08.02.2013

Wie viel ist genug?

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Wie viel ist genug?

In der Tretmühle des darwinistischen Kapitalismus von Robert und Edward Skidelsky

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Keynes’ Generation der Ökonomen ging noch davon aus, dass die Menschen, je effizienter sie darin würden, ihre Wünsche zu befriedigen, desto weniger arbeiten und ihr Leben umso mehr genießen würden – und das als rationale Akteure auch tun sollten. Wir haben zwei Arten von Hindernissen identifiziert, die verantwortlich dafür sind, dass Keynes’ Prophezeiung sich nicht bewahrheitet hat: Hindernisse, die sich aus den bestehenden Machtverhältnissen ergeben, und Hindernisse, die aus der Unersättlichkeit des menschlichen Begehrens entstehen. Zusammengenommen erzeugen sie ein Ethos der Gewinnsucht, das Gesellschaften zur ebenso pausen- wie ziellosen Jagd auf Reichtum verdammt.

Zusätzlich angefacht wird das Feuer des Gewinnstrebens durch den internationalen Wettbewerb. Ungeachtet des hohen Wohlstandsniveaus, das wir erreicht haben, wird uns in einem fort gesagt, wir müssten uns diesen oder jenen neuen Herausforderern stellen, insbesondere den Chinesen und anderen armen, aber strebsamen Nationen. „Das asiatische Jahrhundert überleben“ lautet einer dieser typischen Aufrufe zu mehr Leistung und Produktivität. Aber warum sollten wir, wenn wir doch schon genug haben, eine stärkere Präsenz in den „aufstrebenden Märkten“ anstreben?

In dem Bemühen, unsere „Möglichkeiten voll auszuschöpfen“, erhalten wir ein System aufrecht, das auf Kosten eines guten Lebens unbeirrt weiter die Gewinnsucht propagiert. Unsere Politiker haben uns nicht mehr anzubieten als Wirtschaftswachstum, Wirtschaftswachstum und nochmals Wirtschaftswachstum. Ungeachtet der fast schon erdrückenden Beweislage dafür, dass das kapitalistische System in unserem Teil der Welt in die Phase seines Niedergangs eingetreten ist. Das wichtigste Indiz dafür ist die Vorherrschaft des Kapitals, von sich selbst berauscht, aber zusehends aller sinnvoller Einsatzmöglichkeiten beraubt.

Die angloamerikanische Version des individualistischen Kapitalismus wird vor allem zum Nutzen einer habgierigen Plutokratie am Leben erhalten, deren Mitglieder im ganz großen Stil abkassieren und ihre Raubzüge in der Sprache der Freiheit und Globalisierung verbrämen. Unsere politischen Führer erfreuen sich derweil weiter an den Floskeln der Macht; die Realität entzieht sich den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit, ja sogar ihrem Verständnis. Unser System ist in seinem Kern von einer moralischen Fäulnis befallen, und hingenommen wird das nur, weil das Ausmisten dieses Augiasstalls eine Aufgabe wäre, die sich niemand auch nur vorzustellen wagt.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass das Ideal eines wirtschaftlichen Wachstums als Ziel ohne Ziel vergleichsweise jung ist. Als der britische Premierminister Harold Macmillan 1959 vor die Briten trat und sagte, uns sei es „noch nie so gut gegangen“, brachte er damit die weithin geteilte Ansicht zum Ausdruck, dass die kapitalistischen Länder des Westens mit Riesenschritten einem beispiellosen Konsumplateau entgegenstrebten und dass das hauptsächliche Problem der Zukunft darin bestünde, die Früchte dieses neuen Überflusses möglichst demokratisch zu verteilen. Die Annahme eines allgemeinen und dauerhaften Wohlstands und die daraus resultierende Auflehnung gegen die Technologie und psychologische Distanzierung von der Welt der Arbeit formten auch den imaginativen Hintergrund der utopistischen Bewegungen in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre.

Wie aber war es möglich, dass auf die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden materiellen Glückseligkeit die Wiedererweckung des darwinistischen Kapitalismus in den 1980er Jahren folgte? Was brachte Reagan und Thatcher an die Macht und bewirkte die Erneuerung des marktwirtschaftlichen Fundamentalismus?

Warum Glückseligkeit in der von den Adepten Marcuses erträumten Form eine Illusion ist, lässt sich unschwer erkennen. In reichen Gesellschaften nimmt mit der wachsenden Bedeutung des relationalen Wettbewerbs die Habgier eher noch zu, als dass sie schwindet. Dieser säkulare Trend aber erklärt noch lange nicht den plötzlichen Kollaps eines Systems der politischen Ökonomie, das im wohlhabenden Teil der Welt die Morgendämmerung des universellen Wohlstands an den Himmel gezaubert hatte.

Wachstum, Wachstum, Wachstum

Die Frage ist: Wie konnte das Wirtschaftswachstum so schnell und so absolut über alle anderen wirtschaftspolitischen Ziele triumphieren? Die einfache, aber überraschende Antwort: Nachdem die Vorgabe der allgemeinen Vollbeschäftigung scheinbar erreicht war, gab es keine anderen wirtschaftspolitischen Ziele mehr. Damit konnte sich das ökonomische Denken wieder einmal auf die Effizienz des Produktionsprozesses konzentrieren. Eine weitere Ursache bestand darin, dass nationale Leistungskennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt entwickelt wurden, die Vergleiche zwischen der Wirtschaftsleistung von Ländern ermöglichten. Und schließlich nahm sich nach zwei Weltkriegen der Versuch, die Völker reicher und nicht die Nationen kriegerischer zu machen, wie ein überaus zivilisiertes Anliegen aus.

Verstärkt wurde der Trend durch zwei Begleitumstände. Zum einen sah man im gesamten Westen die Notwendigkeit für ein beschleunigtes Wachstum, um im Wettrüsten mit dem Sowjetblock nicht ins Hintertreffen zu geraten. Nicht nur schien das Sowjetsystem in den 1960er Jahren schneller zu wachsen als der westliche Kapitalismus; indem es den privaten Konsum niedrig hielt, konnte es auch einen deutlich größeren Teil des wachsenden Reichtums für Rüstungszwecke einsetzen. Der zweite Grund lag darin, dass ein schnelleres Wirtschaftswachstum die Möglichkeit bot, das Problem der ungleichen Machtverteilung zu umgehen. Mit dem Wachstum der Wirtschaft konnte man die Lage der Armen verbessern, ohne dass man im Gegenzug die Steuern für die Reichen erhöhen musste. In diesem zweiten Sinne war die Politik des Wirtschaftswachstums eine linksgerichtete Politik, die das Wohl der Arbeiterklasse förderte, ohne dabei den latenten Klassenkonflikt um die Verteilung des Nationalprodukts anzufachen. Die Wachstumsapostel der 1960er Jahre waren denn auch hauptsächlich linke Ökonomen und Politiker, die sich von der Sozialisierung der Produktionsmittel als Instrument der Umverteilung verabschiedet hatten – beziehungsweise in den USA niemals dafür eingetreten waren –, aber dessen ungeachtet weiter den sozialistischen Traum von einer „gleicheren“ Gesellschaft träumten. Sie sehnten sich nach einer demokratischen Version der sowjetischen Planwirtschaft, eine Wirtschaft, in der die privaten Unternehmen mithilfe von Planzielen, Subventionen und Steueranreizen zu beständig höheren Leistungen angespornt und zugleich ein immer größerer Anteil der Erträge aus der unternehmerischen Tätigkeit in die Bildung, die Wohlfahrt und die öffentlichen Dienste umgelenkt würde.

Doch all das war immer noch ein gutes Stück von dem krisenanfälligen Kapitalismus entfernt, mit dem wir es heute zu tun haben. Die hauptsächliche Zutat, die Thatcher (1979 gewählt) und Reagan (1980 gewählt) der Wachstumsphilosophie hinzufügten, war ihr ideologischer Glaube an das marktwirtschaftliche System. Der Weg zu mehr Wachstum lag nicht in staatlicher Planung, sondern darin, die Märkte vom Gängelband des Staats zu befreien, durch niedrigere Steuern Anreize zu schaffen, die Macht der Gewerkschaften zu beschränken und die Märkte durch Privatisierung und Deregulierung auszuweiten. Zusammengenommen würden diese Maßnahmen eine sehr viel effizientere Allokation des Kapitals bewirken. Zudem galt im weltanschaulichen System Thatcher/Reagan die Zunahme der Einkommensungleichheit als akzeptabel, da dies zusätzliche Anreize für die „Wohlstandserzeuger“ schuf und durch „Trickle-down-Effekte“ der Wohlstand quasi von den Reichen hinab zu den Armen sickern würde. Dieses Gedankengerüst sollte für die nächsten 30 Jahre zum, wie Adair Turner es formulierte, alle Politikbereiche dominierenden „allgemeinen Glaubenssatz“ aufsteigen.1

Rückblickend gesehen wurde die Unersättlichkeit der Begierden weniger durch das Aufkommen einer Philosophie des Wachstums an sich entflammt, als vielmehr dadurch, dass diese Wachstumsphilosophie marktbasiert war. Eine „staatliche Wachstumsplanung“ hätte nicht mehr bedeuten müssen, als das Wohlergehen der Armen schrittweise an das der Reichen anzugleichen.

Mit dem Siegeszug des marktbasierten Wachstums jedoch schwand nach und nach jedes Interesse an den sozialen Folgen. Das ökonomische System diente nun der Maximierung der individuellen Bedürfnisbefriedigung, wie sie sich in den Märkten ausdrückte. Der Einzelne wurde nicht länger als Teil einer Gesamtheit betrachtet; stattdessen war die Gesamtheit nun nichts weiter als die Summe ihrer einzelnen Mitglieder. Diese Reduzierung des ökonomischen Lebens auf einen kruden Individualismus lässt sich in seinen Ursprüngen auf die 1970er Jahre datieren. In den Wirtschaftswissenschaften ersetzte die Mikroökonomik – das Studium des wirtschaftlichen Verhaltens von Individuen – die Makroökonomik, also das Studium der Wirtschaft als Ganzes.

In der politischen Theorie traten die Rechte und Pflichten von Individuen an die Stelle der Rechte und Pflichten von Gruppen. Natürlich unterlag auch diese Art der Marktordnung der Herrschaft des Gesetzes; das individuelle Streben nach Wohlstand jedoch unterlag keinerlei moralischen, politischen oder kulturellen Beschränkungen mehr; wenn überhaupt, dann waren es nun allein die natürlichen Grenzen des Wachstums, die noch einschränkend wirken konnten.

Jede radikale Veränderung im Bewusstsein erfordert den Stimulus der Krise. Für die Ritter der freien Marktwirtschaft war dies die „Krise der keynesianischen Ökonomie“ – die Kombination von steigender Arbeitslosigkeit und höherer Inflation, die Milton Friedman als die unausweichliche Konsequenz der Vollbeschäftigungspolitik identifizierte.

Die Marktradikalen führten einige eindrucksvolle Argumente ins Feld: Das bestehende System war sklerotisch geworden, die Macht der Gewerkschaften erdrückend, und die Steuersätze waren nicht einfach umverteilend, sondern nachgerade bestrafend. Als viel entscheidender für den Niedergang der keynesianischen Sozialdemokratie aber erwiesen sich die beiden Ölpreisexplosionen von 1973 und 1979, die, nach heutigem Geldwert ausgedrückt, zusammen einem Kapitaltransfer in Höhe von 1 900 Milliarden US-Dollar aus den Industrieländern in die ölexportierenden Länder – hauptsächlich im Nahen Osten – entsprachen. Der sprunghafte Anstieg der Energiekosten erforderte einen Rückgang der Realeinkommen in den Öleinfuhrländern. Angesichts des massiven, von den Gewerkschaften angeführten Widerstands gegen Lohnkürzungen schlugen diese Transferleistungen jedoch zunächst vor allem auf die Unternehmensgewinne und nicht auf die Löhne durch.

Die Wiederherstellung der gewohnten Profitrate durch die Aufkündigung der Verpflichtung zur Vollbeschäftigung, die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Kontrolle über die Löhne und die Restrukturierung der Wirtschaft durch den Ausbau des Dienstleistungssektors auf Kosten des Herstellungssektors formten das konkrete Projekt, das in der Ideologie vom freien Markt eine ideale theoretische Unterfütterung fand. Im Grunde gaben die Regierungen Reagan und Thatcher ganze Wirtschaftssektoren an die privaten Unternehmer zurück. Die Rolle des Staats wurde über sämtliche Bereiche hinweg – Management, Besitz, Regulation, Allokation und Distribution – drastisch beschnitten. Die Politik gab jeden Versuch auf, die Marktkräfte in Richtung irgendwelcher gesellschaftlich erwünschter Ziele zu steuern, und beschränkte sich darauf, die für ein reibungsloses Funktionieren der Märkte erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Indem man das Gewinnstreben von seinen gemeinschaftlichen Fesseln befreite, versprach man sich, hieß es in einer Art Neuauflage der einst von Adam Smith vorgetragenen Argumente, den Wohlstand der Nationen noch schneller wachsen zu lassen.

Vorausgesetzt, alles läuft nach Plan, gibt es in einer solchen Welt keinen Grund, warum der Kapitalismus je ein Ende finden sollte. Keynes’ Konzept der Sättigung hat hier keinen Platz: Das System erzeugt beständig neue Begierden und stimuliert den Statuswettbewerb immer wieder neu. Und jegliche Neigung reicher Gesellschaften, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen und weniger zu konsumieren, wird durch die Logik der Globalisierung und den Stimulus der zusätzlichen Einkommensungleichheit aufgehoben. Doch ein solches – gleichermaßen ethisch wie ökonomisch ineffizientes – System kann nur fortbestehen, weil wir vergessen haben, wofür Reichtum da ist, weil uns die Sprache des guten Lebens abhandengekommen ist. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, wird in der modernen Wirtschaftswissenschaft und politischen Theorie die These vertreten, der Staat sei hinsichtlich der Entscheidungen und Präferenzen der Individuen zu Neutralität verpflichtet. In einem System wie dem unseren jedoch bewirkt das unweigerlich und unausweichlich, dass Entscheidungen über das System und seine Instrumente in die Hände derer fallen, die über den größten Reichtum und die größte Macht verfügen.

Fußnote: 1 Adair Turner, „Economics after the Crisis: Objectives and Means“, Vorlesung 3: „Economic Freedom and Public Policy: Economics as a Moral Discipline“, Lionel Robbins Memorial Lecture. Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Ursel Schäfer Auszug aus: Robert und Edward Skidelsky, „Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens“. Das Buch erscheint am 6. März im Verlag Antje Kunstmann. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Verlag Antje Kunstmann, München.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2013, von Robert und Edward Skidelsky