Arbeiter Bauern Präsidenten
In Bolivien wird am 18. Dezember gewählt. Aussichtsreichster Kandidat ist ein indianischer Sozialist
von Maurice Lemoine
In Huanuni, auf dem Altiplano, dem Andenhochland, wird Zinn abgebaut. Anderswo gibt es Gold, Kupfer, Antimon, Silber oder Zink. Oder Erdöl und Erdgas – also die Rohstoffe, an denen sich der innerbolivianische Konflikt entzündet hat. Doch in Huanuni ist es nur Zinn, was in 240 Meter Tiefe, in der beklemmenden Dunkelheit kilometerlanger Stollen, dem Erdinnern entrissen wird. Vierundzwanzig Stunden am Tag sind hier 850 Bergleute am Werk, für einen Monatslohn von 1 000 Bolivianos, etwa 125 Euro. „Wir arbeiten sogar am Sonntag“, sagt einer, „dafür kriegen wir drei Mita.“ Mita ist ein Tagesverdienst. Wer seinen freien Tag opfert, verdient das Dreifache.
Hier hat keiner etwas zu verlieren. Wenn es sein muss und nicht anders geht, ziehen die Mineros nach La Paz hinunter, mit Dynamitstangen in der Hand. „Wir hatten Tote, aber wir haben dafür gesorgt, dass Goni und Mesa gehen mussten.“
Mit „Goni“ ist Gonzalo Sánchez de Lozada gemeint, der ultraliberale, aus dem Movimiento Nacionalista Revolucionario (Nationalistische Revolutionäre Bewegung, MNR) hervorgegangene Präsident, der im Oktober 2003 durch einen blutigen Volksaufstand gestürzt wurde.1 Carlos Mesa war sein Vizepräsident und Nachfolger; nach dreiwöchigen Unruhen musste er seinerseits am 6. Juni 2005 zurücktreten. Seit 1985 haben alle Regierungen, rechte wie (angeblich) linke, wirtschaftlich die Vorgaben des Dekrets Nummer 21060 befolgt: Privatisierung der Minen, der Telekommunikation, des Luft- und Schienenverkehrs, der Wasser- und Stromversorgung, der Erdöl- und Erdgasförderung.
Als bei der Privatisierung der Zinnbergwerke 25 000 Mineros entlassen wurden, war das ein schwerer Schlag – auch für den Gewerkschaftsdachverband COB (Central Obrera Boliviana), denn die Kumpel waren seine Kerntruppe gewesen, sein Fleisch und Blut sozusagen. Der COB bildete seit der Revolution vom April 1952 ein Gegengewicht zur Staatsmacht. In den langen Jahren der Diktatur bis 1982 war er es gewesen, der den Militärs die Stirn bot. Die zahlreichen Betriebsschließungen und der ideologische Schock von 1989, als die Berliner Mauer fiel, ließen die marxistisch geprägte Bewegung schließlich auseinander brechen. Sie hatte, so schien es jedenfalls, keine Aufgabe mehr. Der Soziologe Alvaro García Linera drückt es so aus: „Die Gesellschaft schuf sich neue Instrumente der Interessenvertretung und der politischen Aktion: die in territorialen Netzwerken organisierte soziale Bewegung.“
Die Ersten, die aufbegehrten, waren die in Syndikaten organisierten Kokabauern der Region Chapare. Mit dem Anbau der alten Kulturpflanze (die bis heute in einigen Gebieten Boliviens legal angebaut wird) zogen sie den Zorn Washingtons auf sich. Beim Kreuzzug gegen den Drogenhandel wurden Plantagen vernichtet und die Bauern kriminalisiert. Den Widerstand der „Cocaleros“ führte Evo Morales an, ein Mann vom Volk der Aymará.
1997 wurde er Abgeordneter für Cochabamba, zwei Jahre später Chef der neu gegründeten Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), die eher ein Bündnis sozialer Organisationen darstellte als eine konventionelle Partei.
Im Jahre 2000 kam es in der Stadt Cochabamba zu Massenprotesten gegen die Betreiber der Wasserversorgung: Bechtel, ein multinationaler Konzern, musste aufgeben und das Land verlassen. Bolivien kam in Bewegung, es gärte. Bei der Präsidentschaftswahl vom Juni 2002 unterlag Morales um Haaresbreite, doch die MAS stellte 36 Abgeordnete. Mit den Kommunalwahlen von 2004 wurde sie zur stärksten politischen Kraft des Landes.
Neben der MAS ist eine Vielzahl von Organisationen aktiv: die mächtige Einheitsgewerkschaft der Landarbeiter Boliviens (CSUTCB), soziale Basis der sehr radikalen indigenen Bewegung Pachacuti (Movimiento Indígena Pachacuti, MIP); die Bewegung der Landlosen Boliviens (MST-B); die Überreste des COB mit seinen regionalen Arbeitervereinigungen (COR); die Kooperativen; die Koordinationsgruppen Wasser und die Stadtteilkomitees – vor allem die von El Alto. Dort, in der gigantischen Slumstadt, eine Viertelstunde oberhalb von La Paz, wo 800 000 ehemalige Bauern und Mineros, zumeist Indios, im ockerfarbenen Staub des Altiplano leben, hat die Vereinigung der Nachbarschaftskomitees (Fejuve) den Kampf mit der zum Wassermulti Suez Lyonnaise gehörenden Aguas de Illimani aufgenommen und gewonnen.2 Und vom Kampf ums Wasser zum Kampf ums Gas ist es nur ein Schritt …
Außer seinen Ölvorkommen besitzt Bolivien die nach Venezuela zweitgrößten Erdgasvorkommen Lateinamerikas. Nach der Verfassung sind die natürlichen Ressourcen „unter der Erde“ unveräußerliches Eigentum des Staates. Doch mit einem Taschenspielertrick sprach das im April 1996 erlassene Gesetz Nummer 1689 das Eigentum an Erdöl und Erdgas der Privatwirtschaft zu, sobald es aus dem „unveräußerlichen“ Untergrund an die Oberfläche kommt. Prospektion, Ausbeutung, Transport, Verarbeitung und Vermarktung wurden fortan den Multis überlassen. Die nach dem Gesetz von 1996 entdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen galten als „neu“ und wurden mit lediglich 18 Prozent Steuern belastet, während bei den „alten“ (die vielfach mit plumpen Tricks zu neuen gemacht wurden) noch 50 Prozent abzuführen waren. Präsident Sánchez de Lozada verfolgte ein gigantisches Projekt zur Ausfuhr von verflüssigtem Erdgas nach Kalifornien. Für die Unternehmensgruppe Pacific LNG hätte es saftige Gewinne bedeutet, für das Land aber den Ausverkauf. Obendrein sollte die Gaspipeline durch Chile verlaufen, das, seit Bolivien im Salpeterkrieg von 1879 seinen Zugang zum Meer verlor, als „Erbfeind“ gilt. Die Bevölkerung erhob sich. „Goni“ ließ in die Menge schießen und musste am Ende außer Landes fliehen. Nachfolger wurde Vizepräsident Carlos Mesa.
Die Hauptforderungen der sozialen Bewegung waren: Rückführung der natürlichen Ressourcen in nationales Eigentum, Verstaatlichung der Erdöl- und Gasförderung und Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Bei einem Referendum am 18. Juli 2004 votierten 70 Prozent der Bevölkerung für die Wiederverstaatlichung der Erdgas- und Erdölindustrie.
Am 21. Oktober verabschiedete der Kongress ein neues Gesetz, das die staatliche Beteiligung am Ölgeschäft erweitert und eine direkte Steuer von 32 Prozent auf die Förderung einführt (was zusätzlich zu den bereits erhobenen 18 Prozent eine Abschöpfung von 50 Prozent bedeutet). Präsident Mesa kritisierte dieses Gesetz als „überzogen“ und „konfiskatorisch“. Für die einen, darunter die MAS, ist es ein Schritt nach vorn. Andere – COB, Pachacuti und die Fejuve – sehen darin Verrat, sie fordern die entschädigungslose Verstaatlichung ohne Wenn und Aber.
Das Problem ist, dass die Protestgruppen sich nur in Krisenzeiten zusammenschließen, ansonsten aber heillos zersplittert sind. „Territoriale, ideologische, religiöse, klassenspezifische Gegensätze“ konstatiert García Linera, der als Chefideologe der sozialen Bewegung gilt, „und das“, er lächelt, „ist noch milde ausgedrückt. […] In bestimmten Momenten gibt es regionale oder lokale Zusammenschlüsse, die sich um sehr alltägliche Anliegen kümmern: Wasser, Strom, Brennstoff. In Spannungszeiten entwickelt sich das zu einer Kraft, es kommt zu gemeinsamen Aktionen, die auf dem Höhepunkt der Konfrontation in eine Massenbewegung münden. Sobald das gemeinsame Ziel erreicht ist, zersplittert das Ganze wieder.“ Im Wahlkampf von 2002 war Evo Morales von Washington und der bolivianischen Rechten als „Narco-Cocalero“, „Handlanger von Chávez und Castro“, „Freund der Farc-Guerilla [Kolumbiens]“ bezeichnet worden. Jetzt wettern die Hardliner der sozialen Bewegung gegen ihn: „Evo ist ein Verräter“, schimpft COB-Chef Jaime Solares, „er hat versprochen, für die Verstaatlichung zu kämpfen, aber weil er mit der Regierung unter einer Decke steckt, hat er es nicht getan.“ Es zirkulieren Flugschriften, in denen behauptet wird, Evo Morales spiele eine Rolle bei den Plänen der CIA und des State Department zur Zerschlagung der sozialen Bewegung.
Der MAS-Vorsitzende gibt sich gelassen: „Es gab keinen Pakt mit Mesa, keinerlei Bündnis. Wenn Maßnahmen schlecht sind, lehnen wir sie ab. Wenn sie gut sind, wie die Abhaltung des Referendums, unterstützen wir sie.“ In der Tat ist die MAS wieder in die Offensive gegangen, als sich zeigte, dass Präsident Mesa die Probleme auszusitzen versuchte, weil er auf das Erlahmen der Protestbewegung spekulierte. Da gärte es wieder in Bolivien, und die Unruhe ließ sich durch nichts besänftigen. Radikale, Gemäßigte, Bauern, Städter zogen in den Kampf, während sich die neoliberale Rechte um die weißen Eliten der reichen Provinzen im östlichen Tiefland, Santa Cruz und Tarija, organisierte. Die dortigen Bürgerkomitees streben nach regionaler Autonomie und wollen, dass jede Provinz frei über ihre finanziellen und natürlichen Ressourcen verfügen kann. Gemeint sind Erdöl und Gas, deren bedeutendste Vorkommen unter ihren Füßen liegen.
Es zirkulierten Gerüchte über einen Staatsstreich. Die Leute von El Alto marschierten nach La Paz hinunter, in die Stadt der Weißen, der herrschenden Klasse, der Staatsmacht. Es wurde davon geredet, einen revolutionären Volksrat einzusetzen, als Vorstufe zu einem Arbeiter-und-Bauern-Staat unter der Führung des COB. Evo Morales verurteilte die Ambitionen der „Nación Camba“ (der Separatisten von Santa Cruz) und setzte sich für eine Lösung im Rahmen der Verfassung ein.
Die Protestbewegung gegen die Mesa-Regierung bestand aus unzähligen von flexiblen, opportunistischen Organisationen, die untereinander Bündnisse und Abkommen schlossen und sich dann wieder gegenseitig in den Rücken fielen und sich bis aufs Blut bekämpften. Gleichwohl schaffte sie es, das Land im Mai und Juni 2005 lahm zu legen und Präsident Mesa am 6. Juni zum Rücktritt zu zwingen.
Nach der Verfassung hätte Kongresspräsident Hormando Vaca Díez aus Santa Cruz die Nachfolge antreten sollen; er gehört der konservativen MIR3 an. Ihn unterstützten die traditionellen Parteien: Nueva Fuerza Republicana (NFR), Acción Democrática Nacional (ADN) und Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR, Partei des Expräsidenten Lozada). Niemand wollte diesen Großgrundbesitzer, diesen Gehilfen der Erdöllobby. Dann wurde der Name Mario Cossío (MNR) ins Spiel gebracht: Der Präsident der Abgeordnetenkammer ist ebenfalls ein ehemaliger Verbündeter Gonis.
Angesichts eines drohenden Bürgerkriegs ernannte der Kongress schließlich am 10. Juni Eduardo Rodríguez zum Staatspräsidenten. Er war bisher Präsident des Obersten Gerichtshofs gewesen und als solcher allein befugt, Neuwahlen anzusetzen. Er veranlasste einen Nationalpakt, der das Land aus dem Chaos führen sollte, und legte, nachdem der Kongress einer Verfassungsreform zugestimmt hatte, das Datum für die Neuwahlen zunächst auf den 4. Dezember 2005 fest.
Für die MAS war das ein großer Schritt nach vorn: Evo Morales befindet sich in ausgezeichneter Ausgangsposition für den Präsidentschaftswahlkampf. „Das ist eine historische Wahl“, meint Alex Contreras, Leiter der „Schule des Volkes 1. Mai“ von Cochabamba, und gibt damit einem sehr verbreiteten Gefühl Ausdruck. „Nach diesen zwanzig Jahren des Rückbaus des demokratischen Systems ist die Volks-, Sozial- und Indigenenbewegung nur einen Schritt von der Macht entfernt.
Freilich: Nachdem sie vereint gesiegt haben, stehen sich die beiden großen Blöcke der Sozialbewegung wieder unversöhnlich gegenüber. Beide verfügen über eine mehrheitlich indigene Basis, beide sind sowohl in der Stadt als auch auf dem Land präsent. Die Radikalen, die sich um COB, MIP und Fejuve scharen, sind vor allem im Gebiet der Aymará auf dem Altiplano aktiv, in der kämpferischsten Region des Landes. Diese Gruppen sind stark ethnisch geprägt. Die Gefolgschaft der MAS stützt sich ebenfalls auf eine hauptsächlich ländliche Basis: Bauern in den Regionen Yungas, Chapare, Sucre, Potosí, Oruro und Santa Cruz; landlose Bauern und Indigenenvereinigungen im Osten. Die MAS kann aber auch auf Teile der städtischen Arbeiterschaft und Angestellten zählen und pflegt Beziehungen zu den Berufsverbänden. Sie vermeidet es, ethnische Zugehörigkeit zum Maßstab zu machen, und integriert Menschen, die weder den Indigenas noch den Weißen zugerechnet werden, in stärkerem Maße. Ihren politischen Ansatz könnte man als eher„national“ bezeichnen.
Im Quartier des COB beschwört Jaime Solares in glühenden Worten die Arbeiter-und-Bauern-Revolution, das heißt die Machtergreifung durch den Volksaufstand. Der Mann lehnt jeden Kompromiss ab und bedient sich eines bedeutungsschweren Vokabulars: „Wir Arbeiter glauben, dass ein Bürgerkrieg oder eine Revolution bevorsteht.“
Die Anhänger des COB sind indessen nicht sehr zahlreich, doch sie kompensieren, wie ein Beobachter der bolivianischen Gesellschaft feststellt, „ihre geringe Mobilisierungskapazität mit einer ultraradikalen Rhetorik, die so etwas wie das schlechte Gewissen der Linken widerspiegelt. Solares weiß, dass seine Worte nicht realistisch sind, aber es ist ihm egal, solange er damit die gemäßigtere MAS in die Enge treiben kann. Er schlägt Kapital aus seiner Position, in der er es sich leisten kann, unverantwortlich daherzureden.“ Dasselbe ließe sich von Roberto de la Cruz sagen, dem COR-Chef in El Alto. Er macht viele Vorschläge, einer radikaler als der andere: Volksversammlung einberufen, Stoßtrupps gegen die Cambas schicken, nationale Befreiungsarmee aufstellen. Doch bei aller ideologischen Wirrköpfigkeit, in krisenhaften Situationen handelt er sehr entschlossen und kann auch seine Leute mitreißen. Ähnliches gilt für Abel Mamani, den Vorsitzenden der Fejuve von El Alto: Er weiß, dass Widerstand notwendig ist. Und wenn er Widerstand leistet, setzt er auf Sieg.
Felipe Quispe, der Anführer des MIP und der Bauern des CSUTBC, befehligte in den 1990er-Jahren die Guerilla Tupac Katari. Er saß fünf Jahre im Gefängnis. Man nennt ihn Malku (malku = Kondor in der Aymará-Sprache). Sein Fernziel ist es, Kollasuyo 4 wiederherzustellen: „Wir wollen unseren eigenen Bundesstaat aufbauen, unsere eigene Regierung mit einem indigenen Präsidenten, unsere eigene Armee und unsere eigene Wirtschaft als Nachkommen von Huayna Capac, dem Herrscher der Inkas.“ Er betrachtet die gegenwärtige Situation unter dem Aspekt eines Kriegs der Rassen und lehnt die q’ara (Nichtindios) von rechts und von links unterschiedslos ab. Die jüngsten Ereignisse kommentiert er mit den Worten: „Das Volk hat gesiegt. Es hat Mesa und die MAS, die mit ihm paktiert hat, in die Enge getrieben.“
Das sind politische und ideologische Gegensätze, aber auch, vielleicht sogar hauptsächlich, Führungskämpfe und Unverträglichkeiten unter den Caudillos. Der ältere Felipe Quispe verträgt es schlecht, wenn der jüngere Evo Morales, ein cobrizo5 wie er, ihm den Rang abläuft. Seine Hausmacht, die CSUTCB, hat sich deshalb in zwei Fraktionen gespalten.
Auch auf der zweiten Führungsebene gibt es Reibungen. Abel Mamani, der Anführer der Fejuve von Alto, akzeptiert zwar die moralische Autorität von Evo Morales, will sich ihm aber nicht unterordnen. Mit einem gewissen Neid beobachtet er, wie die MAS sich als einzige der aus den spontanen Aktionen hervorgegangenen politisch-sozialen Gruppen von einer lokalen zu einer nationalen Kraft entwickelt hat. Die übrigen Führer träumen davon, ein neues politisches Instrument zu schaffen, doch keiner hat die Mittel dazu.
Enttäuschte Ambitionen spielen wohl eine Rolle, wenn Jaime Solares wettert: „Evo hat nie für die Arbeiter oder das Proletariat gesprochen, es geht ihm nur um die Kokabauern, Territorien und die [indigene] Identität.“ Seine Absicht dagegen ist es, mit Felipe Quispe eine große revolutionäre Allianz zu bilden. Aber niemand auf dem ganzen Kontinent vertritt den Indigenenstandpunkt radikaler als gerade Quispe. Sehr zukunftsträchtig ist es also nicht, wenn der COB-Chef Seite an Seite mit dem Malku und seiner MIP die Vizepräsidentschaft anstrebt. Abel Mamani hingegen hat erklärt, dass er 2006 erneut die Massen mobilisieren werde, wenn seinen Forderungen nicht entsprochen wird. Er habe beschlossen, die MAS oder die „Gruppe der Sechs“ (G 6) zu unterstützen, also die Koalition der Bürgermeister von La Paz, Cochabamba, Potosí, Sucre, Oruro und Cobija, die sich als die „moderne Linke“ bezeichnen, obwohl sie in politischer Praxis und Theorie kaum Gemeinsamkeiten haben.
Die Organisationen in der zweiten Reihe komplizieren die Sache zusätzlich. „Was sie tun, hat nichts mit den grundlegenden Problemen zu tun“, meint Alex Contreras, „sondern damit, über wie viel Macht jeder von ihnen im Kongress verfügen kann, mit oder gegen die MAS.“
Verstaatlichung und neue Verfassung
Auf dieser Grundlage kann es – jedenfalls bislang – keine sicheren Bündnisse geben. Evo Morales bemerkt dazu seufzend: „Uns Lateinamerikanern fällt es leichter, einen Präsidenten zu stürzen, als einen Präsidenten zu machen.“ Er fügt hinzu: „Die Beteiligung aller wäre wünschenswert. Aber man muss die Lage eben gründlich analysieren. Ich vertrete keine maximalistische Position und bin nicht für den bewaffneten Kampf, den Volksaufstand, den Staatsstreich. Ich setze auf einen Wandel des wirtschaftlichen und sozialen Modells, der auf das Bewusstsein des Volkes und auf Demokratie baut.“
Ist das nun eine Krise mit vorrevolutionärem Charakter, in der es kein geeignetes politisches Instrument gibt? Sicher ist das nicht. Denn die Basis folgt nicht unbedingt denen, die sie angeblich vertreten. Nestor Guillén, der Sprecher des Stadtteils Villa el Ingenio und ein Mitglied der Fejuve, berichtet, die Kundgebungen in El Alto seien ursprünglich von den Anführern organisiert worden: „Companeros, auf die Straße!“, hieß es dann. Nach und nach änderte sich das. In den Stadtteilen ergreifen jetzt die Bewohner die Initiative. Die Forderung, zu einer Demonstration aufzurufen, geht von der Basis aus und richtet sich an die Führung. „Die Mobilisierung in El Alto hängt nicht von der Fejuve ab, sondern davon, ob die Stadteile und Blocks in ihren Versammlungen beschließen, dass jetzt gehandelt werden muss. Ohne das kann Mamani einberufen, was er will, es kommt kein Mensch.“ So haben sich die Bewohner von El Alto trotz des Boykottaufrufs ihres Chefs massenhaft am Gasreferendum beteiligt und dadurch implizit der MAS Recht gegeben. Es ist zu vermuten, dass sie der Bewegung so viel politisches Vertrauen entgegenbringen, dass sie sie auch wählen werden.
Felipe Quispe hat den Ast abgesägt, auf dem er saß: Nachdem er 2002 als einziger von sechs Kandidaten der MIP ins Parlament eingezogen war, legte er schon bald sein Mandat mit der Begründung nieder, er arbeite lieber im ländlichen Raum und mache dort die politische Arbeit, die er immer gemacht habe. Wenn man ihn fragt, ob er ins Parlament zurückkehren möchte, sagt er mit der ihm eigenen Direktheit: „Ich bin nicht zum Abgeordneten geboren, ich bin zum Präsidenten geboren.“ Diese Episode hat ihre Spuren hinterlassen. Nestor Guillén meint: „Damit beweist er doch, dass er nicht das Zeug zum Politiker hat. Don Evo [Morales] hat sein Mandat wirklich ausgeübt, er hat immer gezeigt, dass er gegen solche Sachen ist, er ist am Ball geblieben und hat weitergekämpft.“
Die MAS hat fraglos entscheidend an Boden gewonnen, als sie am 20. August dieses Jahres den Soziologen Alvaro García Linera für die Vizepräsidentschaft nominierte. García hat früher in der Guerilla von Felipe Quispe gekämpft und saß wie dieser bis 1995 im Gefängnis. Er sagt offen: „Ich habe einer Guerillagruppe angehört, ich bereue es nicht, ich bin noch derselbe wie vor fünfzehn Jahren, nur meine Methoden sind heute anders.“
Innerhalb der sozialen Bewegung identifizieren sich viele mit dieser Aussage. García Lineras Ernennung hat der MAS denn auch sehr viel Zulauf beschert: sechs Bauernvereinigungen, Bergbaukooperativen, wichtige regionale Gewerkschaften in Oruro, Potosí und Cochabamba, die Transportarbeiter von El Alto und sogar die Fejuve.6 Da García Linera als einer der einflussreichsten Intellektuellen Boliviens gilt, hat seine Kandidatur der MAS außerdem bei der Mittelschicht Sympathien verschafft; damit ist sie auch in Universitätskreise und die Studentenschaft vorgedrungen.
Bei den Umfragen liegt die MAS weit vorn, mit stark steigender Tendenz. Stärkster Rivale von Evo Morales ist Jorge Quiroga, der von vielen traditionellen Parteien unterstützt wird. Quiroga hatte in den Jahren 2001/2002 schon einmal das Präsidentenamt inne und war damals Mitglied der ADN (Nationalistische Demokratische Aktion, Partei des einstigen Diktators und später demokratisch gewählten Präsidenten Hugo Banzer).
Das neoliberale Lager versucht einstweilen, Zeit zu gewinnen und die Wahlen zu verschieben. Angesichts der schweren Krise und des drohenden Bürgerkriegs hatte man sich gemeinsam in einer politischen Übereinkunft auf diese vorgezogene Wahl geeinigt und sich dabei buchstabengetreu an die Verfassung gehalten.
Am 4. August gingen die Abgeordneten von Santa Cruz vor das Verfassungsgericht: Man habe den Artikel 60 der Konstitution missachtet, der die Zahl der Sitze in der Abgeordnetenkammer auf der Basis der letzten Volkszählung festlegt. Sie fand 2001 statt. Bei der gebotenen Eile war sie nicht berücksichtigt worden. Sie weist jedoch eine höhere Einwohnerzahl für die Städte La Paz, Santa Cruz und Cochabamba aus, die dadurch mehr Sitze bekommen müssten. Das Verfassungsgericht nahm am 22. September die Beschwerde an, was neuerlich für Aufregung sorgte und neue Unruhen auslöste.
Der für den 4. Dezember angesetzte Wahltermin konnte nach dem Entscheid des Wahlgerichts zugunsten einer neuen Sitzverteilung nicht eingehalten werden. Am 2. November verschob Präsident Rodriguez die Wahl auf den 18. Dezember.
Ängste und Hoffnungen des Landes kristallisieren sich in zwei Punkten: einer verfassunggebenden Versammlung und der Verstaatlichung der Rohstoffe. Was den zweiten Punkt betrifft, so will die siegessichere MAS Vorsicht walten lassen: „Eine entschädigungslose Verstaatlichung, wie die Radikalen sie wollen, würde uns in die 1960er-Jahre zurückwerfen, aber in einem so kleinen Land wie dem unseren, das von internationaler Hilfe lebt, kämen wir in eine schlimmere Situation als Kuba durch die Blockade“, meint Alex Contreras.7 García Linera äußert sich ähnlich: „Es ist eine Frage des Kräfteverhältnisses. Ich bin für eine pragmatische Lösung. Was kann man mit Petrobras machen, das heißt mit der brasilianischen Regierung? Ein Land von 175 Millionen Einwohnern! Wir müssen besonnen sein.“ Evo Morales fasst zusammen: „Viele Multis operieren auf der Basis von illegalen und verfassungswidrigen Verträgen, betreiben Schmuggel, zahlen keine Steuern. Wir werden dem Gesetz Geltung verschaffen, aber wir setzen bei der Verstaatlichung auf Wege des Dialogs und der Verständigung.“
Was die verfassunggebende Versammlung betrifft, so will die Rechte davon nichts wissen, „wenn man darunter eine Versammlung versteht, die die Befugnis hat, das Land von den Füßen auf den Kopf zu stellen, die Einfluss auf das Recht auf Eigentum nimmt, insbesondere bei Bodenschätzen und Ländereien, und in der sechzig Prozent der Abgeordneten Indigene sein müssen.“ 8 Die MAS fordert nämlich eine Versammlung, in der Angehörige der indigenen Völker – wie in der Bevölkerung – mehrheitlich vertreten sind und die souverän, ohne jede einschränkende Vorbedingung, agieren kann.