Türkei – alte Mächte, neue Fronten
Die Parlamentswahlen vom 7. Juni brachten der regierenden AKP unerwartete Verluste. Eine stabile Koalition ist unwahrscheinlich. Wenn Neuwahlen fällig werden, könnte Präsident Erdoğan versucht sein, Unruhen zu schüren, um sich als Retter der Nation anzubieten.
von Günter Seufert
Bei der Wahl zur Großen Nationalversammlung in Ankara vom 7. Juni haben die türkischen Kurden der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) eine schwerwiegende Niederlage beigebracht. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) errang 13,1 Prozent der Wählerstimmen und schaffte damit den Sprung über die 10-Prozent-Hürde und den Einzug ins Parlament.
Mit dem Gewinn von 80 Sitzen sorgte die von fast allen Kurden gewählte HDP dafür, dass die AKP die absolute Mehrheit verlor und künftig nur noch mit einem Koalitionspartner regieren kann. Zugleich bedeutete dieses Wahlergebnis das Ende von Erdoğans Träumen, die Verfassung in Richtung eines autoritären Präsidialsystems umzubauen.1
Nur zehn Tage nach der AKP -Schlappe, am 18. Juni, versuchten Staatspräsident Recep T. Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, das türkische Militär zu veranlassen, in Syrien einzumarschieren.2 An einem 110 Kilometer langen Grenzabschnitt sollten 18 000 türkische Soldaten bis auf 33 Kilometer tief in syrisches Territorium vorrücken, um eine Pufferzone zu erobern, die zunächst zwei Jahre besetzt bleiben sollte.3 Dabei handelt es sich um das syrische Gebiet zwischen der Stadt Azaz im Westen und dem Ort Dscharābulus im Osten, der sich zurzeit unter Kontrolle des Islamischen Staats (IS) befindet.
Die Kritik des Auslands an dem militärischen Unternehmen wollte die Regierung mit der Botschaft kontern: Die Türkei „macht Ernst“ mit ihrem Kampf gegen den IS. Für die türkische Öffentlichkeit kam die plötzliche Entschlossenheit ihrer Regierung zum Krieg vollkommen überraschend. Noch erstaunter wurde vermerkt, dass es dabei nicht gegen die syrischen Kurden, sondern gegen den IS gehen sollte. Denn Ankara hatte den IS anfangs verharmlost und später wenig unternommen, um zu verhindern, dass ein kontinuierlicher Nachschub von Menschen und Material über die Türkei an die Dschihadisten fließen konnte.
Erdoğan und die Generäle
Noch als der IS am 10. Juni 2014 in der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul einzog, war er in den Augen Ankaras nur ein Zusammenschluss irakischer Sunniten, die von der schiitischen Regierung in Bagdad zu Unrecht ausgegrenzt waren und die früher oder später auf eine vernünftige Politik umschwenken würden. Als die Kämpfer im September 2014 die syrisch-kurdische Stadt Kobani aushungerten, war ganz offensichtlich, dass Erdoğan fast sehnsüchtig auf den Fall der Stadt wartete. Auch als im August 2014 etwa 40 000 kurdischsprachige Jesiden vor dem IS fliehen mussten, war die AKP-Regierung nicht zu einer Unterstützung des Kampfs gegen den dschihadistischen Protostaat bereit. Ankara verweigerte damals den USA für ihre Luftangriffe gegen den IS die Nutzung des Militärflughafens Incirlik. An dieser Politik hält die türkische Regierung bis heute fest.
Der eigentliche Grund für die Geduld, wenn nicht Nachsicht der Türkei mit dem IS ist die türkische Phobie vor jeder Art kurdischer Selbstverwaltung in Syrien. Der IS schien das geeignete Instrument zu sein, diese Perspektive auszulöschen. Deshalb war die AKP-Regierung höchst beunruhigt, als Einheiten der syrischen Kurden am 15. Juni die Stadt Tell Abjad, die unmittelbar an der Grenze zur Türkei liegt, vom IS zurückerobern konnten. Das gelang ihnen vor allem dank intensiver Unterstützung durch die US-Luftwaffe. Damit hatten die Kurden, nach der Befreiung Kobanis im Januar 2015, schon den zweiten Sieg gegen den IS errungen. Und der Einzug in Tell Abjad bot ihnen die Chance, ihre Selbstverwaltung regional auszudehnen. Sie konnten außerdem zwei ihrer drei räumlich getrennten autonomen Kantone, Kobani und Cezire, zusammenlegen. Aus Sicht der türkischen Regierung ist das eine viel stärkere Bedrohung als die Nachbarschaft des Landes zum IS.
Tatsächlich sollte der Verweis auf den IS ausschließlich dazu dienen, das Ausland irrezuführen, um sich Unterstützung für das militärische Abenteuer zu sichern. Die wahren Absichten verraten die neuesten Äußerungen Erdoğans. Der türkische Präsident kann der Vertreibung des IS aus Tell Abjad nichts Positives abgewinnen. Vielmehr wirft er den USA vor, die Befreiung der Stadt von der IS-Besatzung sei nur Vorwand für eine ethnische Säuberung zulasten von Turkmenen und Arabern, an deren Stelle man Kurden ansiedeln wolle.4
Die Schlagzeilen der türkischen regierungsnahen Presse präsentieren die führende kurdische Kraft in Syrien, die Partei der Demokratischen Union (PYD), als eine Kraft, die für die Türkei gefährlicher sei als der IS. Denn als „ethnische Organisation“ der Kurden sei die PYD ein dauerhaftes Gebilde – im Gegensatz zum IS.5 In Erdoğans Hauspostille Yeni Safak wurde das Militär (insbesondere von dem Redaktionsmitglied Ibrahim Karagül) tagelang aufgefordert, gegen die Kurden loszuschlagen. Die letzten Zweifel, gegen wen sich die von der Regierung erhoffte Militäraktion richten sollte, zerstreute Erdoğan selbst am 26. Juni in Istanbul. Bei einem Fastenbrechen des Roten Halbmonds in Istanbul erklärte er, schon im Stil der Ankündigung eines Militärschlags: „Was immer der Preis dafür sei – wir werden nicht zulassen, dass im Norden von Syrien, südlich unserer Grenze, ein Staat gegründet wird.“6 Da der Islamische Staat bereits existiert, konnte damit nur ein Kurdenstaat gemeint sein. Dabei hat die PYD wiederholt, zuletzt am 1. Juli, erklärt, dass sie lediglich eine Autonomie innerhalb Syriens anstrebe.7
Doch drei Tage später war der Spuk bereits vorbei. Am 29. Juni endete die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats, in dem sich die politische Führung mit dem Militär abstimmt, nur mit allgemeinen Äußerungen der Besorgnis. Die Türken, die sich nur aus der Regierungspresse informieren, verstanden die Welt nicht mehr. Was war passiert?
Nach Jahren politischer Abstinenz hatte das Militär wieder einmal seinen Einfluss geltend gemacht, indem es sich der Direktive Davutoğlus, der einen schriftlichen Befehl erlassen hatte, schlicht verweigert hatte. Die Militärs wurden dabei von Diplomaten des türkischen Außenministeriums unterstützt, die darauf hinwiesen, dass die Türkei sich durch ein Vorgehen gegen die Kurden besonders im Westen noch weiter isolieren werde.8 Eine Rolle spielte auch, dass die Regierung keine schlüssigen Antworten geben konnte, wie die Türkei auf eine mögliche Bedrohung der inneren Sicherheit durch den IS sowie auf mögliche Reaktionen des Regimes von Baschar al-Assad und seines russischen Verbündeten antworten solle.
Ausschlaggebend für den Einspruch des Militärs waren jedoch zwei andere Überlegungen, auf die in den Medien verwiesen wurde, ohne dass eine Quelle namentlich zitiert wurde. Zum einen hatten die Generäle etwas dagegen, dass eine nur noch kommissarisch tätige Regierung ohne Mehrheit im Parlament – zudem im Rahmen einer total verfahrenen Politik – ihre Soldaten in den Krieg schickt. Denn in der Türkei steht nur noch die AKP hinter der Syrienpolitik von Erdoğan und Davutoğlu, die nach wie vor auf den Sturz Assads setzen, auf den Sieg salafistischer Milizen hoffen und weiterhin behaupten, dass man diese radikalen sunnitischen Organisationen nach einem Sieg über Assad von Ankara aus beeinflussen und lenken könne.
Kurden und andere Minderheiten
Egal mit welcher Partei der aktuelle Regierungschef Davutoğlu am Ende eine Koalition eingehen wird, mit keiner wird er die offene und verdeckte Unterstützung salafistischer und dschihadistischer Gruppen fortsetzen können. Deshalb bestehen die Generäle darauf, dass eine derart weitreichende Entscheidung wie der Einmarsch türkischer Truppen in ein Nachbarland nur von einer neuen, durch die Wahl legitimierten und mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgestatteten Regierung gefällt werden kann. Und auf diesem Grundsatz beharren die Generäle um so mehr, als auch ihnen die Syrienpolitik der AKP ein Dorn im Auge ist.
Das zweite nicht offen ausgesprochene Motiv für den Ungehorsam der Generäle verrät noch mehr über das tiefe Misstrauen, das die Armee gegenüber der AKP-Regierung hegt. Das Militär befürchtet, die AKP könnte aus einem Einmarsch der Armee ins Nachbarland parteipolitischen Nutzen ziehen. Auch ein begrenzter Krieg in Syrien würde Wogen nationaler Solidarität erzeugen und den Ruf der Bevölkerung nach dem starken Mann verstärken. Ein solches Klima wäre aber wie geschaffen für Erdoğan und Davutoğlu, erläutert Murat Yetkin in der Onlinezeitung Radikal: „Als Eroberer von Syrien hätte die AKP die Chance, erneut 276 Sitze im Parlament zu erringen“, das heißt: die absolute Mehrheit, die sie am 7. Juni verpasst hat.9
In der Tat war die Wahl vom 7. Juni eine große Schlappe für die AKP und mehr noch für den Präsidenten. Im Vergleich zur Parlamentswahl von 2011 sackte die Regierungspartei von 49,9 Prozent auf 40,8 Prozent ab und verlor damit nicht nur 2,8 Millionen Wähler, sondern auch die absolute Mehrheit im Parlament. Das war eine veritable Katastrophe für eine Partei, die sich nach zwölf Jahren Alleinregierung daran gewöhnt hatte, ihren Anhänger bürokratische Posten zuzuschanzen, mittels staatlicher Ressourcen eine ihr ergebene Unternehmerschicht zu päppeln und ihren Einfluss auf die Justiz unablässig auszuweiten. Da die AKP jetzt einen Koalitionspartner braucht, würde sie all diese Pfründen mit einem Koalitionspartner teilen müssen.
Noch folgenreicher ist das Ergebnis für Recep Tayyip Erdoğan, Gründer und Galionsfigur der AKP, langjähriger Regierungschef und heute Staatspräsident. Denn es waren der persönliche Ehrgeiz, die politischen Ziele und die autoritäre Anmaßung Erdoğans, die seine Partei den schon sicher geglaubten Sieg gekostet haben.
Seit Erdoğan im August 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, war sein ganzes Streben darauf gerichtet, ein Präsidialsystem einzuführen, das ihn praktisch zum Alleinherrscher gemacht hätte. Obwohl nicht mehr Mitglied der Partei und per Amtseid zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet, zwang er die AKP, diesen politischen Systemwechsel in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs zu stellen. In seiner Machtgier blendete Erdoğan konsequent aus, dass sich nur eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung – und weniger als die Hälfte der AKP-Wähler – für ein Präsidialsystem aussprachen.10 Pausenlos appellierte er an die Wähler, sie sollten eine Partei – gemeint war natürlich die AKP – mit einer Zweidrittelmehrheit ausstatten, damit diese die Verfassung nach seinen Wünschen ändern könne, ohne sich mit die Opposition verständigen zu müssen. Doch selbst von den erklärten AKP-Wählern wollten, im Mai 2015 nur jeder Dritte zulassen, dass die Partei in dem neuen Parlament eine nach Gutdünken zurechtgebogene Verfassung durchpeitscht.
Den entscheidenden Fehler beging Erdoğan jedoch im Hinblick auf die Kurden. Im März 2015 stellte er sich auf einmal gegen die Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die er zwei Jahre zuvor selbst begonnen hatte. Nachdem Umfragen ergeben hatten, dass jede Verständigung mit den Kurden zu Stimmenverlusten der AKP an die extrem rechte Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) führen würde, wollte Erdoğan das Steuer herumreißen. Ende April erklärte er die Kurdenfrage kurzerhand für bereits gelöst und bezeichnete alle, die auf weitere Verhandlungen und Reformen drängten, als Vaterlandsverräter, Separatisten und Terroristen.
Entsprechend führten Erdoğan und in seinem Kielwasser Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu ihren Wahlkampf fast ausschließlich gegen die prokurdische HDP. Die Stimmen der nationalistischen Türken konnten sie damit allerdings nicht mehr zurückgewinnen. Dagegen verloren sie die Stimmen der vielen konservativen Kurden, die bis dahin treue Wähler der AKP gewesen waren. Selbst das Minimalziel der AKP, mit nur knapp über 40 Prozent der Stimmen erneut allein regieren zu können, wurde von der HDP vereitelt. Die Regierung hatte darauf gesetzt, dass die HDP die landesweite 10-Prozent-Hürde für den Einzug einer Partei ins Parlament nicht überwinden könne. Dann wären der Regierungspartei die allermeisten der Parlamentssitze der HDP-Kandidaten zugefallen, die sich zwar in ihrem Wahlkreisen durchsetzen konnten, aber wegen des Scheiterns ihrer Partei an der Quote keinen Sitz im Parlament errungen hätten.
Die Partei der Kurden, die vor vier Jahren als BDP ins Rennen gegangen ist, trat zu den Wahlen von 2015 unter dem Namen Demokratische Partei der Völker (HDP) an. Sie konnte den Anteil ihrer Stimmen von 6,6 Prozent 2011 auf 13,1 Prozent 2015 steigern und circa 3 Millionen Wähler hinzugewinnen. Mehr als für alle anderen Parteien war dieses Resultat eine Ohrfeige für die regierende AKP, die ihren Wahlkampf in erster Linie gegen die HDP geführt hatte. Denn keine andere Partei musste so viele Stimmen an die HDP abgeben wie die AKP. Am deutlichsten zeigte sich dies in den Provinzen im Osten und Südosten der Türkei, die größtenteils von Kurden besiedelt sind. Hier herrschte noch bei der Wahl 2011 ein Kräftegleichgewicht zwischen der AKP und der prokurdischen Partei – damals noch unter dem Namen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) –, die ihre Kandidaten als „Unabhängige“ ins Rennen geschickt hatte.
Die BDP konnte sich 2011 nur in 7 der 81 türkischen Provinzen als stärkste Kraft etablieren. Die übrigen Grenzprovinzen im Osten und Südosten gingen an die AKP. Die Wahlen von 2015 haben die politische Landkarte in den kurdischen Regionen grundlegend verändert. Heute dominiert die HDP bereits in 14 Provinzen, dabei hat sie 6 der 7 neu eroberten Wahlbezirke der AKP abgenommen. Mehr noch: Fast in allen diesen Provinzen kann heute von einer klaren Hegemonie der prokurdischen Partei gesprochen werden. Unter der 50-Prozent-Marke blieb die HDP lediglich in Ardahan mit 31 Prozent und in Kars mit 45 Prozent der Wählerstimmen. Diese beiden Provinzen liegen im äußersten Nordosten des Landes, in dem Kurden nicht die Mehrheit der Bevölkerung stellen. In allen anderen 12 Provinzen liegt die HDP klar über der Schwelle zur absoluten Mehrheit.11 In zwei Nachbarprovinzen, Urfa und Bingöl, ist die HDP jeweils die zweitstärkste Partei: in Urfa mit 40 und in Bingöl mit 42 Prozent.
Es war also der Erfolg der Kurden, der das Ende der AKP-Alleinregierung einläutete und dazu führte, dass Erdoğan seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems begraben musste. Doch der Zulauf der Kurden zur HDP bedeutet für die AKP noch ein weiteres Malheur. Mit dieser Wahl kam der AKP ein wichtiges Stück ihres Profils abhanden. Sie kann nicht mehr als Partei der Türken und der Kurden auftreten; und sie kann nicht mehr behaupten, auch unten den Kurden die stärkste Partei zu sein.
Dagegen hat sich die HDP in dieser Wahl vom Anhängsel der PKK zum Sammelbecken für die Kurden der Türkei gemausert. In den Provinzen des Südostens konnte sie die Stimmen konservativer sunnitischer Kurden, die früher AKP gewählt hatten, neu hinzugewinnen. Und in der Provinz Dersim (Tunceli), die räumlich vom sunnitisch-kurdischen Siedlungsgebiet getrennt ist, hat die Partei erstmals Rückhalt bei großen Teilen der kurdischen Aleviten gewonnen. Gerade in Dersim hatten die kurdischen Aleviten aus tiefem Misstrauen gegen ihre sunnitischen türkischen und kurdischen Nachbarn über Jahrzehnte hinweg regelmäßig die linkskemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) gewählt. In diesem Jahr konnte sich die HDP in dieser Provinz erstmals als stärkste Partei durchsetzen. Damit ist es ihr gelungen, nicht nur – wie die prokurdischen Parteien vor ihr – die Stimmen linker und relativ säkularer sunnitischer Kurden einzusammeln, sondern eine Mehrheit auch unter den religiös gebundenen sunnitischen wie unter den eher säkularen alevitischen Kurden zu gewinnen. Die HDP ist damit zur unanfechtbaren Repräsentanz der kurdischen Nationalbewegung in der Türkei geworden, was den Forderungen der Kurden nach kollektiven Rechten kultureller und politischer Art zusätzliche Legitimität verleiht.
Die neue Einigkeit der Kurden macht die Politik Erdoğans zu einem Spiel mit dem Feuer. Das würde offen ausbrechen, wenn es doch noch zu einer – bislang von den Generälen vereitelten – türkische Intervention in Syrien käme, die sich gegen die Kurden richten würde. Denn das würde den seit März 2013 haltenden Waffenstillstand zwischen der PKK und dem türkischen Militär automatisch beenden. Aber der Präsident stellt den inneren Frieden auch dadurch infrage, dass er auf eine, wie er sich ausdrückt, „Wiederholung“ der Wahl drängt, nur weil ihm das Ergebnis vom 7. Juni nicht behagt, und seine Konfrontationspolitik gegenüber den türkischen Kurden fortsetzt.
Diese Politik ist auch deshalb gefährlich, weil die extreme türkische Rechte, die MHP, deren zentrale Wahlaussage die Ablehnung jeglicher Verhandlungen und Kompromisse mit den Kurden war, ebenfalls kräftig hat zulegen können. Das Abschneiden der MHP zeigt, dass das Wahlergebnis nicht umstandslos als ein Votum der türkischen Gesellschaft für mehr Demokratie und Ausgleich bewertet werden kann, wie die ersten hoffnungsvollen Kommentare lauteten. Die Ablehnung von Erdoğans autoritärer Politik bedeutet noch keineswegs, dass die politische Entfremdung zwischen Türken und Kurden im Schwinden begriffen ist. Nach wie vor dominiert in der Bevölkerung die Tendenz, die eigene kulturelle Identität auch parteipolitisch zu manifestieren: als Kurde wählt man die HDP, als muslimischer Türke die MHP, als türkisch-sunnitischer Muslim die AKP und als säkularer Türke (und türkischer Alevit) die CHP.
Tatsächlich sind die Wähler und die Parteien nicht so sehr an der Einhaltung demokratischer Standards interessiert, vielmehr wollen sie vor allem die Machtpositionen der eigenen Gruppen gegen die Konkurrenz sichern. Obwohl alle Oppositionsparteien im Wahlkampf einhellig die undemokratische Praktiken und Gesetze der AKP-Regierung anprangerten, fanden Vorschläge, durch gemeinsame Gesetzesinitiativen im Parlament demokratische Mindeststandards wiederherzustellen, bei den Parteiführungen kein Gehör.
Mit ihrer neuen parlamentarischen Mehrheit wäre eine gemeinsame Opposition von CHP, MHP und HDP durchaus in der Lage, unabhängig von der Regierungsbildung einige einschneidende Hindernisse für gleichberechtigte politische Partizipation, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen. Zum Beispiel könnte man gemeinsam auf die Senkung der 10-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen drängen, oder auf die Rücknahme des erst kürzlich verabschiedeten Gesetzes zur inneren Sicherheit, oder auf die Annullierung der jüngsten Justizreform, die Richter und Staatsanwälte zu Instrumenten der Regierung gemacht hat. Doch entsprechende Appelle der Zivilgesellschaft stoßen bei CHP und MHP auf taube Ohren. Die Parteiführer sind nur damit beschäftigt, ihre Taktik für den Prozess der Regierungsbildung festzulegen.
Für eine neue Regierung gibt es drei Szenarien, die einigermaßen realistisch sind. Ein Zusammengehen von AKP und HDP gehört nicht dazu und wird von beiden Parteien kategorisch ausgeschlossen. Zwar haben AKP und HDP seit dem März 2013 im Rahmen der Friedensverhandlungen miteinander kooperiert, doch haben beide Parteien ihren Wahlkampf fast ausschließlich gegen die jeweils andere geführt. Die HDP hat sich im Wahlkampf außerdem als neue basisdemokratische und staatskritische Kraft präsentiert, die ganz auf gesellschaftliche Opposition setzt, und kann jetzt nicht einfach zurückrudern.
Eine Koalition aus AKP und MHP ist der ideologischen Nähe der beiden Parteien wegen am einfachsten zu bilden, bietet aber für das Land das größte politische Risiko. Die MHP fordert ein Ende der Friedensverhandlungen mit der PKK und würde statt auf die Ausweitung politischer Freiheiten nur auf weitgehende Mitsprache bei deren Einschränkung und Kontrolle pochen.
Eine solche Koalition würde nicht nur die demokratischen Forderungen der Kurden, sondern auch die der liberalen Mittelschichten missachten, was mittelfristig die Gefahr erhöhen würde, dass die Kämpfe in den Kurdengebieten erneut aufflackern. Und die könnten rasch außer Kontrolle geraten, weil eine erneute politischer Polarisierung der Bevölkerung, der dschihadistische Terror an der Südgrenze des Landes und die Durchlässigkeit der türkischen Grenze zu Syrien eine brisante Mischung darstellen. Und wenn es in den Großstädten des Westens zu neuen Massenprotesten à la Gezi kommen sollte, die wie in den vergangenen Jahren brutal niedergeschlagen werden, könnte dies dazu führen, dass der Beitrittsprozess zur Europäischen Union endgültig abgebrochen wird.
Im Unterschied zu einer konservativ-nationalistischen Koalition würde die Bildung einer AKP-CHP-Koalition weit größere Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der beiden Partner erfordern. Eine solche Koalition würde jedoch eher die Chance bieten, dass die Kurdenfrage durch weitere Reformen entschärft und die krassesten Auswüchse der Justizreform zurückgenommen werden. Zudem würde eine Regierungsbeteiligung der CHP der AKP die Möglichkeit eröffnen, unter Wahrung ihres Gesichts längst überfällige außenpolitische Korrekturen in Beziehung auf Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Israel einzuleiten.
Die Beteiligung der Kemalisten an einer Regierung würde aber vor allem die politische und gesellschaftliche Polarisierung entschärfen und damit auch eine starke Botschaft an die Europäische Union senden. Hinzu kommt ein weiterer, überraschender Aspekt: Eine AKP-CHP-Koalition entspricht ohne Zweifel den Wünschen des türkischen Militärs. Damit finden sich die Generäle in dieser Frage plötzlich in Einklang mit den Erwartungen der westlichen Partner der Türkei und großer Teile der liberalen Zivilgesellschaft – eine vollkommen neue Rolle, die für beide Seiten sicherlich gewöhnungsbedürftig ist.
1 Siehe Yavuz Baydar, „Ein Staat für Erdogan“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014.
2 Ahmet Takan, Yeni Cag Online, 26. Juni 2015, und Murat Yetkin, Radikal Online, 27. Juni 2015.
4 www.radyovakit.com/17715_Erdogan--Tel-Abyad-ta-olanlar-hayra-alamet-degil.html
5 So etwa in der Sabah, 19. Juni 2015.
7 Siehe Hürriyet Online, 27. Juni 2015.
8 Murat Yetkin, Radikal Online, 27. Juni 2015.
9 Murat Yetkin, Radikal Online, 30. Juni 2015.
Günter Seufert ist Forscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik und Fellow am IPC , Istanbul, sowie Herausgeber von „Der Aufschwung kurdischer Politik. Zur Lage der Kurden in Irak, Syrien und der Türkei“, Berlin (SWP) 2015.
© Le Monde diplomatique, Berlin