11.11.2005

Putin ratlos

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Putin ratlos

Russlands strategische Partnerschaft mit dem Westen stößt an ihre Grenzen, doch die Achse mit China ist keine Alternative von Laurent Rucker

Der bittere Ton spricht Bände: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war geopolitisch die größte Katastrophe des Jahrhunderts. Für das russische Volk war er ein Drama.“ So klagte der russische Präsidenten Wladimir Putin am 25. April 2005 in seiner Rede zur Lage der Nation. Seine Sätze lassen aber auch erkennen, wie ratlos der Kreml angesichts seines Machtverlusts ist.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war es zu einem spektakulären Schulterschluss mit den USA und Europa gekommen, doch seit Ende 2003 nehmen die Spannungen wieder zu. Das gilt vor allem seit der Rosenrevolution in Georgien, der ukrainischen „Revolution in Orange“ und den Auseinandersetzungen über den Bau eines Atomkraftwerks in Iran1 . In Moskau fragen sich Experten und Politiker, ob Russland die strategische Partnerschaft mit den USA fortsetzen oder lieber auf eine Annäherung an China setzen soll und wie zu verhindern wäre, dass Russland in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiter an Einfluss verliert.

Als Putin 1999 an die Macht kam, verkündete er, er wolle Russlands internationale Rolle stärken. Viele Experten rieten ihm, nicht länger auf die von Ministerpräsident Jewgeni Primakow2 angestrebte Wiederherstellung einer multipolaren Welt zu setzen – also auf die Konfrontation mit Washington. Stattdessen solle er sich auf die eigenen vitalen Interessen besinnen und die Wirtschaft durch stärkere Integration in den Weltmark modernisieren. Russland solle also eine Annäherung an die USA und Europa anstreben, auf jede Großmachtrhetorik verzichten und im Verhältnis zum Westen nicht mehr auf militärische Macht setzen.

Die Terroranschläge vom 11. September waren der ideale Anlass, um eine solche Revision der russischen Außenpolitik zu beginnen. Die strategische Partnerschaft mit den USA und Europa konzentrierte sich auf vier zentrale Bereiche: den gemeinsamen Kampf gegen den islamischen Terrorismus; eine politische Arbeitsteilung in der Krisenzone Zentralasien; die Annäherung Russlands an die Nato und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Energieversorgung.

Im Zuge dieser neuen Strategie unterstützte Moskau die Intervention in Afghanistan, akzeptierte die Eröffnung von US-Militärstützpunkten in Usbekistan und Kirgisien, ließ sich auf den Nato-Russland-Rat ein, zog sein Veto gegen den Beitritt der baltischen Staaten zur Nato zurück und beteiligte sich an der Entwicklung von Kooperationsprojekten bei der Erdöl- und Gasversorgung. Bis 2004 hielt diese Politik sämtlichen Herausforderungen stand. Nicht einmal der Irakkrieg konnte den russisch-amerikanischen Schulterschluss ernsthaft gefährden.

Zwar zählte Russland wie Frankreich und Deutschland zu den Gegnern des Irakkriegs, doch mit direkten Angriffen auf Washington hielt man sich im Kreml zurück. Auch nach dem Sturz von Saddam Hussein blieb Moskau bei seiner Gegnerschaft, unterstützte jedoch die UN-Resolutionen, empfing die neuen Machthaber im Irak und erließ dem irakischen Übergangspräsidenten den größten Teil der Auslandsschulden (8 Milliarden Dollar).

Dass Präsident Putin, obwohl er für einen Rückzug der angloamerikanischen Truppen aus dem Irak ist, Washington in keiner Weise unter Druck setzen will, hat auch damit zu tun, dass Putin die russischen Interessen im Irak schützen möchte. Das gilt vor allem für die Interessen des Lukoil-Konzerns, der noch mit Iraks Diktator Saddam Hussein einen Vertrag zur Ausbeutung des Ölfelds von Westkurna abgeschlossen hatte. Durch den Verkauf des noch verbliebenen Staatsanteils von 7,59 Prozent der Lukoil-Papiere an das US-Unternehmen ConocoPhilipps schaffte Lukoil ein Comeback in den Irak.

Die Reaktion Moskaus auf die „farbigen Revolutionen“ in Georgien und der Ukraine macht jedoch schlagartig deutlich, dass die Annäherung zwischen Russland, den USA und Europa auf tönernen Füßen stand. In den Augen des Kreml hatten die Zivilgesellschaften in diesen Ländern nicht etwa gegen korrupte, inkompetente und kriminelle Regime rebelliert, vielmehr hatte Washington Verschwörungen angezettelt, die den Einfluss Russlands in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion schmälern sollten.

Putins spektakuläre „Wende zum Westen“ im Jahr 2001 basierte auf dem gemeinsamen Kampf gegen einen gemeinsamen Feind: den Terrorismus, den Putin zuletzt im September dieses Jahres vor der UNO als „ideologischen Nachfolger des Nationalsozialismus“ bezeichnet hat. Um eine tatsächliche Ausbreitung der demokratischen (westlichen) Werte in Russland oder in den ehemaligen Staaten der UdSSR ging es dabei nie. Die wichtigste Stütze der neuen Allianz waren konservative Kräfte wie George W. Bush, Silvio Berlusconi und Ariel Scharon.

Auch in Moskau schließt man einen Präventivkrieg nicht aus

In vielen Bereichen haben die Präsidenten Russlands und Amerikas durchaus die gleichen weltpolitischen Ideen: die Vorherrschaft des Souveränitätsprinzips, die zentrale Bedeutung der militärischen Stärke, die Legitimität einer auf Gewalt beruhenden Politik sowie die Ablehnung humanitärer Interventionen und die Ablehnung einer internationalen Gerichtsbarkeit. Nicht einmal die Vorstellung von einem Präventivkrieg kann in Moskau schockieren: Auch der russische Verteidigungsminister schließt einen Präventivkrieg nicht aus, falls „die Interessen Russlands oder seine Verpflichtungen gegenüber seinen Verbündeten eine solche Entscheidung erfordern“.3

Der Kreml erwartet jedoch vom Westen zwei Gegenleistungen: die Nichteinmischung in die russische Innenpolitik und in den Tschetschenienkrieg, der mittlerweile als Beitrag zum weltweiten Kampf gegen den Terrorismus präsentiert wird, und darüber hinaus die Anerkennung der russischen Interessen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Doch in Washington und Brüssel wurde die Kritik am Tschetschenienkrieg und an den Attacken auf Freiheit und Pluralität in Putins Russland immer klarer formuliert.

Empört über die Kritik westlicher Politiker am Vorgehen von Polizei und Militär beim Geiseldrama von Beslan im September 2004 und über die westliche Einmischung im Zusammenhang mit der Revolution in Orange, griff Putin Ende 2004 den Westen erstmals scharf an. Er halte nichts von „Männern in Tropenhelmen“, die anderen vorschreiben wollten, was sie zu tun haben,4 erklärte er gegenüber einer türkischen Zeitung. An anderer Stelle kritisierte er die „pseudodemokratischen Phrasen“ des Westens, der in Wahrheit diktatorisch sei.5

Die wachsenden Ost-West-Spannungen und das Scheitern der russischen Diplomatie in Georgien und der Ukraine hat Putins Außenpolitik auch in Moskau in die Kritik gebracht.6 Dabei ist jedoch offen, ob es einen Kurswechsel geben wird. Die Annäherung an China im Laufe des letzten Jahres deutet darauf hin, zumal Moskau und Peking 2004 den Streit um die Inseln der Region Chabarowsk an der Grenze zu China beigelegt haben. Damit stünde einer Intensivierung der bilateralen Beziehungen im Rahmen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit nichts mehr im Weg.7 Im August 2005 fanden sogar erstmals gemeinsame russisch-chinesische Militärmanöver im Pazifik statt.

Könnte sich hier etwa eine engere Zusammenarbeit zwischen Moskau und Peking gegen Washington anbahnen? Einer solchen Entwicklung stehen mehrere Hindernisse entgegen.8 Da ist vor allem das tiefsitzende Misstrauen zwischen Russland und China. Beide Länder befürchten, vom anderen im Poker um die Beziehung zu den USA benutzt zu werden. Während China dabei ist, zu einer wirtschaftlichen wie militärischen Großmacht aufzusteigen, hat Russland alle Mühe, seinen Niedergang aufzuhalten und sich zumindest als regionale Macht zu behaupten.

Falls es sich zu eng an China bindet, muss Russland fürchten, bei einem Konflikt zwischen Washington und Peking zwischen den amerikanischen Hammer und den chinesischen Amboss zu geraten. Eine solche Konstellation müsse, so die außenpolitischen Experten in Moskau, um jeden Preis vermieden werden. Zentrales Ziel einer Zusammenarbeit mit China sollte deshalb die Entwicklung von Russisch-Fernost und von Sibirien sein. Diesen Gebieten droht eine demografische Auszehrung, obwohl hier die wichtigsten Ressourcen Russlands und vor allem die riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen liegen.9

Immer wenn sich die Beziehungen zu Washington verschlechtern, orientiert sich Moskau verstärkt nach Europa – und umgekehrt. Während der Krise in der Ukraine hatte es Moskau jedoch plötzlich mit zwei Fronten zu tun – gegenüber den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Da Russland seine politische Aufmerksamkeit stark auf die Nato-Osterweiterung konzentriert hatte, war es auf die Osterweiterung der EU schlecht vorbereitet, obwohl deren Folgen sehr viel weitreichender sind als die der Nato-Expansion.

Im Vorfeld der EU-Osterweiterung war es häufig zu Spannungen zwischen Moskau und Brüssel gekommen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) gegenüber den neuen Anrainerstaaten der Union (Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Russland und den Kaukasusstaaten) macht Moskau zunehmend nervös. Man sieht darin einen weiteren Angriff des Westens auf den russischen Einfluss in den postsowjetischen Staaten.10

Zusätzlichen Konfliktstoff zwischen Russland, der Europäischen Union und den übrigen europäischen Institutionen birgt die Diskussion über die „gemeinsamen Werte“, die sich vor allem um die Situation in Tschetschenien, die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung demokratischer Prinzipien dreht.

Auf der anderen Seite sorgen die engen Beziehungen Russlands zu einzelnen Mitgliedstaaten der Union (vor allem zu Deutschland11 , Italien und in geringerem Maße zu Frankreich) für Differenzen zwischen den EU-Mitgliedern. Während die einen eine enge Zusammenarbeit mit Moskau befürworten, fordern andere, vor allem Polen und die baltischen Staaten, eine schärfere Abgrenzung.

Die Beziehungen zwischen diesen neuen Staaten der Europäischen Union und Russland haben sich deutlich verschlechtert, was zum einen an den allgegenwärtigen Schatten der Vergangenheit liegt, zum anderen aber daran, dass diese Staaten enge Beziehungen zu Washington pflegen.12

In der Mitte seiner zweiten Amtszeit angelangt, muss Putin nunmehr feststellen, dass seine nach dem 11. September eingeschlagene Strategie nicht aufgegangen ist. Doch Russland kann auch keinen neuen Kurs einschlagen, ohne sich zu isolieren und wichtige Faktoren aufs Spiel zu setzen, die es für die Modernisierung seiner Wirtschaft so dringend benötigt: ausländisches Kapital, Technologien, Anschluss an eine globalisierte Weltwirtschaft.

Russlands gewaltige Strukturprobleme (schrumpfende Bevölkerung; eine Ökonomie, die vor allem auf Rentiereinkommen basiert; übermäßige Zentralisierung der Macht bei gleichzeitiger Schwäche des Staates; Fehlen einer zivilgesellschaftlichen Gegenmacht) haben dafür gesorgt, dass der wichtigste und größte Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion weltpolitisch nur noch in der Zweiten Liga spielt – trotz seines Atomwaffenarsenals, trotz des ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat und trotz der Zugehörigkeit zum Club der G 8, dessen nächster Gipfel 2006 erstmals in Russland stattfinden wird.

Öl und Gas als außenpolitischer Trumpf

Der Krieg in Tschetschenien hat nicht nur unzählige Menschenleben gefordert und immense Kosten verursacht; er hat auch dem Ansehen Russlands auf internationaler Ebene dauerhaften Schaden zugefügt, den Demokratisierungsprozess in Russland zum Stillstand gebracht und dem islamischen Terrorismus in die Hände gespielt.

Kurzfristig hält Moskau zwei Trümpfe in der Hand. Zunächst einmal sorgen die hohen Ölpreise dafür, dass Milliardengewinne in den russischen Staatshaushalt fließen. Und angesichts der instabilen Lage im Nahen Osten werden Europäer wie Amerikaner größere Ölmengen auch in Russland einkaufen, um ihre Erdölimporte so weit wie möglich zu diversifizieren. Die Kehrseite der Medaille ist freilich die Gefahr, dass Russland noch stärker auf Rentiereinnahmen angewiesen sein wird.

Ein zweiter potenzieller Trumpf sind die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Europäern. Nicht nur im Irak und im Iran, auch in Zentralasien – vor allem in Usbekistan – gerät Washington in eine immer schwierigere Situation. Nachdem die US-Regierung die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands in Andischan verurteilt hatte,13 schloss der usbekische Präsident Islam Karimow die US- Militärbasis, die erst 2001 für die Operationen in Afghanistan errichtet worden war, und suchte wieder größere Nähe zu Moskau. Das ist der erste ernsthafte Rückschlag für die Amerikaner in dieser Region.

Was die Europäer betrifft, so sind sie in erster Linie mit den Folgen der EU-Osterweiterung von 2004 beschäftigt und suchen nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs nach neuen Ansätzen. Und da auch die transatlantischen und innereuropäischen Differenzen noch lange nicht überwunden sind, bleibt Russland noch eine kurze Atempause, die einen gewissen Handlungsspielraum gewährt. Schon in nächster Zeit wird sich also zeigen, ob man in Moskau in der Lage ist, neue außenpolitische Ziele und Methoden zu entwickeln und zu einem attraktiven Modell für seine Nachbarstaaten zu werden.

Fußnoten: 1 Russland hat vom Iran den Auftrag zum Bau des Atomkraftwerks von Buschur erhalten, der insgesamt 800 Millionen Dollar wert ist. Da Teheran eine Übereinkunft über die Rückführung abgebrannter Brennstäbe nach Russland unterzeichnet hat, geht man in Moskau davon aus, dass damit eine ausreichende Garantie für die ausschließlich friedliche Nutzung des Atomkraftwerks vorliegt. 2 Vgl. „La politique étrangère russe. A l’Ouest, du nouveau!“, Le Courrier des pays de l’Est, Nr. 1038, September 2003. 3 Nezavisimaja Gazeta, Moskau, 3. Oktober 2003. 4 www.kremlin.ru./eng/text/speeches/2004/12/06/1232_type82915_80868.shtml, 6. Dezember 2004. 5 www.kremlin.ru/eng/text/speeches/2004/12/03/1233_type82914_8062,2.shtml, 3. Dezember 2004. 6 Vgl. die Artikel von Sergei Karaganow, einem dem Kreml nahe stehenden Experten, in: Rossijskaja Gazeta, Moskau, 13. und 22. September 2005. 7 Die 1996 gegründete Schanghai-Gruppe (ein Forum zur Lösung von Grenzproblemen) umfasste ursprünglich die Mitgliedstaaten Russland, China, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan. Nach dem Beitritt Usbekistans im Juni 2001 legte sich die Gruppe einen anderen Namen zu: „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (OCS). Seit Juli 2005 nehmen Indien, Pakistan und der Iran an den OCS-Treffen mit Beobachterstatus teil. 8 Bobo Lo, „Un équilibre fragile: les relations sino-russes“, Russie. Cei. Visions, Nr. 1, Ifri, Paris, April 2005. 9 Dmitri Trenin, „Aziatski vektor v strategii Moskvy“, Nezavisimaja Gazeta, 27. Oktober 2003. 10 Isabelle Facon, „La politique européenne de la Russie: ambitions anciennes, nouveaux enjeux“, Questions internationales, Paris, Nr. 15, September/Oktober 2005. 11 Deutschland ist der bedeutendste Handelspartner Russlands (14 Prozent der russischen Importe stammen aus Deutschland, 7,8 Prozent der russischen Exporte gehen nach Deutschland). Zugleich ist Deutschland der größte ausländische Investor, aber auch der Hauptgläubiger Russlands. Seit Anfang der 1990er-Jahre haben deutsche Investoren mehr als 10 Milliarden US-Dollar angelegt. Auf der anderen Seite schuldet Russland den Deutschen rund 20 Milliarden US-Dollar; das ist die Hälfte der Summe, die Russland seinen übrigen Gläubigern, den 18 Mitgliedstaaten des so genannten Pariser Clubs, schuldet. 12 Céline Bayou, „Etats-Baltes-Russie: un authentique dialogue de sourds“, Le Courrier des pays de l’Est, Paris, Nr. 1048, März/April 2005. 13 Vgl. Vicken Cheterian, „Bain de sang en Ouzbékistan“, Le Monde diplomatique, Oktober 2005.

Aus dem Französischen von Sonja Schmidt

Le Monde diplomatique vom 11.11.2005, von Laurent Rucker