Von arabischen Frauen, die Häfen bauen
Alte Navigationskünste als Orientierungshilfe im digitalen Chaos von Fatima Mernissi
Im Mai habe ich in Madrid die spanische Ausgabe meines Buches „Les Sindbads Marocains“ einem Kreis von 30 spanischen Journalisten vorgestellt. Die Fragen, die sie stellten, betrafen allesamt die Themen Schleier und Terrorismus. Von der für die arabische Welt derzeit wichtigsten Frage hatten sie jedoch allem Anschein nach keine Ahnung: von al-fitna raqmiya, dem digitalen Chaos. Das Kernproblem, das gegenwärtig Eliten wie Massen, Staatsoberhäupter wie Straßenhändler, Männer wie Frauen in der arabischen Welt bewegt, ist das durch die Informationstechnologien, vor allem durch das Internet erzeugte digitale Chaos. Es zerstört nämlich die hudud, die gottgegebene Grenze, die das Universum aufteilt in die sichere, private Sphäre, die Frauen und Kindern Schutz bietet, und den öffentlichen Raum, in dem erwachsene Männer ihre vermeintlich problemlösende Macht entfalteten. 1 Nun empfehlen neuerdings sogar Imame, dass wir nicht länger über die Verteidigung der hudud nachdenken, sondern uns lieber darauf konzentrieren sollten, eine Kultur des ethischen Nomadentums zu erfinden, in der aus persönlicher Verantwortung Ordnung erwächst.
In einem Beitrag für das kuwaitische Kulturmagazin al-Arabi2 schreibt der ägyptische Psychoanalytiker Khalil Fadel, dass in erster Linie die Kinder durch das digitale Chaos gefährdet seien. Die westlichen Computer-Kriegsspiele hätten längst „unsere Kinderzimmer“ erobert, seien „in Cybercafés zugänglich, die es heute an jeder Straßenecke gibt“. Seiner Meinung nach sind diese Kriegsspiele, weil sie „Einsamkeit, Narzissmus und Hass auf den Anderen“ verherrlichen, verantwortlich für das zunehmend gewalttätige Verhalten arabischer Jugendlicher. Und angeblich spiegeln sich in ihnen die kulturellen Präferenzen der westlichen Welt, von der diese Spiele produziert werden. Viele arabische Eltern dürften bei der Lektüre dieses Beitrags geschockt gewesen sein.
Weitaus schlimmer als die elektronischen Kriegsspiele sei jedoch der Sex, sagt Ahmed Mohamed Ali in einem Beitrag für das saudische Magazin al-Majalla3 . Die meisten Eltern, so zitiert er den ägyptischen Psychologieprofessor al-Hami Abdelaziz, seien völlig verzweifelt: „Sie wissen, dass die Zukunft ihrer Kinder davon abhängt, dass sie diese Technologien zu beherrschen lernen, befürchten aber, dass sie auf pornografischen Webseiten landen.“
Bemerkenswert ist, dass in diesem Fall nicht wie sonst üblich endlos geklagt, sondern tatsächlich gehandelt wird. Man versucht beispielsweise, mit Hilfe der Videoclip-Technologie den Jugendlichen islamische Werte nahe zu bringen, wie Patricia Kubala in einem Artikel über Sami Yusuf berichtet, einen in Großbritannien geborenen Muslim mit aserbaidschanischen Wurzeln, der „binnen kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Sänger der weltweiten muslimischen Gemeinschaft wurde“. 4 Um der Flut von Sexvideos etwas entgegenzusetzen, wird neuerdings in Videoclips investiert, in denen attraktive junge religiöse Sänger ein neues Rollenmodell propagieren – auch eine Methode, um das Bedrohungspotenzial der Informationstechnologie zu entschärfen.
Über diesen atemberaubenden Wandel und darüber, dass Männer nicht länger über die niedergerissene Grenze jammern und von Harems für ihre Frauen träumen, sondern sich zu versierten digitalen Nomaden mausern, wollte ich in Madrid mit den spanischen Journalisten sprechen. Obwohl gerade mal 13 Kilometer Meer zwischen dem spanischen Gibraltar und dem marokkanischen Tanger liegen, wussten die Journalisten nichts von alldem, und ich konnte auch in dem Madrider Nobelhotel weder meinen Lieblingssender al-Dschasira noch irgendeinen anderen der 200 im Mittelmeerraum sendenden panarabischen Satellitenkanäle empfangen.
Um ihnen den kulturellen Wandel in der arabischen Welt zu beschreiben, den ich bei meiner Reise durch Bahrein im März 2005 miterlebte, erzählte ich den Journalisten von der Historikerin Mai al-Khalifa, die in ihrem Land in weniger als einem Jahrzehnt mehrere Museen und Kulturzentren aufgebaut hat, um den Dialog zwischen den Geschlechtern und den Generationen voranzutreiben. Dass im Arabischen Golf eine Frau auf diese Weise öffentlich auftritt, ist doch viel wichtiger als die Frage, ob in muslimischen Einwanderergemeinschaften der Schleier getragen wird oder nicht. Das hätte ich den spanischen Journalisten gern erklärt, aber sie haben es nicht verstanden, sind Gefangene ihres eigenen Schleiers und der Frage nach dem Terror geblieben.
Mein Kollege Kamal, ein „1001 Nacht“-Spezialist, lud mich eines Tages in Rabat in ein Café bei meiner Universität ein. Der Raum war voll junger Studenten und Dozenten. Im Hintergrund lief der Fernseher. Plötzlich tauchte besagte Mai al-Khalifa auf dem Bildschirm auf. Der populäre Moderator Turki ad-Dhakil vom Sender al-Arabia (der neue, von den Saudis finanzierte Rivale von al-Dschasira) hatte sie in eine Talkshow eingeladen, und der Wirt stellte den Fernseher lauter. Im marokkanischen Fernsehen habe ich seit meiner Kindheit Frauen, wenn überhaupt, immer nur bauchtanzend und singend gesehen. Ein Mann in traditioneller weißer Tracht im Gespräch mit einer Intellektuellen in Bürodress, das war etwas Neues. Im Café war plötzlich eine andere Stimmung: Die Gespräche stockten, obwohl Mai al-Khalifa in ihrem Jackenkleid sehr reserviert wirkte – das Gegenbild zur ständig augenzwinkernden und sich in den Hüften wiegenden Bauchtänzerin.
Anders, als ich erwartet hatte, stand in der Sendung nicht das neueste Buch von Mai al-Khalifa im Mittelpunkt. Es handelt von den Karmaten, eine schiitische Gruppierung, die sich im zehnten Jahrhundert gegen die sunnitischen Abbasiden-Kalifen auflehnte und in der einige Historiker Terroristen, andere die Gründer der ersten islamischen Republik sehen. Zu meiner großen Überraschung waren Turki ad-Dhakils Fragen an die erste Staatssekretärin für Kultur und nationales Erbe sehr persönlich, vor allem ging es darum, warum Mai al-Khalifas Projekte in Bahrein so umstritten waren. Ob das daran liege, dass sie eine Frau ist, oder daran, dass sie mit ihrem akademischen Hintergrund nicht über die nötige Fähigkeit zu pragmatischem Handeln verfüge. Als der Moderator von Mitarbeitern des Informationsministeriums erzählte, die meinen, Intellektuelle würden zu sehr in ihren Elfenbeintürmen leben und könnten deshalb keine erfolgreichen Kulturmanager sein, platzte Mai al-Khalifa der Kragen: Das seien völlig haltlose Behauptungen, sagte sie, so was würden sich nur Bürokraten ausdenken. „Ich bin eine Intellektuelle, und ich verfüge sowohl über eine Vision (ru’ya) als auch über die Fähigkeit, diese in innovativen Projekten in die Tat umzusetzen.“ Dabei sei doch gerade das Verfolgen einer solchen ru’ya im heutigen globalen Chaos wichtig.
Die Reaktion der Cafégäste auf al-Khalifas Erwiderung war erstaunlich. Die Menge lachte laut, einer der Studenten stand spontan auf, um ein Gedicht des Palästinensers Mahmud Darwisch über Edward Said vorzutragen. „Bist du durch harte Zeiten gegangen, so gib deiner Zukunft Sinn, schaffe dir eine Vision. […] Mein Traum lenkt meine Schritte. Und meine Vision nimmt meinen Traum auf den Schoß wie eine freundliche Katze.“5 Viele arabische Intellektuelle beklagen das Fehlen einer klaren Vision für die Zukunft und begründen damit auch die gefährliche Politikverdrossenheit der jungen Generation.
Der in London lebende Palästinenser Khaled Hroub, der dank seiner von al-Dschasira präsentierten Show großen Einfluss auf arabische Jugendliche hat, stellt in seinem Buch über die Hamas die These auf, dass eine dramatische Kluft zwischen den Generationen unsere gegenwärtige arabische Gesellschaft präge. 6 Eine der Ursachen des Terrorismus liege in der demografischen Aufspaltung zwischen der alternden Minderheit, die die Entscheidungen fällt, und der jugendlichen Mehrheit, die sich durch die Älteren nicht angemessen repräsentiert fühlt. In einem parodistischen Artikel in der hochakademischen Zeitschrift der Arabischen Liga bemerkt Hroub, dass die Führenden sich aufgrund ihres „dekadentes Alters“ (chaykhoukha) schwer tun, funktionierende Strategien für eine mehrheitlich junge Bevölkerung zu entwickeln. 7 Die politisch-demografische Kluft erklärt seiner Meinung nach „die katastrophale Verachtung, mit der unsere jüngere Generation der Politik begegnet“. Das erklärt schon etwas besser, warum die jungen Leute im Café so heftig auf das Wort ru’ya reagierten.
Museen, die einem breiten Publikum den Zugang zur Vergangenheit ermöglichen, könnten der Politikverdrossenheit und Verwirrung junger Menschen entgegenwirken. Traurigerweise sind aber sowohl die Museen als auch die Produktion und das Sammeln von Kunst seit je das Monopol der Kalifen gewesen. Viele staatliche Museen bieten Lehren in Sachen Toleranz. Im Nationalmuseum in Bahrain zum Beispiel kann man lernen, dass zum Verständnis der islamischen Kultur auch Wissen über die präislamische Epoche wichtig ist und dass man auf diese durchaus stolz sein kann. Denn eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, das heißt, sich in der Zeit zu bewegen, ist die beste Möglichkeit, sich in Toleranz und Respekt für die Vielfalt zu üben.
Für meinen 1001-Nacht-Kollegen Kamal, der sich, anders als ich, politisch engagiert und deswegen Probleme mit der marokkanischen Polizei hatte, ist klar, dass die Regierungen heute nur mit der Unterstützung der Intellektuellen zukunftweisende Lösungen erarbeiten können.
Das Wissen über die arabische Geschichte, vor allem über die Zeit, als Nomadentum, Navigationskunst und ständige Mobilität die Quellen des arabischen Ruhmes waren, kann, wie Mai al-Khalifa findet, jungen Menschen helfen, sich im digitalen Chaos besser zurechtzufinden. Gerade die ständige Wanderschaft bewahrte die Vorfahren der heutigen Araber davor, von den jeweiligen Eroberern, angefangen mit Alexander dem Großen, geschlagen zu werden. Das ist nur eine der Lektionen, die das Museum von Bahrain für den Besucher parat hat.
Auch heute heißt das große Spiel Mobilität. Das sagen alle Intellektuellen, ob Männer oder Frauen, ob in ihrer Heimat oder im Exil lebend, ob zur Oberschicht gehörend oder aus armen Verhältnissen stammend. Der schnelle Übergang vom Klagen zum Handeln erklärt auch das Auftreten der „digitalen Scheherazaden“, jener Frauen, die ganz auf die neuen Kommunikationstechnologien setzen, weil sie sich nur von ihnen Fortschritte für ihre eigene Freiheit und für die Freiheit ihres Landes erhoffen.
In Bahrain ist, ähnlich wie in vielen anderen Ländern der Golfregion, der Anteil der berufstätigen Frauen von 5 Prozent im Jahr 1971 auf knapp 40 Prozent im Jahr 2001 gestiegen. 8 Dass elektronische Visa, der steigende Anteil berufstätiger Frauen und ihre stärkere Präsenz im öffentlichen Leben zeitgleich zu beobachten sind, lässt sich doch gar nicht anders erklären als durch eine Umwälzung in den ideologischen Koordinaten der Region: eine Absage an den fanatischen Konservatismus und einen Aufbruch zu neuen Ufern. Und das heißt auch, dass in Zukunft die Macht nicht mehr ohne die weibliche Art, Entscheidungen zu fällen, auskommen wird.
Im Dezember 2004 brachte die in Dubai erscheinende arabische Ausgabe des Forbes Magazine einen äußerst amüsanten Artikel: „Die 50 mächtigsten arabischen Frauen“. Darin kamen die Redakteurin Rasha Owais und ihr Team zu dem Schluss, dass neben der als öffentlicher Figur eingespielten Gattin bzw. Tochter des Staatsoberhauptes ein neuer Frauentypus in Erscheinung getreten sei – die digital versierte und geschickt mit Geld umgehende Frau, die „digitale Scheherazade“. 9 Bislang haben in aller Regel nur die Frauen und Töchter von Staatsoberhäuptern nennenswerte Sponsorengelder zur Finanzierung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten auftreiben können. Die „digitalen Scheherazaden“ jedoch gehen mit ihrem Kommunikationstalent neue Wege.
Shaikha Lubna al-Qasimi, Dubai: Wer einen Blick auf die Internetseite der Vereinigten Arabischen Emirate wirft, wird feststellen, dass der Minister für Wirtschaft und Planung eine Frau ist: Shaikha Lubna al-Qasimi.10 Bevor sie diesen Posten übernahm, hatte al-Qasimi zunächst ein Informatikstudium an der University of California absolviert und dann als leitende Angestellte in der Abteilung Informationssysteme der Dubaier Hafenbehörde daran mitgewirkt, dass sich ihr Land zu einem weltweiten digitalen Zentrum entwickelte. Dubai, so erklärte sie 2001 stolz in einem Interview, „hat heute den elftgrößten Hafen der Welt, ist die Nummer eins der Region und verfügt über ein ausgefeiltes elektronisches System, das Hafen- und Frachtbereich vernetzt, sodass viel Papierkram entfällt und die Frachtabwicklung effizient gestaltet wird“. 11 Lubna, die erste Ministerin der Arabischen Emirate überhaupt, wurde laut Gerüchten in dieses Amt berufen, weil das Ministerium mit seiner altmodischen und unzeitgemäßen Struktur „völlig umgekrempelt werden musste“.12
Nur drei Jahre später bezeichnete Scheich Ahmed Bin Saeed al-Maktoum, der Chef der Dubaier Zivilluftfahrtbehörde, den Flughafen, der mit Shaikhas Unterstützung digital aufgerüstet wurde, als Meilenstein der Zukunftstechnologie: „Schauen Sie sich unseren neuen Flughafen an. Obwohl erst vier Jahre alt, hat er schon seine Maximalkapazität von 22 Millionen Passagieren erreicht. Letztes Jahr wurden 21,7 Millionen Fluggäste abgefertigt, in diesem Jahr werden es 25 Millionen sein, und wenn 2006 unser neuer Terminal eröffnet wird, erwarten wir 30 Millionen Fluggäste.“ 13
Wer immer noch glaubt, der Arabische Golf sei gleichzusetzen mit verschleierten Frauen und konservativem Traditionalismus, täuscht sich gewaltig, denn die vormals rein männlichen Herrschereliten der Region investieren heute in weibliches Wissen. Das ist der Trumpf ihrer von der Informationstechnologie abhängigen Macht. „Bei uns ist es längst üblich, dass wir unsere Kinder dazu ermutigen, zunächst anderswo als in der eigenen Firmengruppe Erfahrungen zu sammeln“, sagt Muhamed al-Sayer, Milliardär und Vorstandsvorsitzender einer großen Firmengruppe mit Hauptsitz in Kuwait. „Meine Tochter Lulwa etwa arbeitet seit acht Jahren bei der Gulf Bank, wo sie inzwischen Head of Treasury ist. Männlichen und weiblichen Familienangehörigen stehen die gleichen Möglichkeiten offen.“ 14
So erklärt sich, dass Frauen aus den Herrscherfamilien der Golfregion (deren neue globale Macht sich nicht zuletzt den neuen Technologien verdankt) immer wieder als digitale Scheherazaden in Erscheinung treten: Sie tragen dazu bei, den vom jeweiligen Emir initiierten Wandel vom Traditionalismus hin zu den Informationstechnologien zu vollziehen. Und sie werden immer mehr.
Maha al-Ghunaim, Kuwait: In Kuwait ist die junge Maha al-Ghunaim Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin des Global Investment House, „das 2004 einen Nettogewinn von 21,3 Kuwait-Dollar (72,9 Millionen US-Dollar) verbuchen konnte“ 15 . Auf die Frage, wie sie ihren Erfolg erkläre, unterstreicht Maha, dass es vor allem auf Disziplin und Professionalität ankomme: „Wir sind stolz darauf, dass wir im Bereich Finanzdienstleistungen wirklich gut sind; wir helfen beim Umbau führender Unternehmen und optimieren Investitionswerte. Wir schaffen Mehrwert, indem wir verstehen, welchen Bedarf unsere Kunden haben und wie derMarkt funktioniert.“ 16
Shaikha Hanadi Nasser Bin Khalid al-Tani, Katar: Der Emir von Katar finanziert den berühmten Satellitensender al-Dschasira und hat dadurch seine kleine Hauptstadt Doha zu einem Global Player gemacht. Erwartungsgemäß treffen wir auch hier auf einige digitale Scheherazaden. Eine von ihnen ist Shaikha Hanadi Nasser, die einflussreiche Geschäftsführerin von Amwal, einer katarischen Investmentgesellschaft, die einen am Wertpapiermarkt von Doha notierten Fonds im Wert von einer Milliarde Riyal aufgelegt hat. 17
Die Liste von Porträts digitaler Scheherazaden ließe sich weiter fortsetzen. Wichtiger als die reine Aufzählung ist jedoch die Frage: Wie kommt es, dass arabische Männer, diese angeblich vorsintflutlichen Frauenverprügler, plötzlich die Talente der Frauen entdecken und in deren Initiativen investieren? Haben wir es mit einem Comeback der arabischen Göttinnen zu tun, die nach dem Vordringen des Christentums im östlichen Mittelmeerraum eine ihrer bleibenden Bastionen in Mekka fanden? Oder ist es die starke mystische Strömung des Islam, der Sufismus, der der Macht der Frauen huldigt und der momentan von dem Medienstar und Dichter Adonis oder von Größen des Satellitenfernsehens wie Muhydin Lazikani propagiert wird? Um eine Antwort auf die erste Frage geben zu können, reicht meine Informationsbasis nicht aus. Was die zweite Frage anbelangt, so erzählte mir mein Freund Kamal an jenem Abend in Rabat, dass viele gebildete arabische Männer, wie der besagte Dichter Adonis und der im Londoner Exil lebende Gelehrte Muhydin Lazikani, sich dem Sufismus zugewandt haben – jenem spirituellen Zweig des Islam also, der Fremdheit und Vielfalt, angefangen von der Geschlechterdifferenz, als Bereicherung des Lebens feiert.
Eine der augenfälligen Neuerungen in der arabischen Welt ist die Tatsache, dass sich gefeierte Intellektuelle wie Adonis zudem öffentlich mit Frauen identifizieren.18 Kein Wunder, dass viele Frauen (auch ich) diese Autoren zu ihrer bevorzugten Bettlektüre machen und deren Bücher auch gern verschenken.
Nach Ansicht meines Freundes und Scheherazade-Spezialisten Kamal ist Kalif Harun al-Raschid, der im Jahr 170 nach der Hijra 19 (786 n. Chr.) die Macht in Bagdad übernahm, der Schlüssel zum Rätsel der „digitalen Scheherazaden“. Al-Raschids Frau Zubaida wurde berühmt durch die Brunnen, die sie an der von ihr angelegten Straße von Bagdad nach Mekka graben ließ, damit die alljährliche Hadsch zu einer möglichst angenehmen und wenig beschwerlichen Reise würde. Prinzessin Zubaida, so erklärt der berühmte arabische Philosoph, Geograf und Historiker al-Masudi im zehnten Jahrhundert, „ließ in Mekka zahlreiche Karawansereien bauen und errichtete überall in der Stadt und entlang der Pilgerstraße, die ihren Namen trägt, Zisternen, Brunnen und Gebäude, die bis auf den heutigen Tag überdauert haben. Des Weiteren ließ sie mehrere Gasthäuser für die Reisenden an der syrischen Grenze und in Taurus bauen und reich ausstatten.“
Man muss wissen, dass Harun al-Raschid und Zubaida zu den Helden aus „Tausendundeiner Nacht“ zählen, einer Geschichtensammlung, die im 8. und 9. Jahrhundert von den männlichen Märchenerzählern in den Straßen Bagdads erfunden wurden. Darin spiegelt sich die große Faszination, die das Fremde als Quelle magischer Vielfalt sowohl auf die muslimischen Eliten als auch auf die Massen ausübte. Und die Nummer eins unter den die Männer faszinierenden Fremden sind natürlich die fremden Frauen. Auch wenn die Scheherazade aus „Tausendundeiner Nacht“ Perserin gewesen sein soll, waren es doch arabische Frauen wie Prinzessin Zubaida, die die Kalifen zu verführen wussten und gleichzeitig Brunnen gruben, Häuser bauten und die Märchenerzähler aus Bagdad zu ihren Geschichten inspirierten. 20 Doch während die Geschichtenerzähler ihrer erfundenen Scheherazade das Sprechen bei Tage verbaten, weshalb sie ihre Aktivitäten auf die Nacht beschränken musste, haben moderne Historiker herausgefunden, dass Zubaida ihre Macht tatsächlich rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, ausübte.21 Die Macht der Frauen auf die Nacht zu beschränken und es den Männern vorzubehalten, am Tage die alleinige Autorität auszuüben, ist eine starke männliche Fantasie, die auf den monotheistischen Kampf gegen die Göttinnen zurückgeht und ihren Niederschlag in dem floskelhaften Satz findet, mit der jede der 1001 Geschichten endet. „Hier bemerkte Scheherazade den Tagesanbruch und schwieg.“22
Zubaida konnte sich als Landschaftsgestalterin und als Erbauerin von Straßen und Wasserleitungen hervortun, weil ihr Mann, Kalif a-Raschid, den Islam nicht als militärische Macht, sondern als Kultur der Kommunikation fördern wollte. Dazu investierte er in Techniken zur Papierherstellung, die sein persischer Minister Jaafar al-Barmaki seinen chinesischen Kriegsgefangenen abgeluchst hatte. 23
Um zu verstehen, warum die modernen Emire am Arabischen Golf neuerdings in Informationstechnologien investieren und diese zu ihrer neuen Machtbasis ausbauen und warum sie Frauen als ihre Partner fördern, muss man zu Harun al-Raschid zurückgehen, der das Gleiche tat, als er in die Papierherstellung investierte, um den Islam als Kultur der Kommunikation voranzubringen, deren wichtigstes Instrument die arabische Sprache war.
So wie heute waren damals die Araber wissenschaftlich im Rückstand, doch ihre Wende hin zur Kommunikation ermöglichte es ihnen, mit anderen Ländern gleichzuziehen. Sind wir heute wieder Zeugen einer Entwicklung, bei der Männer auf Kommunikation setzen und Frauen als ihre klugen Verbündeten neben ihnen die öffentliche Bühne betreten?
Damit Sie mich nicht für einen optimistischen Dummkopf halten, möchte ich darauf hinweisen, dass westliche Fernsehanstalten wie BBC und CBC nach Einschätzung des mit Preisen ausgezeichneten freien Journalisten Hugh Miles langsam beunruhigt sind über die Konkurrenz, die ihnen vonseiten al-Dschasiras erwächst, zumal sich der Sender unlängst dazu entschlossen hat, einen englischsprachigen Kanal einzurichten. 24 Als Frau wäre ich regelrecht begeistert, wenn sich die Konkurrenz zwischen Ost und West von einer der Bomben und Armeen in eine Konkurrenz der Kommunikationsstrategien verwandeln könnte.
Wir vergessen nur zu häufig, dass der Westen seinen Aufstieg zur globalen Macht im 18. Jahrhundert auch dem Kampf gegen die Sklaverei, also dem Humanismus, und dem Aufbau einer starken Zivilgesellschaft verdankt, wie der amerikanische Autor Adam Hochschild, einer der Mitbegründer der humanistischen Zeitschrift Mother Jones, in seinem Buch „Bury the Chains: Prophets and Rebels in the Fight to Free an Empire’s Slaves“ ausführt.25 Die technologische Entwicklung allein vermag nicht zu erklären, dass es dem Westen im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang, seinen Einfluss in unserer muslimischen Welt auszubauen und sie zu dominieren. Der Westen hat uns dominiert, weil er die Vision eines zivilisierten Planeten im Gepäck hatte.
Ich bin alles andere als eine dumme Optimistin! Die Weltgeschichte lehrt uns diese immer gleiche Lektion: Weltreiche steigen auf, solange sie für eine ethische Vision stehen, und sie gehen unter, sobald sie diese Vision verlieren. Der Islam stieg einst empor, um die Welt zu beherrschen, erklärt Jahiz, der von mir so geschätzte Visionär des neunten Jahrhunderts, weil sein Prophet den unwissenden (Jahili) Arabern verkündete, dass Macht in der Achtung vor Fremden und in der Kommunikation mit ihnen begründet ist. „Männer […], der Araber zählt nicht mehr als der Nichtaraber. […] Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“ 25 Die Araber wurden erniedrigt, so die Erklärung der „Nationalisten“ des 20. Jahrhunderts, da sie ihren humanistischen Traum aus den Augen verloren. Stellt die Informationstechnologie eine Möglichkeit dar, sich diesen Traum wieder anzueignen? So viel steht fest: Sollten wir Araber uns in einem zivilen Traumschiff auf den Weg machen, könnten wir ein Wunder bewirken: Wir würden dem Westen noch einmal dabei helfen, sein humanistisches Selbst wiederzuentdecken. Dies ist die einzige Art und Weise, Herrn Bush begreifen zu lassen, dass er im globalen Machtspiel mit Investitionen in Kameras und Bomben zur Terrorbekämpfung auf jeden Fall auf eine schwache Karte setzt.