13.07.2007

Beste Absichten und viel Schlamm

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Beste Absichten und viel Schlamm

In Venezuela kommt die bolivarische Revolution zu den Indianern – mit Generatoren und Funktionären von Maurice Lemoine

von Maurice Lemoinevon Maurice Lemoine

Chávez kam – und es ward Licht. Dieser Chávez, mit Vornamen Hugo, war gerade zum Präsidenten der Republik Venezuela gewählt worden. Eine seiner ersten Reisen führte ihn 1999 nach Saimadoyi, der kleinen Hauptstadt der Barí-Indianer. Sie liegt in der Sierra de Perijá (Bundesstaat Zulia) im äußersten Westen des Landes – nicht weit vom Maracaibo-See, auf dessen spiegelglatter Oberfläche sich ein Wald von Bohrtürmen erhebt. 1922 wurde hier zum ersten Mal Öl gefördert. Auf der anderen Seite fängt Kolumbien an. Die Indianer leben hier unter elendsten Bedingungen in soiacas, mit Palmzweigen bedeckten Erdbauten. Und dann tauchte „Chávez“ auf. „Wir hatten kein Licht, wir lebten in der Dunkelheit. Er hat gesagt: ‚Ich werde euch Strom schicken.‘ “

Der Präsident hat Wort gehalten: Der Strom ist da, auch in allen umliegenden Dörfern. Dazu der große überdachte Basketballplatz La Cancha und ein Gesundheitszentrum. Eine neue Schule ist im Bau, es gibt Stipendien für Studenten, einen Kleinlaster zur Anbindung an die Außenwelt. Alles von der bolivarischen Regierung gestellt und bezahlt, wie auch die Rinderherde der Nachbargemeinde Bachichira. Hector Okbo Asokma, der Kazike der 700 Einwohner von Saimadoyi, ist sehr dankbar: „Dieser Chávez hat uns gesehen, und die Verhältnisse haben sich geändert. Wir lieben ihn sehr.“ Ja, aber …

Armer „Chávez“, möchte man fast schreiben. Kaum hat er ein Problem gelöst, taucht schon das nächste auf. 1999 kam er im Hubschrauber nach Saimadoyi, hat also die Straße nicht gesehen, das heißt, die Piste oder was als solche dient. Wenn man mit dem Auto von der nächstgelegenen Stadt Machiques kommt, die etwa achtzig Kilometer entfernt ist, kann man einiges erleben. Zunächst muss man sich zusammen mit sechzehn Mitreisenden in einen rustico quetschen, ein Auto von der Größe eines VW-Busses, der zuvor mit Säcken, Schüsseln, Körben und allem möglichen Kram sowie Ersatzreifen und einem Werkzeugkasten vollgeladen wurde. Dann muss man eine Sitzposition finden, in der man keine Krämpfe bekommt. Jetzt heißt es, sich zu entspannen. Bis die Bremsen an einem besonders steilen Abhang versagen.

Der rustico rast mit voller Geschwindigkeit in ein tiefes Matschloch und kommt darin zum Stehen, glücklicherweise ohne größeren Schaden; dafür wurden, weil die Seitenfenster wegen der infernalischen Hitze immer offen stehen, alle Passagiere kräftig mit Schlamm bespritzt.

Nachdem die Reparatur vor Ort in „einiger Zeit“ durchgeführt wurde, geht es weiter. Wir erreichen den ersten río. Auf den Berggipfeln hat es geregnet, das Wasser stürzt herab und überschwemmt die Ufer. Wir müssen umkehren, hier kann man die Furt nicht durchqueren. Ein Passagier kommentiert die Katastrophe genervt: „Es ist jedes Mal das Gleiche, man kann nichts voraussehen und nichts planen.“

In der Gegenrichtung von Saimadoyi nach Machiques ist es zwangsläufig dasselbe Spiel. Sobald ein Unwetter losbricht, geht gar nichts mehr. Die Reisenden, die zwischen zwei ríos gefangen sind, müssen die Nacht unter freiem Himmel verbringen und sind den Moskitos im Wald schutzlos preisgegeben. Die einzige Umgehungsmöglichkeit, die auch „einige Zeit“ in Anspruch nimmt, führt durch die steilen Berge. Zu Fuß, beladen mit Lasten und kleinen Kindern, klettert man hier einen kaum erkennbaren Pfad entlang. „Bei einem Notfall, wenn man jemanden ins Krankenhaus bringen muss, dann wird das Leben sehr schwierig“, seufzt Alvaro Akondakai Konta, ein ruhiger, langsam sprechender Indianer. Andere zeigen sich weniger umgänglich: „Und was ist mit der Landesregierung, die Millionen und Abermillionen von Bolivares verschwendet? Wo geht das alles hin? Wir fordern eine echte Straße mit Brücken!“

Hier fordert man also. Ein unglaubliches Volk, diese Barí. Im Spanien der Conquista nannte man sie „Motilones“. Sie waren sehr tapfer und stolz, leisteten mit Lanzen und Pfeilen Widerstand. Ihr Ruf verbreitete sich bis nach Madrid und Sevilla, wo man reimte: „Los indios Motilones te cortaron los cojones“ – „Die Motilones-Indianer haben dir die Eier abgeschnitten.“

Selbst die Republik hat sie nicht besiegt. Sie hatte für diese „Wilden“ nur Verachtung übrig. Lange Zeit galt es als Kavaliersdelikt, einen Indianer zu töten. Die einen hatten Kugeln, die anderen nur Pfeile. Die Barí gehörten zu den letzten Ureinwohnern, die Kapuzinermissionare und damit die „Zivilisation“ an sich heranließen. Erst in den 1960er-Jahren kamen sie aus den Bergen, nahmen Kontakt mit den Kreolen auf und ließen sich in Dörfern nieder.1

Gemeinschaftsarbeit steht an. Die Indianer, Sozialisten avant la lettre, arbeiten im Kollektiv. Die Männer machen sich im Kleinlaster „von Chávez“ und dem des Pfarrers auf den Weg. Ja, es gibt hier tatsächlich einen spanischen Padre: Er lebt seit 32 Jahren bei den Barí, ist kein Revolutionär, kämpft aber für ihre Sache. Man fährt los zum río Ogdavia. Der Fluss ist durch die Unwetter stark angeschwollen und schneidet Saimadoyi von der Außenwelt ab. Schließlich rührt Caracas keinen Finger und der Gouverneur auch nicht. – Wer? Der Gouverneur des Bundesstaats Zulia? – Äh … – Wie er heißt, weiß keiner.2 Man weiß noch, dass er der Oppositionskandidat bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 2006 war. Er wollte „unseren comandante Chávez“ ersetzen, „aber für die Indianer interessiert er sich einen Dreck: Er hat noch nie etwas für uns getan.“

Die Barí wollen ihr Land zurück

Das Wasser steht ihnen bis zur Hüfte. Eine Säge nimmt den riesigen Haufen in Angriff, den die aufgewühlten Elemente hinterlassen haben und der jetzt das Flussbett direkt unterhalb der Furt blockiert. Jeder erledigt seine Aufgabe, der kleine Stamm ist gut organisiert. Ein Baum wird gefällt, dann ein zweiter. Die Männer stoßen, ziehen, schwitzen, bis die Erschöpfung siegt, ein paar Minuten Verschnaufpause, dann geht es von vorne los. Nach einem Tag Schwerstarbeit ist ein Staudamm errichtet, der Strom umgeleitet, die Furt mit Steinen und Kieseln neu befestigt. Der erste Kleinlaster fährt unter Applaus hindurch – die Straße ist wieder frei. Doch für wie lange?

Barí, Pemón, Warao, Kariña, Chaima, Yarabana, Kurripaco, Yukpa, Wayúu, Hoti, Jivi, Pume – das sind nur einige der 35 Urvölker, die nach der Volkszählung von 2001 etwa 535 000 Menschen (2,1 Prozent der Gesamtbevölkerung) umfassen. Sie leben in den unzugänglichsten und am dünnsten besiedelten Regionen des Landes. Die Diskriminierung ist allen gemeinsam: Bis Ende der 1990er-Jahre praktizierte Venezuela die rückständigste Indianerpolitik des gesamten Kontinents.

Doch dann: Auftritt Präsident Chávez, gewählt Ende 1998. Das Erbe seiner Großmutter, einer Pume, machte ihn zum Anwalt der indigenen Völker. Als Präsidentschaftskandidat verpflichtete er sich 1998 darauf, „die historische Schuld“ des Staates gegenüber den Indianern „zu tilgen“. Mit der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung im Jahre 1999 beginnt die neue „bolivarische“ Führung zu handeln.3

Der Grad der Integration der indigenen Völker ist sehr unterschiedlich – von den Wayúu (auch Guajiro genannt), die völlig assimiliert leben, bis zu den Yanomami im amazonischen Dschungel, die keinen Kontakt zur restlichen Gesellschaft unterhalten. Die vergleichsweise jungen Indianerverbände, die keine Bündnispartner in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben, leiden unter internen Spaltungen. Manche, wie die der Wayúu in Maracaibo, haben sich traditionellen Parteien angeschlossen, vor allem der sozialdemokratischen Acción Democrática.

Die Situation in Venezuela ist nicht mit der in Ecuador oder Bolivien zu vergleichen, wo mächtige indigene Bewegungen regelmäßig das politische Leben aufmischen. „Hier waren es die Kreolen, die einen politischen Raum geschaffen haben, es war nicht der Druck durch die Indigenen“, bemerkt der Soziologe und Anthropologe Daniel Castro aus Maracaibo. „Der Umbau des Landes unter Chávez hat bei ihnen jedoch wieder die alten Erwartungen geweckt, ihr Land wiederzubekommen und ihre Lebensweise zu erhalten.“

Die Einladung, an der Verfassung mitzuwirken, setzte auch bei den Indigenen eine Entwicklung in Gang. Im Juli 1999 wählten die 600 Delegierten des Indianer-Nationalrats von Venezuela (Conive) drei Abgeordnete für die verfassunggebende Versammlung. Mit ihren von der Basis erarbeiteten konkreten Vorschlägen trafen sie auf 128 kreolische Abgeordnete. Jetzt galt es, ihre Ideen durchzusetzen.

Der größte Widerstand kam aus den Unternehmen, die die natürlichen Ressourcen ausbeuten möchten, und den ihr dienstbaren Medien – in einem Wort: von der Opposition. Aufseiten der Chavisten warnte der Sicherheits- und Verteidigungsausschuss, dessen Mitglieder ehemalige Offiziere sind, vor einem Angriff auf die Souveränität und Integrität der Nation. Auch das wurde von einem Chor der Zeitungen und Fernsehsender verbreitet. Es gab konfliktgeladene Diskussionen und heftige Debatten. Schließlich wurden am 3. November 1999 die „Rechte der indigenen Völker“ verabschiedet. Dieser Text diente als Vorlage für das 8. Kapitel der bolivarischen Verfassung, die mit dem Referendum vom 15. Dezember mit 71 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen wurde; die Wahlbeteiligung betrug 60 Prozent. Was die Rechte der indigenen Völker betrifft, ist diese Verfassung die fortschrittlichste in ganz Amerika.

Tucupita, ein trübseliger Weiler. Hier endet die Straße, und das große Amacuro-Delta beginnt, durch das sich der Orinoco im Nordosten Venezuelas in den Atlantik ergießt. Ein gigantisches Labyrinth von caños (Kanälen) durchzieht den Dschungel und die Mangrovenwälder des Warao-Territoriums. Der Duft von Wasserpflanzen und Seerosen treibt langsam auf der Strömung. Nach und nach verschwindet alles in der Abenddämmerung. Die Vögel sind verstummt. Unter Motorengebrumm fährt unsere Piroge in der Mitte des Flusses in die Dunkelheit hinein.

Eine kleine Ansammlung schwacher Lichter taucht auf: Guarakajara de la Horqueta. Am Fuße eines jeden palafito – einer großen, auf Pfählen errichteten Hütte – zeichnet sich ein Landungssteg ab. Die Pfahlbauten haben keine Wände, nur ein langes, bis zum Boden reichendes Dach aus temiche-Palmen. In der Nähe brummt ein Generator.

José Gregorio Aramillo, ein junger Warao aus Tucupita, erklärt lächelnd: „Alle Gemeinden müssen Strom haben, hat der Präsident gesagt. Telefon auch.“ Er zeigt mit dem Finger auf einen Telefonapparat im Regal. „Die Leute rufen sich jetzt von einem Ort zum anderen an. Mit dieser Regierung hat sich viel verändert. Aber wir sind immer noch Warao: Wir müssen unsere Sprache und unsere Lebensweise behalten.“ Eine furchterregende Herausforderung. Auf dem Fußboden aus manaca-Palmstämmen sitzen etwa zwanzig Indianer und starren wie hypnotisiert auf einen Fernseher, an den ein DVD-Player angeschlossen ist. Auf der Mattscheibe lassen die Sängerinnen der ecuadorianischen Gruppe Caramelos calientes (Heiße Bonbons) in Stringtanga und Mini-BH lasziv Hüften und Brüste kreisen.

In Guarakajara leben etwa 500 Einwohner – vom Handwerk, von kleinen Pflanzungen (sogenannten conucos), von der Jagd und vom Fischfang. Die Warao, die „Meister der Piroge“, waren ursprünglich Nomaden. Seit einigen Jahren werden sie sesshaft. Anstelle von Kalebassen benutzen sie jetzt Plastikschüsseln, statt Pfeilen Gewehre. Die lokalen Nahrungsressourcen werden knapp, Mangelernährung ist die Folge. Manche erhalten Lohn – daher der Fernseher –, weil sie in der Schule oder in der Krankenstation arbeiten. Andere haben gar nichts. „Es gibt keine Arbeit, keiner hilft uns.“ Sie führen ein neues Leben, sind jetzt ein Stück weit integriert. Und während sie endlos über den Wald, den Fluss, die Natur und die Umwelt erzählen, schwimmt vor den Hütten der Müll: Tonnen, Säcke und Plastikflaschen. Eine ekelerregende Kloake.

Das Delta wurde jedoch nicht einfach seinem tristen Schicksal überlassen. „Die Regierung hat viele Außenbordmotoren gestiftet, um den Transport von einem Ort zum anderen zu erleichtern“, sagt ein Warao. 2006 wurden Gemeinderäte eingerichtet, damit die Einwohner ihre Bedürfnisse anmelden, bei den zuständigen Behörden vorbringen und selbst ihren Haushalt verwalten können, und diese Räte haben Kredite erhalten. Auch hier? Als Antwort schenkt uns Deserios Silva ein Lächeln. „Wir haben unseren Rat gewählt, und ich bin der Verantwortliche. Das ist neu, es ist gut. Aber ich habe nichts gelernt, ich kann keinen Antrag schreiben.“ Anscheinend geschieht auch nichts.

Doch der Schein trügt. Maria Chavy, Koordinatorin des Ministeriums der Volksmacht für Arbeit und Sozialentwicklung (Minpares), rauscht in einer Gischtwolke durch die vier municipios des Deltas: Tucupita, Casa Coíma, Antonio Díaz und Pedernales. Ihre Aufgabe ist es, die kommunale Verwaltung aufzubauen und zu stärken. Teilweise mit Erfolg: Mit Hilfe ihrer Gemeinderäte konnten die 19 rein indigenen Gemeinden des municipio Pedernales ihre sozialen und wirtschaftlichen Projekte – Fischfang, Kultur, Handwerk – weiterentwickeln. Aber eben auch mit Schattenseiten, wie in Guarakajara.

„Die Warao sind von Natur aus organisiert. Aber ihre Kultur ist nur mündlich überliefert. Unsere Rolle besteht darin, ihnen beizubringen, wie sie mit Institutionen kommunizieren können, und die Behörden darauf vorzubereiten, ihnen entsprechend zu antworten.“ Eine ungeheure Aufgabe. Über etliche Jahre haben sich so viele Rückstände angesammelt, und trotz des erklärten Willens der Regierung bleiben viele Hindernisse bestehen. „In vielen Fällen haben wir Probleme mit Politikern, die sich in Gemeinden hineindrängen und die Projekte verändern. In anderen Fällen profitieren leider nur einige wenige von den gemeinsamen Ressourcen.“

Gauner, Kaziken und gewählte Räte

Es gilt, sich von einigen Mythen zu verabschieden. „Bloß weil man Indianer ist, ist man ja nicht vollkommen“, sagt Daniel Castro lächelnd. „Auch in dieser Welt gibt es Korruption und Konflikte.“ So verhält es sich auch in La Culebrita, einem weiteren Dorf im Delta. Der gleiche Fluss, die gleichen Pirogen und palafitos. Doch hier werden die Projekte des Gemeinderats verwirklicht: zehn Boote und Netze, um den traditionellen Fischfang wieder zu beleben, Kredite zum Bau von Latrinen. Und, natürlich, die Elektrizität („und Chávez kam …“), die mit für Dauerbetrieb ausgelegten Generatoren gewonnen wird. Der Diesel dafür kommt von der Regierung, umsonst. Alles wunderbar?

Doch leider ist der plantero – der für den Betrieb verantwortliche Warao – ein Gauner. „Er macht den Generator erst um 16 Uhr an und macht ihn um 22 Uhr wieder aus, und behauptet, das Gerät geht kaputt, wenn es länger läuft. Und für die paar Stunden müssen wir ihm auch noch den Diesel bezahlen.“ Und wohin gelangt der restliche Treibstoff? Das Wasserlabyrinth des Flussdeltas ist für Schmuggel bestens geeignet. Die Inseln Trinidad und Tobago vor der Küste sind nicht weit entfernt, dort kauft man gern günstigen Diesel. In La Culebrita sind die Leute immer noch genauso arm wie vorher. Mit den schmalen Einkünften aus ihrem Handwerk bezahlen sie jetzt ihren Strom.

Widersprüche überall. Auch die Gemeinderäte selbst verursachen mancherorts Probleme.4 Bei den Barí, deren Gesellschaft eine hierarchisch aufgebaute Demokratie ist, passen die Räte gut in die traditionellen Strukturen. Bei den Warao oder den Yukpa sind die Autoritäten, die Kaziken, Ältestenräte oder Schamanen, jedoch gar nicht gut auf die neu gewählten Gemeinderäte zu sprechen, da diese ihre Macht beschneiden. Spaltungen sind die Folge. Die indigenen Einwohner von Mérida lassen sich von Parteipolitikern einschüchtern, die in manchen Fällen noch über eine Machtbasis vor Ort verfügen.

Außerdem haben Kreolen und indigene Gemeinden ganz unterschiedliche Vorstellungen von Zeit und Geld. Für die Indianer existiert der Begriff einer „Investition“ nicht. Daniel Castro kommentiert: „Der Erfolg der Gemeinderäte in unserem Land beruht darauf, dass sie von einer Organisation des Volkes beauftragt sind. Bei den Indianern ist die Situation komplexer. Aber trotzdem verstehen sie sehr gut, was da läuft, und sie versuchen, es in ihre eigenen Vorstellungen zu übertragen. Das geht viel langsamer als im Rest des Landes, aber der Anfang ist gemacht.“

Zurück zu den Barí. Sie sind zufrieden – einerseits. „Die Vorgängerregierungen haben nichts getan. Wir haben Probleme, aber dieser Chávez hilft uns, und dafür danken wir ihm.“ Andererseits gibt es jede Menge Unzufriedenheit und Ärger. Am 12. Januar 2001 wurde das Gesetz zur Grenzziehung um die indigenen Gebiete verabschiedet. Jetzt schreiben wir das Jahr 2007. Wie im Gesetz vorgesehen haben die Indianer die Grenzen ihrer Territorien markiert. Nach langen Diskussionen mit den Alten, den Chefs, den Dorfschullehrern und den Bauern haben sie die Berge, die die Spuren ihrer Ahnen tragen, die heiligen Stätten und die Jagdgebiete gekennzeichnet. Alles ist fertig. Sie haben es sogar fertiggebracht, nicht auf diejenigen – Öko-Aktivisten, die sich als Anarchisten bezeichnen – zu hören, die sie dazu bringen wollten, noch einen Schritt weiterzugehen und das Gebiet der Barí , das „früher“ das ganze Land bis Maracaibo umfasste, zu beanspruchen. „Von der Grenzregion río de Oro bis zum río Santa Rosa, zweitausend Hektar, das fordern wir als Barí.“ Nicht mehr und nicht weniger.

Am 12. Oktober 2006 haben die Behörden ihnen den Rechtstitel des „Kollektiveigentums“ in Aussicht gestellt. „Und seitdem nichts! Nichts ist mehr passiert!“ Was geht hier vor? Niemand weiß etwas. Da die Bevölkerungsdichte in dem Gebiet sehr gering ist (es sind nur ungefähr 1 600 Menschen), nehmen manche an, die Verleihung dieses Rechtstitels käme der Schaffung eines latifundio, eines Großgrundbesitzes gleich. Andere schimpfen über die Untätigkeit und Unfähigkeit der Funktionäre. Es heißt, die Armee habe Angst, die Barí könnten zu viel Autonomie in der Grenzregion zu Kolumbien bekommen, die für die Sicherheit des Landes besonders wichtig ist. Man erinnert sich an die Ansprüche der Großgrundbesitzer. Aber die Befürchtungen haben vor allem mit den Bergbauunternehmen zu tun, denn die haben eindeutige Gründe, die Grenzziehung zu verhindern.

Das Gesetz sagt ganz deutlich: Sobald die indigenen Völker in den Besitz ihres Landes gelangt sind, muss man sie fragen, wenn es um die Ausbeutung natürlicher Ressourcen auf ihrem Territorium geht; letzten Endes dürfen sie darüber entscheiden. Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt. Früher – „vor unserem Präsidenten Chávez“, wie man hier sagt – konnten die von der Steuer befreiten Bergbauunternehmen Gewinne anhäufen und Flüsse und Wälder zerstören, da sie keinerlei Umweltauflagen erfüllen mussten. In der Folge kam es unweigerlich zu – manchmal gewalttätigen – Konflikten, in denen die Indianer der Polizei, der Nationalgarde oder der Armee gegenüberstanden.

Staatliche Unternehmen gegen Indianer

Die wichtigsten Bundesstaaten mit indigener Bevölkerung (Amazonas, Bolivar und Zulia) verfügen über beträchtliche und strategisch wichtige Bodenschätze: Uran, Gold, Edelmetalle, Kohle. Und eines wissen die Barí schon längst: Sobald sich Politiker und Grundbesitzer für die Sierra de Perijá interessieren, werden anstelle von Bäumen Geldscheine wachsen und die große Verwüstung wird kommen. Sie betrifft nicht nur die Indianer selbst. Denn die Sierra versorgt die Stadt Maracaibo mit Wasser und daran mangelt es häufig.

Unter den vorigen Präsidenten Venezuelas wurden bereits zwei Kohleminen im Norden der Provinz Zulia erschlossen, dort, wo die Wayúu, die Barí und die Yukpa leben. Die staatliche Entwicklungsgesellschaft der Region Zulia (Corpozulia) arbeitet mit multinationalen Gesellschaften zusammen und führt gemeinsam mit ihrer auf Kohleförderung spezialisierten Tochterfirma Carbozulia bereits eine große, sehr gut dotierte Kampagne samt Lobbyarbeit für die Erweiterung ihrer Aktivitäten. Seit zwei Jahren wird dieser stumme Kampf ausgetragen. Manchmal führt er auch zu internen Konflikten unter den Indianern. In den Minen arbeiten 7 000 Menschen beim Abbau, Transport und Export, darunter sehr viele Wayúu. „Das sind Leute, die ihr Land nicht verteidigen“, erregt sich eine Indianerin aus Karañakal in der Sierra de Perijá mit blitzenden Augen, ihr Gesicht dunkel vor Zorn. „Da kann jeder kommen, der ihnen Geld gibt, und sie verkaufen sich. Aber ein Barí tut das nicht.“

Bei seinem Besuch in Saimadoyi im Jahre 1999 versprach der Präsident, man werde die Kohle nicht abbauen, wenn dies die Umwelt beeinträchtigen würde. Doch die Verzögerungen bei der Grenzziehung haben zu merkwürdigen Entwicklungen geführt. Die legitimen Sorgen der Indianer wurden von Umweltaktivisten gegen Chávez ins Feld geführt, den sie als „Prokonsul des Empire“ und Verbündeten der Multis bezeichnen. Diese Gruppen sind zahlenmäßig nicht sehr stark, verfügen aber dank Internet über großen medialen Einfluss und werden nicht nur von Websites der Linken unterstützt, sondern auch von solchen, die die Rockefeller-Stiftung finanziert. „Diese Leute sprechen für die Indianer“, kommentiert Daniel Castro, „und verfolgen ihre eigenen Interessen. Wenn man sich mit den Indianern unterhält, sagen sie nicht dasselbe. Sie sagen sogar oft das Gegenteil oder mehrere Dinge zugleich.“

Die Indianer haben ihre eigene Stimme und sie wurde gehört: Am 21. März verkündete die Umweltministerin Yubirí Ortega de Carrizalez auf Anordnung des Präsidenten ein Verbot, neue Kohlenminen im Bundesstaat Zulia zu erschließen oder bereits bestehende Bergwerke zu vergrößern. Auf lange Sicht verfolgt die Regierung eine andere Entwicklungsstrategie: Landwirtschaft, Viehzucht und Tourismus.

In den indigenen Gebieten wird etwas getan: In den Provinzen Anzoategui und Monagas wurden Grenzen um die Territorien gezogen; in Amazonas, Bolívar und Apure Krankenschiffe eingesetzt; in einigen Gemeinden in Apure Solaranlagen zur Stromerzeugung gebaut; im Amacuro-Delta Nahrungsmittel verteilt. Manchmal ist die bolivarische Revolution chaotisch und nicht knausrig, wenn es darum geht, neue Institutionen zu schaffen: regionale Institute für indigene Angelegenheiten, die dem jeweiligen Gouverneur unterstellt sind, regionale Abteilungen für indigene Angelegenheiten beim Erziehungsministerium und die „Missionen“ Gaicaipuro (Sozialpolitik für Indigene), Robinsón (Alphabetisierung), Rivas (höhere Bildung), Barrio Adentro (Gesundheit) usw.. Die Adressaten dieser Maßnahmen verirren sich im Bürokratiedschungel, so wie der Kazike aus Karañakal: „Heute kommt der eine Funktionär, morgen der nächste, dann noch einer, und man versteht gar nichts mehr.“

Um diesem Missstand abzuhelfen, wurde im Jahre 2006 das Ministerium „der Volksmacht für indigene Völker“ geschaffen, mit der Indianerin Nicia Maldonado an der Spitze. Dazu kommen Koordinatoren, die von den Gemeinden selbst bestimmt werden und mit dem Ministerium zusammenarbeiten. Schwierigkeiten gibt es immer noch. Aber, sagt Daniel Castro, „man muss differenzieren zwischen dem politischen Diskurs und dem, was in der Realität geschieht. Nicht weil es ein Widerspruch ist, sondern weil beides in unterschiedlichem Tempo stattfindet. Vor Ort dauert jeder Erfolg natürlich seine Zeit. Aber man weiß wenigstens, in welche Richtung es gehen soll.“

Fußnoten:

1 Die nichtindigene, weiße oder Mischlingsbevölkerung. 2 Es geht um Manuel Rosales, den einzigen Gouverneur in der Opposition. 3 Violaine Bonnassies, „Les indigènes au Venezuela: une entrée en politique sous les auspices de la révolution bolivarienne“, in: La chronique des Amériques, Observatoire des Amériques (Hg.), Nr. 36, Montréal, November 2006. 4 Renaud Lambert, „Quand le peuple bouscule le vieil Etat vénézuélien“, in: Manière de voir, Nr. 92, „Derrière les élections, quelle démocratie?“, April/Mai 2007.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 13.07.2007, von Maurice Lemoinevon Maurice Lemoine