08.02.2013

Syriza – Regierungspartei im Wartestand?

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Syriza – Regierungspartei im Wartestand?

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Besser könnten die Aussichten für die Opposition in einem normalen parlamentarischen System nicht sein: Die Regierungsparteien sind nicht nur für die prekäre Situation der Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich, sie haben auch serienweise ihre Versprechen gebrochen und ihre Prognosen korrigieren müssen. Die Politik, die sie als Rettung für Griechenland inserieren, ist nicht nur gescheitert, sie war auch von vornherein unfair und ungerecht, weil die Hauptschuldigen an der Misere nicht belangt werden und die relativ „Unschuldigen“ – und die Wehrlosen – die Zeche bezahlen müssen. Zudem ist eine Besserung der Lage – trotz neuer Milliardenkredite – immer noch nicht abzusehen.

Angesichts dieser Bilanz der diskreditierten Systemparteien Nea Dimokratia (ND) und Pasok gilt die Syriza (Koalition der radikalen Linken) seit Herbst 2012 in Athen als „Regierung im Wartestand“. Die Partei mit dem jugendlich-charismatischen Vorsitzenden Alexis Tsipras konnte ihren Wähleranteil seit 2009 in nur drei Jahren von 4,6 auf 26,9 Prozent erhöhen. Bei den letzten Wahlen vom Juni 2012 lag sie nur noch 3 Prozent hinter der konservativen ND. Ende des Jahres hatte sie diese in Umfragen sogar knapp überflügelt.

Dennoch sind die Syriza und Tsipras noch weit von der Macht entfernt. Das hat mehrere Gründe. Erstens sind Wahlen nicht in Sicht. Da die Koalitionsregierung Samaras (aus ND, Pasok und der linkssozialdemokratischen Dimar) heute leidlich konsolidiert ist, sind vorgezogene Neuwahlen nicht zu erwarten. Schon deshalb hat Tsipras mit seiner Ankündigung vom November, die Syriza werde „schon bald die Regierung in Griechenland stellen“,1 den Mund zu voll genommen.

Wichtiger ist der zweite Grund: Die Syriza ist derzeit noch nicht „mehrheitsfähig“, weil sie die unvermeidliche Entwicklung von der reinen Protestpartei zur linken Sammlungspartei noch nicht abgeschlossen hat. Dass auch viele ihrer Anhänger das so sehen, lassen einige Umfragen erkennen: Die meisten der 2012 dazugewonnenen Syriza-Wähler haben nicht aus ideologisch-programmatischen Gründen für die „radikale Linke“ gestimmt. Nur 10 Prozent nannten als Hauptmotiv das Wahlprogramm, gar nur 9 Prozent die Ablehnung der strengen Sparpolitik. Dagegen verwiesen 74 Prozent auf Motive wie dem Wunsch nach Wechsel oder der Abstrafung der Systemparteien.2

Ein zweiter erstaunlicher Befund: Die Frage, ob die Griechen mit der Arbeit der Opposition zufrieden sind, bejahten im Januar 2013 lediglich 14 Prozent der Befragten, bei der Regierung waren es immerhin 24 Prozent. Und auch für Tsipras selbst sind die Umfragen enttäuschend: Nur 24 Prozent halten ihn für den geeignetsten Regierungschef, während Samaras auf stolze 48 Prozent kommt.3

Wo diese mangelnde „Wählerakzeptanz“ herkommt, erschließt sich aus einer weiteren Umfrage: Ende 2012 erklärten 74 Prozent der Befragten, sie hielten die Syriza für nicht „bereit“ (im Sinne von reif) zum Regieren. Und die Frage, ob es Griechenland mit einer Syriza-Regierung besser gehen würde, bejahten nur 22 Prozent der Befragten. 27 Prozent meinten, es würde sich nichts ändern, 43 Prozent glaubten gar, es würde dem Land schlechter gehen.

Solche Umfragen sind immer nur Momentaufnahmen. Das gilt auch für den Befund, dass die ND seit Jahresanfang in der Wählergunst wieder knapp vor der Syriza liegt. Aber eine Aussage ist unbestreitbar: Die Syriza wird von einer großen Mehrheit der Gesellschaft (noch) nicht als potenzielle Regierungspartei gesehen.

Dafür gibt es mehrere Gründe, die Tsipras und seine Genossen sehr ernst nehmen müssen. Erstens ist die Syriza ein sehr heterogene Partei. Als Konglomerat von geläuterten Exkommunisten, Trotzkisten, Anarchisten, libertären Linken und radikalen Ökologen ähnelt sie den deutschen Grünen in ihrer Adoleszenzphase – nur dass die einzelnen Fraktionen noch viel stärker auf ihre Autonomie pochen als die eher verquirlten Strömungen der frühen deutschen Ökopartei. Die fraktionelle Vielfalt produzierte noch bei den Wahlen des letzten Sommers eine wirre Kakofonie. So konnten die Stimmbürger nicht genau wissen, ob die Partei das Land in der Eurozone halten oder aus der EU austreten will (wie es einige Stimmen forderten). Dagegen wissen die meisten Griechen, dass ein Konglomerat aus ideologisch verfestigten Gruppen, die ihre Autonomie nicht einer demokratisch organisierten Konsensbildung opfern wollen, schlicht nicht regierungsfähig ist, zumal in der extremen Situation des heutigen Griechenland.

Der zweite Grund ist das großzügige Verhältnis der Syriza zur Realität. Das äußerte sich 2012 etwa in der Wahlaussage, man werde sämtliche seit 2010 vollzogenen Kürzungen der Einkommen und Renten, wie auch die brutalen Einschnitte bei den staatlichen Sozialausgaben, per Gesetz rückgängig machen. Die Kosten der Wahlversprechen entsprachen einem Finanzbedarf von zig Milliarden Euro, ohne dass die Syriza sagte, wo sie dieses Geld besorgen will. Solche Mondaussagen erinnerten viele Griechen an die Versprechen der alten Parteien, die noch jedes Mal nach den Wahlen – unter Verweis auf die widrige Realität – gebrochen wurden.

Ähnlich weltfremd wirkte die Ankündigung, eine Regierung Tsipras werde alle von Griechenland unterschriebenen Sparprogramme „aufkündigen“.4 Die meisten potenziellen Syriza-Wähler erwarteten von einer neuen Regierung statt eines Bruchs mit der Troika ernsthafte Verhandlungen über eine Milderung der Sparzwänge und ein nachhaltiges Konjunkturprogramm.

Die meisten Griechen unterschreiben die scharfe Kritik der Syriza an dem Diktat der Gläubiger, das die griechische Krise nur weiter verschärft und sich als Sackgasse erwiesen hat. Aber sie wissen auch, dass der gewünschte Strategiewechsel nur mit den europäischen Partnern möglich ist. Deshalb muss sich jede Athener Regierung um die Solidarität ihrer EU-Partner bemühen, die letztlich die Solidarität der europäischen Steuerzahler einschließt.

Diese Solidarität auf gesellschaftlicher Ebene ist aber nur zu gewinnen, wenn in Griechenland die Bereitschaft sichtbar wird, längst überfällige Reformen anzupacken, um jene fatalen Pathologien in Politik und Gesellschaft zu bekämpfen, deren wichtigste Elemente der „Klientelismus“ und die krass unterentwickelte Steuerdisziplin sind.

In beiden Punkten neigt die Syriza auch heute noch zur Realitätsverleugnung. Sie kritisiert zwar die „Vetternwirtschaft“ der alten Systemparteien, will aber das Ergebnis des Klientelismus – den aufgeblähten und oft dysfunktionalen öffentlichen Sektor – nicht radikal reformieren. Sie geißelt zwar die „Steuerbetrüger“, aber nur in Gestalt der „Millionäre“ und Plutokraten, die ihre Gewinne unversteuert ins Ausland schaffen – nicht aber die Freiberufler, die für über 50 Prozent der hinterzogenen Steuern verantwortlich sind.

Wenn Tsipras in Interviews fordert „dass nicht immer nur die Armen und die Mittelschicht Steuern zahlen, sondern endlich auch die Reichen zur Kasse gebeten werden“, pflegt er die Freiberufler nicht zu erwähnen, die den Kern der griechischen Mittelschicht ausmachen. Es sind eben auch die Gruppen, in denen die Syriza-Wähler überdurchschnittlich vertreten sind.

Die fatalste Entwicklungen innerhalb der griechischen Krise besteht darin, dass die Härte und die ungerechte Lastenverteilung des Sparens die Ansätze zu einer „Selbstkritik“, die zu Beginn der Krise aufgeblüht waren, rasch wieder erstickt hat. Statt diese Ansätze zu nutzen und zu vertiefen, beschränkt sich die Syriza bislang darauf, den Zorn der Wähler auf die politische Klasse – aus der sich die meisten heraus definieren können – auf die eigenen Mühlen zu lenken. Die weit schwerere Aufgabe, die gesellschaftliche Tiefe des Klientelsystems zu thematisieren – aus dem sich viel weniger Griechen herausdefinieren können – hat sie nicht angepackt. Eine Partei, die sich anschickt, als Regierung die Zukunft einer Gesellschaft in der Krise zu gestalten, kann sich um diese Aufgabe aber nicht drücken. Zumal es sich um ein genuin „linkes“ Thema handelt, weil der Klientelstaat der größte Feind des Sozialstaats ist.

Das haben die Partei und Tsipras in den letzten Wochen offenbar begriffen. Ohne ihre Kritik an der desaströsen Politik der Troika zurückzunehmen, beginnt die Syriza, realistischere Forderungen vorzubringen. Und ihr Vorsitzender ist bemüht, seine Kontakte auf internationaler Ebene zu verbessern, um das verbreitete „Feindbild“ einer umstürzlerischen und EU-feindlichen griechischen Linken zu kippen.

Das begann schon im Dezember in Athen, als Tsipras einen „fruchtbaren“ Meinungsaustausch mit den Botschaftern der EU-Länder arrangierte. Es folgten das Gespräch mit Bundesfinanzminister Schäuble am 15. Januar in Berlin4 und eine USA-Reise. In Washington hielt Tsipras am 22. Januar einen Vortrag an der Brookings Institution und hatte einen Termin mit IWF-Vizedirektor David Lipton. In seinem Vortrag klärte Tsipras das Publikum auf, „dass ich nicht so gefährlich bin, wie mich einige hinzustellen versuchen“. Die Behauptung, er wolle die bestehenden Vereinbarungen mit EU und IWF „zerreißen“ oder Griechenland zur Drachme zurückführen, sei „übelste Panikmache“. Und er versicherte: „Syriza wird Griechenland in der Eurozone halten.“

Das Bekenntnis zum Euro ist auch ein Signal an die eigene Partei, in der einige immer noch von der Rückkehr zur Drachme träumen. Was die Vereinbarungen mit der Troika betrifft, so sprach er in den USA konsequent von „Neuverhandlungen“ und nicht von einer „Aufkündigung“, die er im griechischen Wahlkampf angekündigt hatte.5 Für eine wirkliche Krisenlösung forderte Tsipras eine paneuropäische Schuldenkonferenz (siehe seinen Text auf Seite 16) und lobte den „Keynesianismus“ der Obama-Regierung als Vorbild für eine Rettung der Eurozone.

Die Syriza strebt offensichtlich eine „realpolitische“ Wende an, die ihre eine gesellschaftliche Mehrheit sichern soll. Wenn es Tsipras gelungen ist, die internationale „Kontaktsperre“ zu durchbrechen, so liegt dies auch daran, dass zum einen die Syriza der Realität näher gerückt ist, zum andern aber auch die Realität den Syriza-Positionen.

Zwei Beispiele: Die Kritik, dass die Troika-Rezepte so ungerecht wie erfolglos sind, wurde durch die Krisenentwicklung voll bestätigt. Und dass Griechenland einen weiteren Schuldenschnitt braucht, wie die Syriza fordert, glauben inzwischen viele realistische Beobachter, bis hinein in den IWF.

Selbst was die europäische Schuldenkonferenz betrifft, so gehen immer mehr Ökonomen und Politiker davon aus, dass sie früher oder später kommen wird – allerdings erst nach den deutschen Wahlen im September.

Niels Kadritzke

Fußnoten: 1 www.zeit.de/wirtschaft/2012-11/syriza-alexis-tsipras-griechenland. 2 www.publicissue.gr/2039/criterion/. 3 www.publicissue.gr/2067/varometro-ian-2013/. 4 Die Begründung, die Partner würden Griechenland keinesfalls mit dem Euro-Ausschluss bestrafen, war im Sommer 2012 eine hoch riskante Hypothese. 5 Zum Schäuble-Treffen: Bericht in Avgi, Deutsch unter: www.NachdenkSeiten, 16. Januar 2013. 6 Siehe auch Kathimerini, 24. bzw. 29. Januar 2013. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.02.2013, von Niels Kadritzke