehmen der Capita Group.4 Bürger, die sich mit einem Anliegen ans Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen. Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur erwägen würden.

1  UK Parliament (2011): Report of House of Commons Public Accounts Committee: HMRC 2010–11 Accounts: Tax Disputes. London: Her Majesty’s Stationery Office.

2 David Leigh u. a.: „HSBC files show how Swiss bank helped clients dodge taxes and hide millions“, in: The Guardian, 8. Februar 2015.

3 Simon Parry, „Britain’s top tax official enjoys £ 6,000 fournight stay at a luxury hotel in India … to make a 30-MINUTE speech“, in: Daily Mail, 12. Dezember 2010.

4 Aditya Chakrabortty, „Outsourced and unaccountable: this is the future of local government“, in: The Guardian, 15. Dezember 2014.

Colin Crouch ist Soziologe. Bekannt wurde er durch sein Buch „Postdemokratie“, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch, das am 7. September erscheint: „Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“, a. d. Engl. von Frank Jakubzik, Berlin (Suhrkamp). Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2015, von Colin Crouch