09.07.2015

Am Beispiel einer Zuckerfabrik

zurück

Am Beispiel einer Zuckerfabrik

Sklavenhandel und Kolonialgeschichte auf den französischen Antillen

von Jacques Denis

Zuckerernte in Guadeloupe COLLECTION DUPONDT/akg-images
Audio: Artikel vorlesen lassen

Ein imposanter Neubau steht an der Bucht von Pointe-à-Pitre – wie ein gigantisches, von einem silbernen Gespinst überzogenes Schiff. „Silberne Wurzeln auf einem schwarzen Kasten“, so beschreibt der Architekt Pascal Berthelo, der selbst aus Guadeloupe stammt, seinen Entwurf für die Gedenkstätte ACTe, das „Karibische Zentrum der Erinnerung an Menschenhandel und Sklaverei“, das am 7. Juli 2015 eröffnet wurde. Das „Mémorial ACTe“ (MACTe) soll außerdem eine Station auf der „Sklavenroute“ werden, die 1994 von der Unesco initiiert wurde und in Ouidah (Benin) beginnt.1

Das Konzept für das Zentrum stammt ursprünglich vom Internationalen Komitee der Schwarzen Völker (CIPN) unter der Leitung von Luc Reinette. Doch Reinette, dessen Bruder Pierre geschäftsführender Direktor des MACTe ist, hat die feierliche Einweihung durch Frankreichs Präsidenten François Hollande am 10. Mai boykottiert. In den 1980er Jahren kämpfte Reinette als Bombenleger für die Unabhängigkeit der Insel Guadeloupe, die als Überseedepartement zu Frankreich gehört. In Interviews forderte er den Präsidenten auf, sich im Namen der Nation für die Verbrechen Frankreichs zu entschuldigen.2

„Der schwarze Kasten bringt die Geschichten und Fakten ans Licht, wie in der Fotografie“, erklärt der Architekt Berthelot sein Projekt, das von den alten Bruchsteinen der Fabrik, die hier früher stand, inspiriert ist. „Auf dieser Industriebrache entsteht jetzt neues Leben. Wir wollten keine ‚westliche‘ Bibliothek, sondern eine organische Architektur mit rhizomatischer Struktur.“

Das riesige, etwa zehn Hektar große Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik Darboussier ist ein symbolischer Ort, poetischer und zugleich politischer als der zunächst geplante Standort in der Nähe des Flughafens Le Raizet. Bis vor drei Jahren zeugten hier noch unter Wurzeln und Bäumen verborgene Mauerreste von der einst größten Zuckerfabrik der Kleinen Antillen. Die Natur hatte das Gelände bereits zurückerobert;  aber die Gerippe von Lastwagen, die Eisenbahnschienen, die ins Nirgendwo führten, und abgenutzte Bottiche, in denen früher der Zuckerrohrsaft eingedickt wurde, erinnerten noch an die Vergangenheit. In der mitten im Carénage-Viertel gelegenen Fabrik waren früher bis zu tausend Arbeiter beschäftigt. Über ein Jahrhundert, von 1870 bis 1980, war sie das wirtschaftliche Zentrum von Pointe-à-Pitre – und der Insel.

Die Geschichte des Fabrikgeländes ist eng mit der Geschichte der 1763 gegründeten Wirtschaftshauptstadt von Guadeloupe verbunden. Damals kam auch der Händler Jean Darboussier aus Montpellier auf die Insel und erwarb Land, darunter den Hügel außerhalb der Stadt, der später seinen Namen tragen sollte. Das Gelände wechselte mehrfach den Besitzer. Zunächst betrieb man dort Forstwirtschaft, bis sich die Unternehmer Ernest Souques aus Guadeloupe und Jean-François Cail aus Paris zusammentaten und 1867 die Zuckerfabrik gründeten, die sie nach dem ersten Landbesitzer „Darboussier“ tauften.

Für den Zuckerrohranbau benötigte man viele Arbeitskräfte, doch mit dem endgültigen Verbot der Sklaverei im Jahr 1848 waren die Bedingungen anders: Die Arbeitskräfte, die so lange Zeit unbezahlt hatten schuften müssen, waren nun frei und suchten sich lieber Arbeit in der Stadt. Die Unternehmer versuchten deshalb, Arbeitsmigranten von den Kapverden oder anderen Karibikinseln anzuwerben. Um den riesigen Maschinenpark bedienen zu können, kaufte die Fabrik in den ersten Jahren sogar Sklaven aus dem Kongo mit entsprechenden Verträgen für zehn Jahre zurück. Außerdem kamen damals tausende Inder, die meisten waren tamilischer Herkunft, zum Arbeiten auf die Insel (insgesamt wurden zwischen 1854 und 1889 42 000 Arbeiter aus Britisch-Indien nach Guadeloupe geschickt).

„Darboussier war ein großer Arbeitgeber“, bestätigt der wissenschaftliche Leiter des MACTe, Thierry Letang. „Es gab eine Zeit, da kamen 70 Prozent der Belegschaft aus Indien.“ Hinzu kamen mehrere hundert Chinesen, 450 Japaner und eine größere Gruppe Vietnamesen aus dem politischen Widerstand, die nach den französischen Eroberungsfeldzügen in Indochina als sogenannte freiwillige Arbeiter nach Guadeloupe entsandt wurden, was in Wahrheit hieß, dass man sie zur Zwangsarbeit verpflichtet hatte. Das Viertel Carénage wurde zum Schmelztiegel der Einwandererinsel.

Hierarchie der Einwohner: Afrikaner, Asiaten, Europäer

„Die Fabrik war ein Ort sozialer Konflikte, hier spiegelte sich die Rassentrennung wider, wie sie typisch für die kreolische Gesellschaft ist“, erklärt Letang. Traditionell herrscht hier eine Hierarchie der Hautfarben von ganz dunkel bis ganz hell, die Werteskala einer Sklavenhaltergesellschaft. In Haiti unterscheidet man noch heute 24 verschiedene dunkle Hauttöne.

Als in der Karibik das Zeitalter des Kapitalismus anbrach, wurde der Zucker nicht mehr direkt auf den Plantagen in Handarbeit produziert, sondern in den wesentlich effizienter arbeitenden Fabriken. In den 1880er Jahren gab es in Guadeloupe 22 Zuckerfabriken – genauso viele wie in Martinique. Doch die größte war Darboussier, die damals jährlich 8000 Tonnen Zucker lieferte. Die alten Zuckerplantagen aus der Zeit vor 1848 konnten lediglich 50 bis 75 Tonnen herstellen.3

„Das Verhältnis zwischen Herr und Sklave auf den französischen Plantagen war viel enger als auf den amerikanischen“, erklärt Letang. „Die Ländereien waren kleiner, die Beziehungen sehr viel direkter. Der Besitzer kannte alle seine Sklaven, er hatte sie persönlich ausgesucht. Die Plantagen waren kleine autonome Einheiten mit eigener Krankenstation, die mit der Umgebung Handel trieben und ihr fertiges Produkt verkauften.“ Dieses System bestand im Prinzip bis zum Zweiten Weltkrieg in unterschiedlicher Form. Darboussier übernahm es und passte es seinen Erfordernissen an.

Heute ist Carénage eines der lebendigsten Viertel auf der Insel. Hier herrscht fast Tag und Nacht lebhafter Betrieb – wie früher, wenn die Fabrik während der Ernte auf Hochtouren und in drei Arbeitsschichten lief. Und immer noch kommen die Einwanderer aus der Kabirik und anderswo in dieser alten, sumpfigen Vorstadt an. In der Hauptstraße, der rue Raspail, an der damals die Fabrik lag, treffen Welten aufeinander: Neben haitianischen Prostituierten, die auf weißen Plastikstühlen ihre Dienste anbieten, predigen evangelikale Priester und stehen alle möglichen Dealer.

Der Kulturstadtrat George Brédent führt uns durch das Viertel: Es ist Schauplatz seines Romans „La rue des Champions“ („Die Straße der Meister“).4 Der 61-jährige Anwalt ist in der Nähe der Fabrik aufgewachsen. „Damals herrschte hier Vollbeschäftigung!“, erinnert er sich. „Mit einer klaren Hierarchie: Alle leitenden Angestellten waren weiß, dann kamen die Vorarbeiter von den Antillen, und ganz unten standen die Arbeiter. Trotzdem funktionierte das sehr gut, weil diese Arbeiter das Gefühl hatten, so etwas wie Beamte zu sein, sie besaßen einen gewissen Status, ihr Arbeitsplatz war sicher, und sie bekamen Rente, bezahlten Urlaub und Krankenversorgung.“

Unter dem Deckmantel sozialer Fürsorge kümmerte sich die Firmenleitung darum, dass von den ausgezahlten Löhnen möglichst viel wieder zurück in ihre Kassen floss. Es gab mehrere mit der Fabrik verbundene Geschäfte und firmeneigene Wohnungen. Die für die Belegschaft von Darboussier geschaffene Infrastruktur sollte die Zusammengehörigkeit stärken: Alle Kinder des Viertels gingen damals ins Darboussier-Schwimmbad und auf den Darboussier-Sportplatz.

Die Fabrik war ein wirtschaftlicher Knotenpunkt. Sie funktionierte mit zahlreichen Plantagen in einem geschlossenen Kreislauf: Das Unternehmen besaß eigene Felder, die es seinen Mitarbeitern gegen eine ertragsanteilige Abgabe überließ – eine für die Antillen typische Form der Pacht, bei der die Besitzer auch bei problematischen Böden noch etwas herausholen können.

Der heute 90-jährige Alphonse François war 14 Jahre alt, als er bei Darboussier anfing. Er arbeitete zuerst in der Produktion und wechselte später in die Buchhaltung. Für ihn brachte Darboussier gleichzeitig sozialen Aufstieg und die Fortsetzung eines funktionalen Ausbeutungssystems: „Ich habe Zuckerrohr auf einer Parzelle angebaut, die mir die Firma verpachtet hat“, erzählt er. „Die Hälfte der Ernte war für mich, die andere für die Siapap.5 Aber das gepachtete Land warf für uns nicht viel ab; außerdem mussten wir ja noch in der Fabrik schuften. Das Schlimmste war, dass das Unternehmen den Vertrag einseitig kündigen konnte. Wir wussten, dass wir ausgebeutet wurden.“

Gaston Novercat, ebenfalls 90, war Mechaniker wie vor ihm schon sein Vater; sein Vertrag wurde immer nur um ein Jahr verlängert. Sein ältester Sohn Urbain weigerte sich in die Fußstapfen seines Vaters zu treten: „Das war doch Sklaverei wie vor 200 Jahren. Jeden Tag gab es Verletzte. Mein Vater kann sein Bein nicht mehr gebrauchen. Die Bezahlung war mies, und die Chefs haben sich eine goldene Nase verdient.“

Paul Bilba, Sohn eines Zimmermanns, der für Darboussier gearbeitet hat, war 46 Jahre lang Zuckerkocher. Er lebt mit seinen 89 Jahren immer noch am Rande des ehemaligen Industriegeländes. Sein Häuschen, heute eine baufällige Hütte, hatte ihm damals die Firma überlassen, die sich „guten“ Angestellten gegenüber „großzügig“ verhielt. „Medizinische Versorgung, Vermietung von Häusern, Kredite, Sportverein: Alles war vor Ort“, erinnert er sich. „Die Fabrik bildete ihre Arbeiter selbst aus, vor allem als Mechaniker, die wurden am meisten gebraucht. Darboussier, das war wie ein Staat! Wir waren eine Familie.“ Zum Fest des Sankt Eligius, dem Schutzheiligen der Metallarbeiter, kamen die Chefs Anfang Dezember eigens aus Paris angereist und verteilten in Krepppapier eingewickelte Geschenke.

„Wie das Sprichwort sagt: ‚Besser in Lumpen als nackt‘: Besser Darboussier als Sklaverei“, sagt der 70-jährige Eddy Deher-Lesaint. In seinem Garten weht die Unabhängigkeitsfahne von Guadeloupe im Schatten eines alten Mangobaums. „In der Fabrik lief alles wie am Schnürchen, auch wenn der Chef nicht da war. Der Schatten des weißen Mannes überlagerte alles, sobald man das Fabriktor passiert hatte. Darboussier ist in Guadeloupe der Ausgangspunkt der Klassengesellschaft.“

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wechselte die Fabrik ihre Besitzer, doch der paternalistische Kapitalismus überlebte, bis Anfang der 1960er Jahre die globalen Umbrüche auch die Antillen erreichten: Während in der gesamten Region der Niedergang der Zuckerindustrie einsetzte, hatten die Industrieländer gerade die Möglichkeiten der Arbeitsmigration entdeckt. Nach einer Reise auf die Insel La Réunion kam der französische Ministerpräsident Michel Debré auf die Idee, Migranten aus den Übersee-Départements nach Frankreich zu holen. Dafür wurde 1963 ein eigenes Amt geschaffen, das Bureau pour le développement des migrations dans les départements d’outre-mer (Bumidom). Doch Frankreich hatte die Rechnung ohne die Unabhängigkeitsbewegung gemacht, die sich damals gerade formierte und nun befürchtete, ihre besten Köpfe zu verlieren.

Erinnerungen von 90-Jährigen an die Zeit des Zuckerbooms

Inspiriert von der kubanischen Revolution, verweigerte sich die junge Generation auf den Antillen der Assimilation an die ehemalige Kolonialmacht. Anfang der 1960er Jahre gründeten die Widerstandskämpfer zwei Organisationen: In Frankreich war das der Zentralverband der guadeloupischen Studenten (Association générale des étudiants guadelpoupéens/AGEG) und in Guadeloupe die Nationale Organisationsgruppe (Groupe nationale de la Gouadeloupe/Gong), aus der 1978 die Partei Union populaire pour la libération de la Guadeloupe(UPLG) hervorging.

Im Mai 1967 kam es auf der Insel zu Unruhen. Streikende Arbeiter forderten Lohnerhöhungen, und es gab Proteste gegen rassistische Übergriffe. Nachdem bei einer Demonstration zwei junge Leute von Polizisten getötet wurden, brach ein Aufstand los. Er wurde gewaltsam unterdrückt; je nach Quelle ist von 7 bis zu 200 Todesopfern die Rede. Die offizielle Geschichtsschreibung schweigt dazu, doch die Erinnerung an die blutigen Ereignisse hat sich von Basse-Terre bis Pointe-à-Pitre tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.

Der Aufstand war der Beginn langer Kämpfe, für die insbesondere der große Streik von 1971 steht, der die gesamte Ernte betraf. 1973 wurde der Gewerkschaftsverband UGTG gegründet, der bald auch die Arbeiter von Darboussier vertrat. „Von da an wussten die Chefs, dass der Wurm drin war“, meint Deher-Lesaint. „Das Ende war absehbar, aber es war eine lange Agonie.“ Der Verfall der Zuckerpreise im selben Jahr war ein harter Schlag für die Fabrik, obgleich sie noch rentabel arbeitete. Doch es wurde nicht mehr investiert, und so verrottete das einstige Vorzeigewerk, bis es Ende 1980 geschlossen wurde.

„Die Schließung war faktisch das Ergebnis eines Abkommens zwischen der Regierung Giscard d’Estaing und [dem damaligen Besitzer] Baron Empain“, erklärt Claude Morvan, der von 1975 bis 2002 Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds CGTG war. „Das war eine Entscheidung auf nationaler Ebene, nach der Landreform und dem Umstrukturierungsplan für die Zuckerindustrie.“

Morvan, Jahrgang 1946, ist im Umfeld der Fabrik aufgewachsen, sein Vater war Transportarbeiter. Morvan gehörte zu der paritätisch besetzten Kommission, die die Schließung der Fabrik begleitet hat. Damals kehrte er an den Ort zurück, an dem er seine ersten kleinen Jobs bekommen hatte. „Tausende Arbeitsplätze innerhalb und außerhalb der Fabrik waren betroffen! Dank unserer Verhandlungen konnten wir das System der französische Arbeitslosenversorgung auch für Guadeloupe anwenden. Davor hatte für uns eine andere Regelung gegolten.“

Bis 1946 galten die nichtweißen Antillenbewohner nämlich nicht als Bürger, sondern nur als Untertanen Frankreichs. Die kreolische Sprache wurde lange unterdrückt, und alle problematischen Episoden in der Geschichte der französischen Antillen wurden sorgsam aus Geschichtsschreibung getilgt. In den Schulbüchern kamen Gestalten wie Solitude, die sich 1802 gegen die Wiedereinführung der Sklaverei auf Guadeloupe gewehrt haben, nicht vor (siehe Spalte).

Die Sklaverei wurde hier – nach einer kurzen Zeit der Freiheit zwischen 1794 und 1802 – erst 1848 endgültig abgeschafft. Danach wurde die Erlangung der französischen Bürgerrechte das nächste Ziel. Seit 1946 ist Guadeloupe nicht mehr Kolonie, sondern Übersee-Département Frankreichs, und die Guadelouper sind keine Untertanen mehr, sondern Bürger. „Erst dann ist uns aufgefallen, dass da eine Leerstelle war, dass wir keine eigene Geschichtsschreibung hatten“, erzählt der Historiker Thierry Letang vom MACTe. „Wie kann man wissen, wo man hingeht, wenn man nicht weiß, wo man herkommt? Man kann das alles nicht ewig unter den Teppich kehren.“

Das Viertel Carénage kam immer mehr herunter, nachdem die Fabrik geschlossen worden war. Heute ist zwar noch viel los in der rue Raspail, aber der Trommler Vélo, das Maskottchen der Straße, hat aufgehört zu spielen. Statt der kleinen „Lolo“-Imbisse, wo sich früher alles traf, kann man heute nur noch in zwielichtige Bars einkehren. Die meisten Hütten sind baufällig; immer wieder gerät eine in Brand.

Seit einer Weile werden diese „kariösen Zähne“, die einer Aufwertung des Viertels im Wege stehen, abgerissen und zum Teil durch Sozialbauten ersetzt. Die kleinen Wohnblöcke tragen alle Namen: Einer ist nach dem Leichtathleten Roger Bambuck benannt, dem berühmtesten Sprössling der Darboussier-Fabrik, der von 1965 bis 1968 französischer Meister im 100- und 200-Meter-Lauf war und Ende der 1980er Jahre unter Ministerpräsident Michel Rocard Staatssekretär für Jugend und Familie wurde; zwei andere Blöcke sind nach den Darboussier-Lokomotiven Dégagé und Loupiti benannt, auf denen früher das Zuckerrohr in die Fabrik kam.

Um den Spekulanten zuvorzukommen, hat die Stadt 2002 das brachliegende Industriegelände für etwa 10 Millionen Euro aufgekauft, von dem ungefähr ein Drittel an die Regionalregierung übertragen wurde, um das MACTe zu errichten. Ursprünglich waren 40 Millionen für den Bau veranschlagt worden, am Ende hat er 83 Millionen verschlungen. Die Gedenkstätte ist Teil der Wiederaneignung lokaler Geschichte, wie der Gwo-ka-Trommler, der früher die wilden Nächte von Carénage rhythmisch begleitet hat und den die Unesco zum Weltkulturerbe erklärt hat, und das Kreolische, die früher verbotene Sprache, die heute in den Schulen gelehrt wird.

Mit der Gedenkstätte will man ein neues Kapitel in Guadeloupes Geschichte aufschlagen – auf einer neuen städtebaulichen Achse, die das Stadtzentrum mit der Universität verbinden soll. Das wird ein großer Umbau, und man fragt sich schon, was aus den heutigen Bewohnern des Viertels wird. „Bei der Instandsetzung des Viertels stimmen wir uns voll und ganz mit der Stadt Pointe-à-Pitre ab“, versichert indes Victorin Lurel, Förderer des MACTe, Vorsitzender des Regionalrats und ehemals Minister für Frankreichs Überseeterritorien. „Das Viertel soll das neue Herz der Stadt werden; dafür wird die Gedenkstätte zum wertvollen Bezugspunkt.“ Spekulanten hätten keine Chance.

Das historische Armenviertel Carénage und der Museumspalast

Doch die Anwohner trauen dem Frieden nicht. Sie haben bereits Bürgerinitiativen gegründet, um die Beschwerden einzusammeln. Früher seien die Kinder mit der Großfamilie und den Nachbarn aufgewachsen. Man habe die Häuser immer offen stehen lassen, erinnert sich der Gitarrist Christian Laviso, der in Carénage geboren wurde. „Das alte Viertel ist bedroht – heute lässt man sozusagen das Unkraut wachsen, um hinterher gleich alles umpflügen zu können. Die Gefahr besteht, dass alle alten Häuser abgerissen werden und man einfach alles wegschmeißt.“

Die Fabrik wurde Stück für Stück abgetragen und der Schrott verkauft –   auch Kleinvieh macht Mist. Ausgerechnet durch den Bau der Gedenkstätte ist ein wichtiges Stück Inselgeschichte verschwunden. Nur das Verwaltungsgebäude, in dem früher alle vierzehn Tage der Lohn ausgezahlt wurde, steht unter Denkmalschutz und zeugt noch von der industriellen Vergangenheit; hier soll ein Museum für zeitgenössische Kunst eingerichtet werden. Stehen geblieben ist auch die frühere Essigfabrik, die einst dem Gutsbesitzer Darboussier gehörte, bevor Souques und Cail die Zuckerfabrik bauen ließen. Sie steht auf dem „Hügel der Erinnerung“ und wurde in den Gedenkstättenkomplex integriert. Aber es ist schon merkwürdig, dass die Fabrikmauern komplett geschleift wurden.

Klod Kiavué, der die Gwo-ka-Trommel spielt, hat eine eigene Erklärung dafür: „Bei uns gibt es nur sehr wenige Orte, die der Vergangenheit gewidmet sind, wahrscheinlich weil sie mit zu vielen schlechten Erinnerungen verbunden sind. Die Fabrik hatte zwar eine schöne Fassade, aber sie steht auch für großes Leid. Es gab viele Tote, viele Tränen.“ Kiavué, dessen Vater bei Darboussier Chemiker war, hat ein Stück für 100 Trommler komponiert, das vor einigen Jahren in einer anderen Fabrikruine aufgeführt wurde. Seine Komposition Lizin Tanbou zeichnet den Leidensweg der Zuckerrohrarbeiter nach. Und dennoch – ist es, wie es nach der Gründungsphilosophie des MACTe geht, nicht ein Ding der Unmöglichkeit, die Vergangenheit einfach auszuradieren, wenn man die Zukunft entwerfen will?

„Man wird immer, auch am Ende, zur Erinnerung zurückkehren müssen, zu ihren Schatten und ihren Wagnissen“, schrieb der Philosoph und Schriftsteller Edouard Glissant am Ende seines Vorworts für den Band „Mémoire des esclavages“ („Erinnerung an die Sklaverei“),6 in dem der 1928 auf der Antilleninsel Martinique geborene Autor für die Gründung eines französischen Kulturzentrums zum Gedächtnis an die Sklaverei warb. Am 10. Mai 2001 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, das den Menschenhandel und die Sklaverei, deren Opfer Schwarze wurden, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte. „Das ist eine Erinnerung, der man ausweicht“, meint noch 14 Jahre später der MACTe-Geschäftsführer Pierre Reinette. Eine Erinnerung voller Lücken, die es auszufüllen gilt.

Das neue Zentrum soll es nun ermöglichen, sich im Dienst der Zukunft dieser Vergangenheit zu stellen. „Wir müssen diese pädagogische Arbeit ohne Verbitterung tun“, sagt Reinette. „Kein endloses Wiederholen, sondern ein Überschreiten, um mit Glissant zu sprechen. Trotzdem muss man genau wissen, von welchem Punkt man ausgeht. Manche meinen, wir wühlen nur in der Scheiße, die Sklaverei liege doch hinter uns. Nein – wir haben damit noch nicht unseren Frieden gemacht, denn wir haben die Geister der Sklaverei nicht vertrieben. Wir haben ihre Geschichte nicht erzählt. Nur in Haiti ist das anders. Wir kennen die französische Geschichte, aber nicht die Geschichte, die uns hierhergebracht hat.“

1 Siehe www.unesco.org/new/en/culture/themes/dialogue/the-slave-route.

2 Vgl. „L’indépendantiste Luc Reinette à Paris pour expliquer son refus d’assister à l’inauguration du Mémorial ACTe à Pointe-à-Pitre“, FranceTV Outre-mer, 5. Mai 2015: www.la1ere.fr.

3 Pierre Dockès, „Le Sucre et les Larmes. Bref essai d’histoire et de mondialisation“, Paris (Descartes & Cie) 2009.

4 Georges Brédent, „La rue des Champions“, Pointe-à-Pitre (Jasor) 2002.

5 Nach Cails Tod 1871 war Ernest Souques alleiniger Besitzer von Darboussier. Infolge mehrerer Zuckerkrisen musste Souques die Firma seinen französischen Gläubigern überschreiben. Und so wurde Darboussier Anfang des 20. Jahrhunderts in die Société industrielle et agricole de Pointe-à-Pitre (Siapap) überführt; 1970 fusionierte sie mit der Compagnie française des sucreries zur Société industrielle de sucreries – Société agricole de la Guadeloupe (SIS-SAG).

6 Edouard Glissant, „Mémoire des esclavages“, Paris (Gallimard) 2007.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Jacques Denis ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2015, von Jacques Denis