Zerrissenes Palästina
Ein Staat löst sich auf, bevor er gegründet wird von Alain Gresh
von Alain Greshvon Alain Gresh
Die neuste Parole der internationalen Staatengemeinschaft lautet „Rettet Präsident Abbas!“ Und das ist nicht nur Gerede, vielmehr kommen auf einmal kühne Vorschläge auf den Tisch: Wiederaufnahme der Zahlungen an die Autonomiebehörde, Hilfe für die Not leidende Zivilbevölkerung, neue Friedensverhandlungen, um die „gemäßigten“ Palästinenser zu stützen. Selbst Israels Ministerpräsident Ehud Olmert entdeckt in Mahmud Abbas plötzlich einen „Partner für den Frieden“. In Washington und Brüssel verschloss man jahrelang die Augen vor der bedrückenden Situation im Westjordanland und im Gazastreifen, über die man sich aus Berichten der Weltbank, der Weltgesundheitsorganisation oder von amnesty international informieren konnte.
Wachgerüttelt wurde der Westen erst durch den vollständigen Sieg der Hamas im Gazastreifen. Dabei hatten Israel und die USA die Fatah großzügig mit Waffen versorgt; zum Beispiel wurden mehrere Lieferungen an die Präsidentengarde und die Geheimpolizei PSF durchgewinkt.1 Vergebens: Inzwischen haben sich die meisten militärischen Führer der Fatah (wie Mohammed Dahlan, Raschid Abu-Schabak und Samir Mascharaui) nach Jordanien oder Ägypten abgesetzt, statt an der Seite ihrer Truppen zu bleiben. Das ist nur einer von vielen Gründen für die schmähliche Niederlage. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Unfähigkeit der Fatah, ihre Rolle als Staatspartei in einem nicht existierenden Staatswesen aufzugeben und zu einer „normalen“ politischen Kraft zu werden. Noch immer herrschen Vetternwirtschaft und Klandenken in der einst von Jassir Arafat gegründeten Organisation.
Die erbarmungslose Härte, mit der sich jetzt Hamas und Fatah im Gazastreifen bekämpft haben, zeigt aber auch, wie weit der Zerfall der palästinensischen Gesellschaft nach 18 Monaten internationalen Boykotts fortgeschritten ist. Während der Kämpfe kam es zu Racheakten, Plünderungen, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Und natürlich beschuldigten beide Seiten den Gegner, im Dienst ausländischer Mächte zu agieren. Bereits am 12. Januar ließ Mohammed Dahlan bei einer großen Kundgebung in Gaza feindselige Parolen gegen die „Schiiten“ der Hamas skandieren.2 Die Islamisten wiederum bezeichnen die Fatah als Agenten Israels und der USA, oder einfach als Ungläubige (kafir). „Beide Seiten nehmen die Zivilbevölkerung in Geiselhaft und verurteilen sie in ihren Straßenkämpfen zum Tode“, schrieb die israelische Journalistin Amira Hass. „Sie opfern die palästinensische Sache auf dem Altar ihrer Feindschaft.“3 Palästina zahlt einen hohen Preis für die Militarisierung der politischen Auseinandersetzung und ihre Begleiterscheinungen wie Gewaltverherrlichung und Kämpferkult.
Am 12. Juni schrieb der palästinensische Psychiater Ejad Sarradsch eine verzweifelte Botschaft: „Es gibt so viel Hass und Rachefeldzüge. Und es geht hier nicht nur um einen politisch-militärischen Machtkampf. (…) Wir sind alle gemeinsam von Israel besiegt worden, und diese Erniedrigung führt dazu, dass wir uns schwächere Gegner suchen, auf die wir losgehen, in den eigenen Reihen … Folter und Unterdrückung durch Israel haben eine Brutalisierung bewirkt; Schmerz und Traumatisierung verschaffen sich nun auf die übelste Weise Ausdruck – indem wir uns durch chronische Gewalt selbst vergiften.“
Der israelische Journalist Gideon Levy benennt das Vermächtnis von vierzig Jahren Besatzung: „Die gewalttätigen jungen Männer, die sich jetzt so grausame, tödliche Kämpfe liefern, waren im Winter 1987 kleine Kinder – die Kinder der ersten Intifada. Die meisten von ihnen haben den Gazastreifen nie verlassen. Jahrelang erlebten sie, wie ihre älteren Brüder verprügelt und verletzt wurden, wie ihre Eltern als Gefangene im eigenen Haus lebten, ohne Arbeit, ohne Hoffnung. Ihr ganzes Leben verbrachten sie im Schlagschatten israelischer Gewalt.“4
Ist der Untergang Palästinas noch aufzuhalten? Vielleicht – wenn den Erklärungen der USA und der Europäer ausnahmsweise Taten folgen würden, wenn die „internationale Gemeinschaft“ endlich die Schaffung eines palästinensischen Staates erzwingen würde. Vor fünf Jahren, im Juni 2002, hatte sich sogar US-Präsident Bush für einen Frieden auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt. Doch seither hat sich in dieser Frage nichts getan.
In den Jahren 2003 und 2004 hatte die israelische Regierung erklärt, das einzige Hindernis auf dem Weg zum Frieden sei Arafat. Man belagerte den alten PLO-Führer in seinem Hauptquartier in Ramallah, wo er bis kurz vor seinem Ende auf wenigen Quadratmetern eingesperrt war. Und Ariel Scharon gab die Parole aus: „Jassir Arafat ist unser Bin Laden.“ Die internationale Staatengemeinschaft ließ es geschehen.
Abbas hatte nie eine Chance
Jassir Arafat starb am 11. November 2004, und Mahmud Abbas trat seine Nachfolge an der Spitze der Autonomiebehörde an. Damit hatte sich in der Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) der Kandidat durchgesetzt, der eindeutig der „moderateste“ war. Abbas war entschlossen, den „Friedensprozess“ wieder in Gang zu bringen, aber seine Angebote blieben ohne Resonanz. Stattdessen beschleunigte Israel die Siedlungsprojekte, der Sperrwall wurde weiter ausgebaut. Neue Straßensperren machten für die Palästinenser schon die Fahrt zum nächsten Dorf zu einer Odyssee. Unter diesen Bedingungen fiel es der Hamas nicht schwer, die Parlamentswahlen im Januar 2006 zu gewinnen.
Neben der politischen Zersplitterung der Hamas-Gegner sprachen drei Argumente für die Hamas: Ihre Rolle im Widerstand gegen die Besatzung, ihre sozialen Hilfseinrichtungen, und ihre „sauberen Hände“ im Vergleich mit der korrupten alten Administration. War ihr Wahlerfolg auch ein Votum gegen den Frieden mit Israel und für die Strategie der Selbstmordattentate? Das wurde von allen Meinungsumfragen dementiert: Die Bevölkerung hoffte immer noch auf eine Zwei-Staaten-Lösung, und das hatte auch die Hamas begriffen. In ihrer Wahlplattform war keine Rede von der Vernichtung des Staates Israel, die – wie bei der PLO in den 1960er-Jahren – auch heute noch zu den Forderungen ihres Grundsatzprogramms gehört. Einige Hamas-Führer erklärten sogar, unter bestimmten Bedingungen sei die Bewegung bereit, der Gründung eines Palästinenserstaats innerhalb der 1967 von Israel besetzten Gebiete zuzustimmen.
Die USA und Israel reagierten auf den Wahlausgang mit einer Strategie, die von der Europäischen Union abgesegnet und auch von einem Teil der Fatah mitgetragen wurde: Mit allen Mitteln sollte das Ergebnis korrigiert werden. Politischer Druck Washingtons auf die Fatah verhinderte die von der Hamas vorgeschlagene Regierung der Nationalen Einheit; die Bevölkerung wurde durch den Wirtschaftsboykott für ihr unerwünschtes Abstimmungsverhalten bestraft. Wie die Kämpfe in Gaza nun gezeigt haben, hat diese Strategie die Hamas weder finanziell noch militärisch geschwächt. Der Boykott traf vor allem die Bevölkerung: Palästina versank noch tiefer in der Armut, der Verfall der staatlichen Institutionen wurde nur noch beschleunigt.
Hier zeigt sich auch, dass die internationale Gemeinschaft nichts aus dem Irak-Embargo gelernt hat. Zwölf Jahre lang waren die Sanktionen gegen Saddam Hussein in Kraft, aber sie brachten sein Regime nicht zu Fall und konnten nicht einmal den Lebensstandard der Führungsschicht beeinträchtigen. Auch hier traf der Boykott die Bevölkerung und führte zum Abbau der staatlichen Leistungen: Die Beamten mussten sich Nebenjobs suchen, die Grundversorgung brach zusammen, an die Stelle des Sozialstaats trat wieder der Solidarverbund der Großfamilien. Als die USA im März 2003 einmarschierten, fiel dieser Staat zusammen wie ein Kartenhaus. Im Fall Palästina gibt es noch gar keinen richtigen Staat, aber die wenigen staatlichen Strukturen, die seit 1993 von der Autonomiebehörde installiert wurden, konnten den internationalen Sanktionen auch nicht besser standhalten.
Im Februar 2007 schien die Vermittlung des Abkommens von Mekka zwischen Fatah und Hamas durch den saudischen König Abdallah einen Ausweg aus der Krise zu bieten. Chaled Meschal, Vorsitzender des Hamas-Politbüros, erläuterte am 12. Februar im saudischen TV-Sender al-Ikhbariya seine Vorstellung von einer Regierung der Nationalen Einheit: „Hier hat nicht eine einzelne Gruppierung das Sagen. (…) Jede Fraktion steht zu ihren Überzeugungen, aber als Regierung der Nationalen Einheit haben wir uns auf bestimmte politische Grundlagen geeinigt, die unsere nationalen Ziele und Hoffnungen umschreiben: Einen palästinensischen Staat in den Grenzen vom 4. Juni 1967.“
Aus dieser und vielen anderen Erklärungen der Hamas lässt sich eine neue Haltung der Bewegung ablesen, die von der internationalen Gemeinschaft noch zu testen wäre.5 Die neue Flexibilität zeigt sich im Zusammenhang mit der Erneuerung einer arabischen Friedensinitiative, die Israel die Normalisierung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten anbietet, sobald ein Palästinenserstaat gegründet ist.6
Robert Malley, Leiter des Nahost-Referats bei der International Crisis Group und ehemals Berater von US-Präsident Clinton, warnte im März in Le Monde: „Nicht zuletzt von der Haltung der Staatengemeinschaft wird es abhängen (…), ob die in Mekka geschlossenen Abkommen positive Wirkung zeigen. In manchen Kreisen hört man schon die Meinung, die Initiative der Saudis sei ja zu begrüßen, aber eine künftige palästinensische Regierung müsse sich an die bisher getroffenen Vereinbarungen halten. Von der Regierung Bush ist nichts Besseres zu erwarten. Aber was ist mit den Europäern? Haben sie aus dem gemeinsamen Scheitern nichts gelernt? Die Übereinkunft in Saudi-Arabien konnte nur gelingen, weil man die Hamas von der Aufgabe entlastete, eine ideologische Revolution durchzuführen, die ihr ohnehin nicht gelingen konnte, und sie ermutigte, einen pragmatischen Weg einzuschlagen, der vielleicht zum Erfolg führen kann (…). Dabei hat die Hamas schon so viel Beweglichkeit gezeigt, dass man ihr eine Chance geben muss: Wird sie einen beiderseitigen Waffenstillstand akzeptieren? Wird sie Präsident Abbas erlauben, sein Mandat als PLO-Führer auszuüben und Verhandlungen mit Israel zu führen? Und wird sie Volksabstimmungen über dabei beschlossene Verträge erlauben und die Ergebnisse respektieren?“7
Leider wollte die Staatengemeinschaft von solchen Überlegungen nichts wissen. Vielmehr hat sie sich noch weiter in die Sackgasse manövriert, indem sie auf dem Embargo bestand, das den radikalsten Kräften innerhalb der Hamas gerade recht kam. Und währenddessen sieht sie dem Zerfall der palästinensischen Zivilgesellschaft ungerührt zu.
Álvaro de Soto, UN-Sonderbeauftragter für den Nahost-Friedensprozess, hat Mitte Juni in seinem Abschlussbericht8 diese Parteinahme scharf kritisiert: „Israel wird von uns mit großer Nachsicht, fast schon fürsorglich behandelt.“ Das Nahost-Quartett9 habe sich zum „ Instrument der Durchsetzung von Sanktionen gegen die von einem unter Besatzungsregime lebenden Volk gewählte Regierung“ machen lassen, dem man „keine realistische Chance gewährt, die Bedingungen für einen Dialog zu erfüllen“. Auf die israelische Regierung habe das Quartett niemals Druck ausgeübt, vor allem nicht in Bezug auf die Siedlungspolitik und den Ausbau des Sperrwalls.
Israel bleibt verwundbar
Als im Juni 2006 der israelische Soldat Gilad Shalit an der Grenze zum Gazastreifen entführt wurde, reagierte Israel mit der Zerstörung des Elektrizitätswerks von Gaza und einer Militäroperation, die hunderte von Toten forderte. Auf diese völkerrechtswidrigen Vergeltungsaktionen hat die internationale Gemeinschaft damals kaum reagiert. Als im Juli zwei israelische Soldaten an der libanesischen Grenze gefangen genommen wurden, begann Israel einen 33 Tage dauernden Krieg gegen den Libanon. Israelische Bomben fügten der Infrastruktur des Landes schwere Schäden zu. Für die Staatengemeinschaft war das offenbar nur Ausdruck von Israels Recht auf Selbstverteidigung. Währenddessen geht der Ausbau der Siedlungen im Westjordanland ungehindert weiter und lässt mit jedem Tag die Chancen auf die Gründung eines palästinensischen Staates weiter schwinden.
Israel erzeugt mit seiner Politik ein Chaos, ohne die Sicherheit seiner Bürger garantieren zu können. Im Sommer 2006 zeigte der Libanonkrieg, wie verwundbar das Land ist, wenn es von einer entschlossenen und gut bewaffneten Guerillaorganisation angegriffen wird. Seither ist auch deutlich geworden, dass die israelische Armee nicht in der Lage ist, die aus dem Gazastreifen abgeschossenen Raketen auf Sderot zu stoppen. Ze’ev Schiff, der Militärexperte der Tageszeitung Ha’aretz, bilanzierte einige Tage nach dem Sieg der Hamas im Gazastreifen nüchtern: „Israel hat hier eindeutig verloren. (…) Israel musste in Sderot etwas hinnehmen, was es seit dem Unabhängigkeitskrieg noch nie gegeben hat: Dem Gegner ist es gelungen, eine ganze Stadt zu lähmen und ihren Alltag zum Stillstand zu bringen.“10
Was heute im Gazastreifen, aber ebenso in Nahr al-Bared und anderen libanesischen Flüchtlingslagern geschieht, sollte zu denken geben: Radikale Gruppen, die womöglich Verbindungen zu al-Qaida haben, gewinnen an Einfluss. Wenn Palästina endgültig untergeht, wird nicht nur Israel, sondern die gesamte Nahostregion eine neue Welle der Radikalisierung mit unabsehbaren Folgen erleben.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt