09.07.2015

Wem gehört Panama City?

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Wem gehört Panama City?

Steuerflüchtlinge, internationale Konzerne und Immobilienspekulanten übernehmen die Stadt

von Allan Popelard und Paul Vannier​

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Das Vorzimmer des Ministers für Kanalangelegenheiten Robert Roy ist vollgehängt mit Fotos von Containerschiffen und Gemälden aus der Bauzeit des Panamakanals zwischen 1880 bis 1914. „Wir erleben in Panama so etwas wie eine Belle Époque,“ sagt er und setzt ein selbstbewusstes Lächeln auf.

Roy wurde nach dem Sieg von Juan Carlos Varela bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2014 in seinem Amt bestätigt. Nun führt er in einer Präsentation vor, welche Perspektiven sich für sein Land eröffnen. „Das Wachstum war noch nie so stark. 1996 durchquerten 235 000 Container den Kanal, 2010 waren es 6,5 Millionen. Und dank der Erweiterungsarbeiten rechnen wir für 2020 mit 12,4 Millionen.“

In Panama City, der am Pazifik gelegenen Hauptstadt, lebt eine Million der 3,8 Millionen Panamaer. Die rege Bautätigkeit hier beweist, dass man von der Verlagerung der Weltwirtschaft in Richtung pazifischer Raum zu profitieren gedenkt. „Wie Sie wissen“, resümiert Roberto Roy, „haben wir seit 500 Jahren mit Logistik zu tun. Grund ist die privilegierte geografische Lage unseres Landes.“

Seit dem 16. Jahrhundert nutzten die Spanier die Landbrücke zwischen Atlantik und Pazifik für ihre Eroberung Südamerikas. Panama City diente als Schnittstelle zwischen Mutterland und Kolonien, das peruanische Gold wurde hier verladen.

Mit der Erschöpfung der Minen verlor die Stadt an Bedeutung. Für die Goldfunde im westlichen Nordamerika ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine Eisenbahn durch Panama gebaut, die Panamá Canal Railway Company, die die Schiffsverbindung zwischen New York und Kalifornien erleichterte. Sie wurde zum wichtigsten börsennotierten Unternehmen. Und mit der Inbetriebnahme des Kanals unter der Ägide der USA wurde der Isthmus endgültig zu deren Hinterhof.1

Während viele lateinamerikanische Staaten ihre Unabhängigkeit durch importsubstituierende Industrialisierung stärkten, wählte Panama den Weg einer „Kommerzialisierung der Souveränität“2 , um seinen Platz in der internationalen Arbeitsteilung zu finden.

Die Entwicklung der Städte wie der Kanalzone orientierte sich an den Bedürfnissen des Welthandels, nicht an denen der Bewohner. Wie viele Karibikinseln wurde Panama ab den 1970er Jahren zur Steueroase. Panama City, das derselben Zeitzone angehört wie New York, stieg zum zweitwichtigsten Finanzplatz des Kontinents auf.

„1969 war ich Wirtschaftsminister“, erinnert sich Nicolas Ardito Barletta.3 „Ich war der Ansicht, dass der Bankensektor gestärkt werden müsse. Damals zirkulierten gewaltige Dollarmengen. Wir haben daraufhin Gesetze erlassen, die die Entwicklung sowohl des Off-shore-Sektors als auch der einheimischen Banken unterstützten.“ Als Adept des neoliberalen Katechismus von Milton Friedman beglückwünscht sich Barletta bis heute für diese Politik. „Seitdem sind wir die am stärksten finanzialisierte Volkswirtschaft Lateinamerikas. Vor der Verabschiedung dieser Gesetze gab es in Panama nur 12 ausländische Banken, zehn Jahre später waren es 125. Die Bankeinlagen sind von 800 Millionen auf 47 Milliarden Dollar angewachsen. 25 000 Menschen arbeiten im Bankensektor.“

Dank gesetzlicher Ausnahmeregelungen und eines Netzes von Konsulaten in allen großen Welthäfen ist das Steuerparadies auch ein Zentrum der Billigflaggen-Schifffahrt. Weltweit fährt fast ein Viertel aller Schiffe unter panamaischer Flagge. Das Land, das sich auf den Verkauf von Souveränitätsrechten spezialisiert hat, besitzt keine unabhängige Währung und hat 1990 seine Armee aufgelöst.

Entlang der Küste erstreckt sich über zehn Kilometer das Geschäftsviertel von Panama City. Die Stadt verdankt ihr Wachstum der Ausbeutung von transnationalen Kapitalbewegungen. Der Immobiliensektor wird durch Spekulationen angeheizt: Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Quadratmeterpreis vervierfacht.

Wie aufgereihte Masten stehen die Hochhäuser am Ufer. Nachts, ohne irgendein Licht in den Fenstern, verschwimmen sie zu einer Felskette vor dem Meer. In den leeren Apartments von Panama City schläft nur das Geld.

Transnationale Unternehmen haben hier ihren Sitz, im Gefolge entstanden Luxushotels und teure Wohnsiedlungen. Die letzte Extravaganz: Ocean Reef Island, ein an Dubai erinnernder Archipel künstlicher Inseln. Nichts davon hat die öffentliche Hand geplant.

„Man hat alles der Privatinitiative überlassen“, sagt der Stadtplaner Álvaro Uribe (ein zufälliger Namensvetter des kolumbianischen Expräsidenten). „Der Staat hat erst später den Anschluss der neuen Viertel an das Elektrizitäts-, Wasser- und Straßennetz übernommen.“

Diese dem Markt überlassene Stadtentwicklung ist ein Paradebeispiel für oligarchische Raumproduktion. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben reiche Unternehmer immer neue Gebiete in Angriff genommen. Der Bananenkönig Menor Keath errichtete in den 1910er Jahren das Viertel Bella Vista. Vierzig Jahre später baute die Familie Duque, Eigentümerin eines großen Pressekonzerns, das schicke Viertel Cresta. Jüngster Avatar dieser privatisierten Baugeschichte ist das Viertel Costa del Este.

„Es begann Anfang der 1990er Jahre“, berichtet Uribe. „ Ein Geschäftsmann, Roberto Motta, sah den Bau der Autobahn zwischen Zentrum und Flughafen voraus und kaufte viele kleine Parzellen auf einer ehemaligen Mülldeponie.“ Aus dem Gelände hat er eines der begehrtesten Quartiere gemacht. Zahlreiche venezolanische Emigranten auf der Flucht vor der „bolivarianischen Revolution“ leben dort. Auf der Strandpromenade, wo Jogger unter Palmen trainieren, hat sich Motta selbst ein Denkmal gesetzt.

„Lange Zeit hatten die zehn mächtigsten Familien des Landes mit dem Kanal nichts zu tun“, erzählt Marco Gandasegui, Professor für Soziologie an der Universität Panama. „Der befand sich in den Händen der Amerikaner, also mussten sie sich anderweitig spezialisieren. Als Anfang des 20. Jahrhunderts 60 000 Menschen für den Kanalbau ins Land kamen, stellten sie die Unterkünfte. So haben sie beträchtliche Vermögen mit Immobilienspekulation gemacht.“

2013 betrug das Wachstum im Immobiliensektor 29 Prozent gegenüber 8 Prozent beim Bruttoinlansprodukte. 40 Prozent der Bevölkerung von Panama City lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Hälfte hat keinen Zugang zu Trinkwasser. Dennoch entsteht keine sichtbare Oppositionspartei. Bei den Wahlen geht die Macht von einer Oligarchenclique zur anderen über.

Die Immobilienentwickler stellen selbst ihre Visa aus

Im schlammigen Hafen von Boca la Caja hängt Luis Alberto Mendoza seine Netze auf. Das Armenviertel liegt im Herzen des Businessdistrikts – zwischen Multiplaza, dem größten Shoppingcenter der Hauptstadt, und der Küstenautobahn Corridor Sur. Es besteht nur aus ein paar Dutzend Hütten aus Wellblech und Holz und wirkt mit seinen Obstbäumen und dem Kleinvieh wie eine bäuerliche Enklave – direkt neben den Grundmauern einer Bauruine. Nach dem Bankrott der spanischen Eigentümer wurden die Bauarbeiten an dem einst größten Immobilienprojekt der Hauptstadt eingestellt.

150 Fischer verdienen sich hier mühsam ihren Lebensunterhalt und nutzen eine Tunnelröhre unterm Autobahndamm, um aufs Meer zu gelangen. Sie haben viele Stürme überstanden, aber einige werden nun von der kalten Flut der Spekulation erfasst. Juan Rodríguez rechnet es vor: „Mir gehört ein Grundstück von 150 Quadratmetern, das meine Eltern damals für 2800 Dollar gekauft haben. Jetzt kann ich es für 2000 bis 3000 Dollar den Quadratmeter loswerden, also für mehr als 300 000 Dollar. Damit kann ich mir in Arrajian oder noch besser in Tocumen etwas kaufen.“ Schon viele sind in diese Vororte gezogen.

Die Verbannung der Armen an die Peripherie hat sich mit der touristischen Aufbereitung des historischen Stadtkerns Casco Antiguo beschleunigt. Das einst heruntergekommene, verrufene Viertel, das 1997 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, hat sich völlig verändert.

Die Fahrbahnen wurden neu gepflastert, Stromleitungen unterirdisch verlegt, Straßenbeleuchtungen erneuert, ein bewachter Parkplatz wurde angelegt – und die Unterschicht aus dem Viertel vertrieben. Zugemauerte Türen und Fenster zeugen von Wohnungsräumungen, aufgehübschte Fassaden und lackiertes Holz von Restaurierungsarbeiten. Nun bewegt sich die Gentrifizierungswelle auf das Elendsviertel Chorillo zu. Noch trennt eine von Polizisten bewachte Straße die beiden Welten voneinander.

„In der Altstadt von Panama City“, fasst Eduardo Tejeira Davis, Architekt verschiedener Museen des Casco Antiguo, die Situation zusammen, „wiederholt sich der Prozess, den wir in allen lateinamerikanischen Städten erlebt haben. Es hat in den 1950er Jahren in San  Juan,  Puerto  Rico,  angefangen, sich im guatemaltekischen Antigua in den 1960er und 1970er Jahren und in Cartagena, Kolumbien, in den 1980er und 1990er Jahren fortgesetzt. Hier hat es in den 2000er Jahren begonnen. Der einzige Unterschied besteht in den ­Leuten, die investieren und hierherziehen. Im alten kolonialen Zentrum von Pa­nama City sind es vor allem Ausländer.“

Europäer, Nordamerikaner und Kolumbianer kaufen die schönsten Kolonialbauten auf, teilen sie auf und verkaufen sie weiter. „Sie holen fünf- bis zehnmal so viel heraus, wie sie investiert haben“, schätzt Tejeira.

Die Ergebnisse dieser „Politik der strategischen Verschönerung“4 sind offensichtlich. 1997 kamen 421 000 Touristen ins Land, 2014 waren es mehr als 1,6 Millionen. Panama und seine Hauptstadt sind nach Costa Rica zum zweitwichtigsten Reiseziel der Region geworden. Man kommt hierher, um in den Gassen der Altstadt zu flanieren, die Einfahrt der Frachter in die Kanalschleusen zu beobachten und in den riesigen Einkaufscentern zu shoppen. Der Flughafen von Tocumen, Drehkreuz von Copa Airlines, ist der wichtigste Luftknoten Mittelamerikas, die Kreuzfahrtschiffe der Karibik stoppen in Panama.

Seit Anfang der 2000er Jahre arbeiten die Behörden an der Umwidmung der ehemaligen US-Militärbasen. Die Stützpunkte, die 1999 an Panama zurückgegeben wurden5 , waren einst berüchtigt als Ausbildungsorte rechter Militärs und Ausgangspunkt von Interventionen gegen linke Regierungen Lateinamerikas.

Auf dem ehemaligen Luftwaffenstützpunkt von Howard, 10 Kilometer vom Zentrum entfernt, entsteht auf der anderen Seite der Puente de las Américas, der großen Brücke über den Panamakanal, direkt an der Küste das Wohn- und Gewerbegebiet Panamá Pacífico. Von Dschungel bedeckte Berge, heranrollende Wellen, Stacheldraht, Vogelgeschrei in Endlosschleife, Checkpoint, Verbotsschilder: Bis zur niedrigen grauen Kuppel des Himmels ist alles ein geschlossener Raum.

Roberto Pereira vom Immobilienkonzern London and Regional beugt sich über das Modell des 1400 Hektar großen Projekts. Er hantiert mit seinem Tablet, kleine rote Lichter blinken auf. „Dort bauen wir den Business Park, hier planen wir 20 000 Wohnungen.“ Mit ihren Banken und Schnellrestaurants, ihren Siedlungen und Golfplätzen mutiert die frühere Militärbasis allmählich zur nordamerikanischen Vorstadt. Die Kampfflugzeuge und grünen Uniformen werden von Privatjets und dunklen Anzügen abgelöst. Doch die alten Baracken sind noch zu erkennen und an den Hangars prangt in roten Lettern die Schrift USMC (United States Marine Corps).

Für die Errichtung von Panamá Pacífico ist eine staatliche Behörde zuständig, die alle öffentlichen Aufgaben, mit denen Investoren zu tun haben, unter einem Dach bündelt. Sozialversicherung, Arbeitserlaubnis, Baugenehmigung und Visum werden an Ort und Stelle angefertigt und ausgehändigt, niemand muss dafür in die Innenstadt fahren. Diese Ausnahmeregelungen sind durch das „Gesetz zur Investitionssicherheit“ von 2004 geschützt.

Beim gescheiterten ersten Kanalbauprojekt am Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einem riesigen Finanzskandal, der zahllose Anleger in den Ruin trieb – und einige Staaten veranlasste, neue Gesetze zu verabschieden. In Frankreich beispielsweise wurde eine Steuer eingeführt, die finanzielle Transaktionen an der Börse belastete (sie wurde erst 2007 wieder abgeschafft).

Ein Jahrhundert später ist das mobile und globalisierte Kapital wieder munter dabei, den Staat und seine Hauptstadt zu Instrumenten seiner eigenen Bedürfnisse zu machen.

1 Vgl. Toni Keppeler, „Hundert Jahre Panama-Kanal”, Le Monde diplomatique, August 2014.

2 Ein Begriff des Ökonomen Ronen Palan: „Paradis fiscaux et commercialisation de la souveraineté de l’Etat“, L’Economie politique, Nr. 15, Paris, 2002/3.

3 Präsident Panamas 1984/85, der wegen Differenzen mit General Noriega, dem Chef der Streitkräfte und faktischen Machthaber, zurücktreten musste.

4 Der Begriff wurde von Walter Benjamin verwendet, um den Umbau von Paris durch Haussmann zu beschreiben; er verweist auf das doppelte Motiv der „großen Bauarbeiten“: Es ging sowohl um Modernisierung als auch um eine bessere Kontrolle des urbanen Raums auf Kosten des Proletariats.

5 Als Ergebnis der 1977 vom US-Präsident Jimmy Carter und dem panamaischen Staatschef Omar Torrijos unterzeichneten Verträge.

Aus dem Französischen von Raul Zelik

Allan Popelard und Paul Vannier sind Geografen.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2015, von Allan Popelard und Paul Vannier​