09.07.2015

Der rote Schlamm

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Der rote Schlamm

Eine Aluminiumfabrik bei Marseille verseucht das Mittelmeer

von Barbara Landrevie

Catrin Bolt, MoMA #16a, Marseille 2010, Fotografie, 40 x 60 cm
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Unweit von Marseille ergießen sich täglich Hunderttausende Tonnen roter Schlamm ins Mittelmeer. Er enthält unter anderem Arsen, Uran 238, Thorium, Quecksilber, Cadmium, Titan, Natron, Blei, Chrom, Vanadium und Nickel. Die giftigen Stoffe kommen aus der 26 Kilometer nördlich von Marseille gelegenen Aluminiumfabrik von Gardanne und verbreiten sich vom Golf von Fos bis zur Reede von Toulon und vermischen sich mit dem schmutzigen Wasser der Rhône.

Sieben Kilometer vor der Küste werden die Abfälle durch ein Rohr Richtung Meer gepumpt, mitten in einem Gebiet, das aufgrund seiner Artenvielfalt im April 2012 zum Nationalpark Calanques ernannt wurde. Seitdem diese Rohrleitung existiert – sie wurde 1966 gebaut – haben sich fast 30 Millionen Tonnen Abfall in 250 Meter Tiefe abgelagert.

Das Aluminiumerz Bauxit wurde schon 1821 in der Gegend entdeckt – in Les Baux (daher auch der Name Bauxit). 1893 ließ der österreichische Chemiker Carl Josef Bayer im nahe gelegenen Gardanne eine Fabrik errichten, in der zum ersten Mal das von ihm entwickelte Bayer-Verfahren angewandt wurde, bei dem das Aluminiumoxid mit Natronlauge aus dem Bauxit gelöst wird und eine beträchtliche Menge rot gefärbter, giftiger Abfälle entsteht.

Heute gehört die Fabrik in Gardanne zum Alteo-Konzern, dem weltweit größten Hersteller von Spezialaluminium, der jeden Tag über 1200 Tonnen Endprodukte exportiert, vor allem für die Herstellung von Flüssigkristallbildschirmen und Touchscreens. Alteo ist hier ein wichtiger Arbeitgeber, der Konzern beschäftigt an seinem Hauptsitz in Gardanne fast 400 Leute, rechnet man die weiterverarbeitende Industrie hinzu, sind es über 1000 Arbeitsplätze.

Von Marseille bis Cassis ziehen die Fischer rot gefärbte Netze und mit Schwermetallen belastete Fische aus dem Meer. Einige Fischarten kommen gar nicht mehr vor. Als die Rohrleitung Anfang der 1960er Jahre geplant wurde, sprach der Biologe und Umweltpolitiker Alain Bombard von einem „Umweltverbrechen“ und von den irreversiblen Schäden dieser Abwasserentsorgung. Gérard Rivoire, Ozeanograf im Ruhestand, macht sich wegen der radioaktiven Strahlung große Sorgen: „Die natürliche Radioaktivität im Mittelmeer liegt bei 12 Becquerel pro Liter Wasser; der Rotschlamm hat beim Austritt aus der Röhre aber mehr als 750 Becquerel pro Liter. Das ist eine große Gefahr für die Meeresfauna und die Nahrungskette.“

Alteo bestreitet das. Die von der Firma in Auftrag gegebenen Untersuchungen seien zu dem Ergebnis gekommen, dass die Abfälle „keinen merklichen Einfluss auf Wassertiere, auch nicht in großer Tiefe“ hätten.1 Der Streit zwischen unabhängigen und beauftragten Experten zeigt, wie schwierig es ist, in Umwelt- und Gesundheitsfragen das Allgemeinwohl geltend zu machen.

„Sie hätten sich schon vor zwanzig Jahren an die Vorschriften halten sollen“, schimpft Corinne Lepage. 1995 hatte die französische Umweltministerin dem Betreiber der Fabrik eine Frist gesetzt. Bis zum 31. Dezember 2015 sollten keine Abwässer mehr ins Meer geleitet werden – womit Frankreich nur das 1976 geschlossene „Übereinkommen von Barcelona zum Schutz des Mittelmeers vor Verschmutzung“ befolgen würde.

Ende dieses Jahres läuft diese Frist nun ab, und der Betreiber hofft bis dahin seine Lösung durchsetzen zu können: Die festen und flüssigen Bestandteile des Abfalls sollen mit Hilfe von Filterpressen voneinander getrennt und später weiterverwendet werden. Bei dieser wundersamen Form der Kreislaufwirtschaft wird der Rotschlamm zu „Bauxaline“ recycelt, einem wasserabweisenden Stoff aus dem Hause Alteo, der vor allem als Schüttmaterial im Hoch- und Tiefbau genutzt wird.

Im Mai 2014 reichte Aluminium Pechiney, die Betreiberfirma der Rohrleitung, bei der zuständigen Präfektur den Antrag auf eine neue Konzession mit 30 Jahren Laufzeit ein, und Alteo versuchte für seine Fabrik in Gardanne neue Konditionen auszuhandeln: Anstatt die Einleitungen wie vorgesehen zu beenden, beantragte das Unternehmen eine Genehmigung für die jährliche Entsorgung von 84 Tonnen flüssiger Abfälle ins Meer.

Mit 30 zu 16 Stimmen erteilte der Verwaltungsrat des Nationalparks Calanques am 8. September 2014 seine Genehmigung – unter folgenden Auflagen: Eine unabhängige Kommission soll die Einleitungen ständig kontrollieren, und der Zustand der Rohrleitungen soll fortlaufend überprüft werden. Offensichtlich fürchteten die Lokalpolitiker, dass die Fabrik geschlossen werden könnte, wenn sie sich nicht auf diesen Kompromiss einlassen würden. Nur haben sie zuvor weder nach den gesundheitlichen Folgen noch nach den Konsequenzen einer möglichen Standortverlagerung gefragt.

Die Entscheidung des Verwaltungsrats sorgte für große Aufregung. Angesichts der Proteste gab Frankreichs Umweltministerin Ségolène Royal schließlich drei Gutachten in Auftrag und ließ am 19. September per Presseerklärung verkünden: „Das Ziel muss sein, gar kein Arsen und keine Schwermetalle mehr ins Meer zu leiten.“

Als Erstes legte das Büro für geologische und bergbauliche Untersuchungen (BRGM) seine Studie vor. Ergebnis: Die Abwässer lagen in sieben Kategorien über den Grenzwerten für flüssige Abfälle in Naturschutzgebieten2 . Um die Abwassermenge deutlich zu verringern, schlug das Büro kombinierte Maßnahmen vor, deren Umsetzung mehrere Jahre dauern würde. Zum Vorschlag von Alteo heißt es in dem Bericht: „Es ist die einzige bis Ende 2015 umsetzbare Lösung, die die Fortsetzung der industriellen Produktion nicht gefährdet.“

„Mehr kann man vom BRGM auch nicht erwarten“, meint die grüne Europaabgeordnete Michèle Rivasi vom Wahlbündnis Europe Écologie Les Verts (EELV), die seit 2010 gemeinsam mit ihrem Parteikollegen, dem berühmten Umweltaktivisten José Bové, für ein Ende der Abwasserentsorgung kämpft. Das BRGM ist nämlich alles andere als unabhängig: Bei dem von der EU geförderten Projekt zur Vermarktung von Bauxaline (Bravo)3 tritt es als Partner von Alteo auf – was Ségolène Royal wohl wissen dürfte.

Das 1984 gegründete französische Forschungsinstitut zur Nutzung der Meere (Ifremer) weist in seinem Gutachten zunächst darauf hin, dass die Quecksilberbelastung des Mittelmeers ähnlich hoch ist wie die aller anderen Ozeane.4 Dann hält es jedoch fest, dass die Quecksilberkonzentration im unterseeischen Canyon von Cassidaigne, also dort, wo die Rohrleitung der Alteo-Fabrik endet, „zwei- bis achtmal so hoch ist wie die geologische Referenz“. Ifremer empfiehlt, im Einleitungsgebiet weitere Daten zu erheben.

Gekaufte Gutachten

Während sich die Aluminiumindustrie hinter den von ihr in Auftrag gegebenen Untersuchungen verschanzt, die „den ins Meer geleiteten Abfällen eine allgemeine Umweltverträglichkeit“ bescheinigen, kam das französische Amt für Lebensmittelsicherheit, Umwelt und Arbeit (Anses) zu einer deutlich kritischeren Einschätzung, auch weil die von Alteo gelieferten Daten ungenügend seien und jedes Urteil erschwerten.5 Die Gesundheitsexperten empfahlen daher weitere Messungen beim Fischfang und verlangten genaue Angaben über die Zusammensetzung der künftigen Einleitungen sowie über die Konzentration der bei der Bauxitverarbeitung frei werdenden Giftstoffe.

Als Ségolène Royal diesen dritten Bericht erhielt, stoppte sie am 7. April 2015 das Planfeststellungsverfahren zu dem Alteo-Vorhaben und verlangte neue Untersuchungenen, diesmal unter Aufsicht von Anses. Nach dem Vorstoß der Umweltministerin wandte sich Alteo prompt an Wirtschaftsminister Macron – offensichtlich mit Erfolg. Jedenfalls ließ Eric Duchenne, die Nummer zwei des Konzerns, kurz darauf verkünden, dass eine Schließung der Fabrik nicht zur Debatte stünde.

Seit Jahrzehnten landen die Abfälle aus der Aluminiumfabrik in Mange-Garri, dem Zwischenlager von Alteo in Bouc-Bel-Air, der westlichen Nachbargemeinde von Gardanne. Nach einer Genehmigung des Präfekten vom 16. November 2012 darf in Mange-Garri noch bis 2021 auch Bauxaline deponiert werden. Im Januar 2015 versetzte der Bürgermeister von Bouc-Bel-Air seine Gemeinde in Alarm: Nachdem Alteo das Austreten von verseuchtem Wasser bekanntgegeben hatte, wurde den Anwohnern rund um die Deponie verboten, ihr Brunnenwasser zu benutzen. Man wolle „jedes mögliche Gesundheitsrisiko vermeiden“, hieß es.

Da keine verlässlichen Daten vorliegen, hat Le Monde diplomatique einige Wasserproben an das Labor für biologische und pharmakologische Toxikologie des Pariser Klinikums Lariboisière geschickt. Diese wurden am 31. Januar 2015 an drei Stellen entnommen: an der Austrittsstelle, in einem privaten Brunnen und am Ende des Rohrs, durch das die Fabrik ihr Regenwasser in den nächstgelegenen Fluss Luynes entsorgt. Darin wurden die gleichen Inhaltsstoffe wie im Rotschlamm nachgewiesen, auch das Uranisotop 238U. In allen drei Wasserproben liegt die Aluminiumkonzentration über der zugelassenen Menge. Die Werte sind höher als in einem vorläufigen Bericht zu den Wasserproben, die die Antea Group im Auftrag von Alteo am 3. und 4. Februar 2015 entnommen hatte. Das Regenwasser enthält zudem große Mengen Arsen.6 Das bedeutet, dass die Deponie von Mange-Garri nicht dicht ist.

Ein weiteres Risiko ist die Radioaktivität, die in der Umgebung der Deponie drei- bis fünfmal über dem Normalbereich liegt. 2006 hatte der Aluminiumproduzent das Unternehmen Algade, Spezialist für Radioaktivität, damit beauftragt, die Auswirkungen auf die Umwelt zu untersuchen.7 Der Algade-Studie zufolge lag die vor Ort gemessene Radioaktivität bei nur einem Zehntel der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte. Alteo zufolge strahlten die Abfälle nicht mehr als natürliche Gesteine wie Granit.

Im November 2014 haben wir eigene Proben entnommen und sie an die Unabhängige Forschungs- und Informationsstelle zur Radioaktivität (Criirad) geschickt. Die Ergebnisse8 weichen zwar nur minimal von den Algade-Messungen ab, aber Criirad zieht daraus völlig andere Schlussfolgerungen. Der Algade-Studie wirft Criirad methodologische Mängel bei der Bestimmung der radioaktiven Isotope vor. Außerdem habe man nicht berücksichtigt, dass der Staub inhaliert wird, und die Langzeitfolgen der chemischen Kontamination in Wechselwirkung mit radioaktiven Stoffen unterschätzt. Die Studie von Algade bleibe auch den Nachweis schuldig, dass in den Abfällen kein gelöstes Radon, Blei oder Polonium enthalten sei. Es ist also keinesfalls sicher, dass die Radioaktivität für die Anwohner ungefährlich ist.

Laut einer EU-Richtlinie von 2013 ist Alteo verpflichtet, vor dem Recycling des Rotschlamms zu Bauxaline die Thorium- und Uranwerte zu messen.9 Die Europäische Kommission hat die Vermarktung des Baustoffs genehmigt, sofern die Mengen den Referenzwert 1 nicht übersteigen. Nach Angaben der Criirad liegt der aktuelle Wert aber zwischen 2 und 4. Um Bauxaline an Bauunternehmen zu verkaufen, die im Hoch- oder Tiefbau tätig sind, müsste Alteo die Radioaktivität senken, indem es sein Produkt mit anderen Materialien mischt.

Ungeachtet der genannten Risiken sind die Kommunalpolitiker jeder Couleur von Bauxaline begeistert und begnügen sich im Allgemeinen mit den Studien, die Alteo liefert. Einer der kooperativsten Volksvertreter ist der Grünen-Abgeordnete François-Michel Lambert, dessen Institut für Kreislaufwirtschaft unter anderem mit Alteo zusammenarbeitet. Der recycelte Rotschlamm ist eines der Vorzeigeprojekte des Instituts, das 2013 von Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Umweltverbänden gegründet wurde.

Während die von Ségolène Royal  in Auftrag gegebenen Untersuchungen auf sich warten lassen, machen sich die Anwohner der Deponie von Bouc-Bel-Air Sorgen um ihre Gesundheit. Wenn der Mistral weht, raubt ihnen der mutmaßlich giftige rote Staub, der sich wie Firnis über ihre Häuser legt und in alle Ritzen eindringt, buchstäblich den Atem. Nach unserer Zählung leiden von den etwa zwanzig Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung der Deponie leben, acht an Krebs, eine an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), fünf haben Probleme mit der Schilddrüse. Monatelang haben die Gemeindevertreter ihren Bürgermeister bearbeitet, er möge das Gesundheitsministerium benachrichtigen. Nun soll der Sache nachgegangen werden.

1 FAQ auf www.alteo-alumina.com.

2 „Rapport final sur l’usine d’alumine de spécialité d’Alteo Gardanne“, BRGM, Orléans, Dezember 2014.

3 „Bauxite Residue and Aluminium Valorisation Operation“, das Projekt wird von der Europäischen Kommission unterstützt.

4 Gutachten von Ifremer zur „signifikanten historischen Kontamination der Meeresumwelt“, Issy-les-Moulineaux, 23. Januar 2015.

5 Wissenschaftlicher und technischer Dienst des Anses, Anrufung Nr. 2014– SA-0223, Maisons-Alfort, 2. Februar 2015.

6 Aluminium wirkt neurotoxisch, Arsen ist krebserregend, verursacht Verdauungsstörungen und kann unfruchtbar machen.

7 Algade ist ein Nachfolgebetrieb von CRPM-COGEMA und gehört heute zu dem Atomkonzern Areva.

8 Der Bericht wurde auf der Website Hexagones.fr im Dezember 2014 veröffentlicht.

9 Richtlinie 2013/59/Euratom, Rat der Europäischen Union, 5. Dezember 2013.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Barbara Landrevie ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2015, von Barbara Landrevie