Kreml oder Demokratie
Wladimir Putins Russland, der Westen und die neue deutsche Ostpolitik von Lilja Schewzowa
Die westlichen Demokratien durchleben gegenwärtig eine Krise, die in vielem an die Situation der späten 1960er und frühen 1970er Jahre erinnert. Vergleichbar jedenfalls sind die Antriebsverluste und die strukturellen Probleme. Doch die Suche nach Auswegen erweist sich heute als schwieriger: Es gibt keine Antworten auf die Herausforderungen einer postpostindustriellen Gesellschaft. Und es fehlt die „konkurrierende“ Alternative. Damals hatte der Kommunismus die liberalen Demokratien des Westens zur Erneuerung gezwungen, heute führt das Fehlen einer Alternative zu Selbstgerechtigkeit und Stagnation.
Zudem ist die westliche Welt heute abhängig von autoritären Staaten: Die USA sind Schuldner Chinas, und Europa ist zum großen Teil auf russische Energielieferungen angewiesen. Aber die größte Verwundbarkeit der westlichen Demokratien liegt in der Bereitschaft, zu täuschen und sich täuschen zu lassen: Autoritäre Staaten imitieren sowohl westliche demokratische Institutionen als auch deren Prinzipien und versuchen ihre Eliten in den westlichen Gesellschaften zu etablieren. All das führt dazu, dass liberale Werte auch im Westen verwässert werden, wie sich an den Beziehungen des Westens zu Russland zeigt.
Das russische Modell der personalisierten Macht, gestützt auf Militarismus und imperiale Gesten, das zur Stabilisierung der eigenen Gesellschaft ein äußeres Feindbild braucht, zeigt eine beängstigende Fähigkeit zur Anpassung an neue Realitäten. 1991 verabschiedete sich Russland von der Sowjetunion, von kommunistischer Ideologie und Planwirtschaft und stellte sich, scheinbar mühelos, auf marktwirtschaftliche Prinzipien um (wobei eine neue Konzentration von Macht und privatem Reichtum geschaffen wurde). Man bediente sich einer liberalen Rhetorik und demonstrierte eine prowestliche Haltung. Doch schon Boris Jelzin begann, hinter der Fassade demokratischer Losungen, zur Autokratie zurückzukehren und die Hegemonie Russlands im postsowjetischen Raum zu konservieren.
Wladimir Putin vollendete diese Wende Jelzins hin zum Traditionalismus und setzte die Imitation liberaler Institutionen – Wahlen, Parlament, Mehrparteiensystem et cetera – fort. Die offenen Grenzen erweckten den Anschein einer Europäisierung Russlands, und der Kreml definierte seine Außenbeziehungen neu: „Mit dem Westen, im Westen, gegen den Westen.“ So konnte die herrschende Klasse die sowjetische Linie fortsetzen; sie fasste in den westlichen Gesellschaften Fuß und unterhöhlte nach und nach die Werte einer freiheitlichen Demokratie. Sie deponierte ihr Geld auf westlichen Konten, sicherte sich privat in westlichen Ländern ab und behielten ihre Einkommensquellen in Russland.
So konnte ein zunehmend korruptes Regime, das sich auf seine Energieressourcen und die Angst vor der russischen Atommacht verlassen konnte, Einfluss auf die Eliten des Westens ausüben. Die Konfrontation mit der UdSSR hatte den Westen gezwungen, sich seiner liberalen und demokratischen Werte zu vergewissern. Das autoritäre Russland dagegen begann Werte, Prinzipien und Moral der liberalen Demokratien zu untergraben. Überlebensfähig aber ist dieses Modell nur, weil Teile der westlichen Elite die kommerziellen und politischen Interessen des Kremls teilen und unterstützen.
Die Einbindung ehemaliger westlicher Spitzenpolitiker – unter ihnen Exbundeskanzler Gerhard Schröder, Finnlands Expremier Paavo Lipponen und Ex-Nato-Generalsekretär George Robertson – in staatliche und private russische Unternehmen erleichterte die Expansion in westliche Märkte. Die Kontakte zwischen Vertretern westlicher Medien und Experten mit dem Kreml – insbesondere im deutsch-russischen Petersburger Dialog, beim Jaroslawler Forum (während der Präsidentschaft Dmitri Medwedjews) und im Diskussionsforum des Waldai-Clubs (ein institutionalisiertes Treffen westlicher Vertreter mit Präsident Putin) – machen alle Beteiligten zu Mitwirkenden an einer Imagekampagne für Russland.
Es gab günstige Bedingungen für westliche Unternehmer, die sich dafür mit der Förderung russischer Interessen in ihren Heimatländern revanchierten. Westliche Konzerne, die wie Siemens oder Daimler zu komfortablen Konditionen in Russland produzieren und Geschäfte machen, haben sich den Spielregeln angepasst und unterhalten enge Beziehungen zur Exekutive.
Die Hoffnungen des Westens, Russland werde sich in eine liberale Demokratie verwandeln oder doch wenigstens dem Westen freundschaftlich gesinnt bleiben, erfüllten sich nicht. Getrieben von einer Mischung aus Selbstherrlichkeit und Furcht, änderte der Kreml in den Jahren 2004 bis 2007 die Strategie. Er ging in Abwehrstellung. Einerseits glaubte man an die Konsolidierung des Putin-Regimes, andererseits wuchs die Angst, dass es auch in Russland zu einer orangenen Revolution kommen könnte. Vor allem aber verdächtigte man den Westen, den Umsturz in der benachbarten Ukraine initiiert zu haben.
Während der „Putin-Pause“ (durch den Ämtertausch mit Dmitri Medwedjew) von 2008 bis 2012 gab sich der Westen der Illusion hin, Russland würde nun doch zur Liberalisierung zurückkehren. Die USA verkündeten einen „Neustart der bilateralen Beziehungen“, und die Bundesrepublik rief eine „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland aus, die den Kurs für die gesamte EU vorgeben sollte.
Ein vermeintlicher Modernisierungspartner
Doch als Putin im März 2012 in den Kreml zurückkehrte und mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der ersten großen Protestwelle seit dem Zerfall der UdSSR konfrontiert war, begriff er schnell, dass ein Nachgeben den Verlust seiner Macht bedeuten würde. Daraufhin ließ er alle Imitationsversuche fallen und setzte den Akzent auf den „russischen Weg“: Er ging auf Distanz zu den westlichen Demokratien, reagierte auf die Herausforderungen der Opposition mit Repressionen und diktierte dem Westen seine Bedingungen: Ihr braucht unsere Rohstoffe und wollt in Sicherheitsfragen mit uns zusammenarbeiten? Dann verschließt die Augen vor dem, was in Russland geschieht, und erkennt unseren Anspruch auf Einflusssphären im postsowjetischen Raum an.
Die Russlandpolitik des Westens war von Anfang an darauf ausgerichtet, marktwirtschaftliche Reformen und eine ihm wohlgesinnte autoritäre Regierung zu unterstützen. Man hatte angenommen, eine Einbindung Russlands in westliche Institutionen wie G 8 oder Europarat und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Nato und EU würden eine demokratische Entwicklung Russlands fördern. Man setzte auf eine Integration Russlands in den Westen, ohne Bedingungen dafür zu formulieren. Der Kreml musste sich zu nichts verpflichten. Es mag durchaus sein, dass einige westliche Politiker an die Möglichkeit glaubten, ein autoritäres Regime könne die demokratische Transformation Russlands herbeiführen. Andere fürchteten vor allem die Instabilität der Atommacht. Alle jedoch einte der Zweifel an der Demokratiefähigkeit der russischen Gesellschaft.
Selbst als Ende der 1990er Jahre deutlich wurde, dass die Demokratie in Russland vorerst keine Chance haben würde, hielt man den Anschein aufrecht, Russland sei ein demokratisches Land. Brüssel beteiligte sich an diesem Spiel und diskreditierte sich gründlich. Gemeinsam baute man potemkinsche Dörfer und übte sich in der Kunst, die inhaltliche Leere dieser Partnerschaft mit nichtssagenden Phrasen zu füllen.1 Der Kreml zog daraus den wenig überraschenden Schluss, Brüssel ignorieren zu können. Man besann sich auf die Teile-und-herrsche-Strategie und schloss fortan bilaterale Abkommen mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten.
Allerdings hätte das Spiel ‚Lasst uns den Anschein erwecken‘, in das Brüssel sich verstricken ließ, ohne das „alte Europa“ gar nicht erst begonnen. Vor allem Deutschland, Frankreich und Italien taten, wie der französische Politikwissenschaftler und Publizist Dominique Moisi schreibt, „ein und dasselbe: sie konkurrierten um Möglichkeiten, dem Kreml näher zu kommen und sich seiner Gunst zu versichern“.2 Großbritannien verdient hier eine eigene Erwähnung: Tony Blair gedachte der engen Beziehung zwischen Margaret Thatcher und Michail Gorbatschow und versuchte erfolglos, Ähnliches mit Wladimir Putin zu wiederholen. Doch für eine Freundschaft mit dem Kreml hätte Blair den führenden tschetschenischen Oppositionellen Achmed Sakajew und den russischen Oligarchen Boris Beresowski, die beide im britischen Exil leben, ausliefern müssen. Blair entschied sich dagegen. Andere europäische Politiker hatten weniger Skrupel, möglicherweise, weil sie die öffentliche Meinung in ihren Ländern nicht fürchten mussten.3
Russlands liberale Minderheit ist vom Westen enttäuscht
Präsident Jacques Chirac verlieh Putin 2006 nicht nur eine der höchsten Auszeichnungen, die Frankreich zu vergeben hat, das Große Kreuz der Ehrenlegion, er nahm ihn auch mehrfach bei EU-Gipfeln vor der Kritik anderer europäischer Staatschefs in Schutz. Nicolas Sarkozy, der während seiner Wahlkampagne noch die russische Führung für ihre Verstöße gegen demokratische Prinzipien getadelt hatte, versuchte als Präsident schon bald, ein Freund des Kreml zu werden. Noch ist unklar, ob auch François Hollande diesen Weg einschlagen wird – bislang scheint der Zustand der russischen Demokratie ihn nicht sonderlich zu bekümmern. Frankreich wird das letzte Land sein, das die Magnitskij-Liste (siehe Kasten) unterstützen wird, meint Vincent Jauvert vom Nouvel Observateur. Am stabilsten aber erwies sich die Freundschaft deutscher Spitzenpolitiker: Während Gerhard Schröder eine überaus innige Freundschaft zum russischen Präsidenten unterhielt, sorgt seine Nachfolgerin Angela Merkel zumindest für ein gutes Verhältnis.
Die besonderen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands zu Russland sind vor allem von wirtschaftlichen Interessen geleitet. 2011 investierte Frankreich 9,8 Milliarden Dollar in Russland; der Bau der für Russland bestimmten Hubschrauberträger „Mistral“ beschäftigt 20 000 französische Arbeiter, und das Energieunternehmen GDF Suez ist an der Gaspipeline Nord Stream beteiligt. Der Handel zwischen Deutschland und Russland erreichte zuletzt ein Volumen von 28,1 Milliarden Dollar, zudem sind in Russland 6 000 deutsche Firmen tätig. Und schließlich pflegen beide Länder auf diese Weise ihren Antiamerikanismus. In Frankreich gehört er zur gaullistischen Tradition. Berlin hat inzwischen seinen eigenen „Gaullismus“ entwickelt, der durch das deutsch-russische Verhältnis noch akzentuiert wird. Freilich handelt es sich dabei um die Beziehung einer Regionalmacht, die sich ihrer wiedergewonnenen Größe schämt, zu einer Weltmacht, die sich ihres Gewichts keineswegs schämt und die Europäer nur als Juniorpartner betrachtet.
Die deutsche Russlandpolitik hat indes noch tiefere Wurzeln. Teile der deutschen Bevölkerung fühlen eine historische Schuld gegenüber Russland. Zudem existieren noch Überreste jener „leidenschaftlichen Anziehung und Bewunderung“ der Deutschen für Russland, wie sie der deutsche Historiker und Publizist Gerd Koenen in seinem Buch „Der Russland-Komplex“4 beschrieb. Und schließlich folgt die deutsche Russlandpolitik noch immer dem von Egon Bahr schon 1963 formulierten Prinzip „Wandel durch Annäherung“, das 1969 den Strategiewechsel in der deutschen Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt einläutete.
Im Glauben an die Möglichkeit einer positiven Entwicklung des kommunistischen Systems durch die Annäherung an den Westen entwickelte sich die Ostpolitik in den Konzepten der deutschen Sozialdemokratie weiter, Konzepte, die so hoffnungsvolle Namen wie „Annäherung durch Verflechtung“ oder „Modernisierungspartnerschaft“ trugen. Deren Verfechter hielten es nicht für ausgeschlossen, dass diese Annäherung schließlich sogar zu einer Konvergenz beider Systeme führen könne. In der Realität erwies sich der Kommunismus allerdings als nicht reformfähig. Die Versuche, ihn auf diese Weise zu zivilisieren, verlängerte lediglich seine Lebensdauer.
Die Zusammenarbeit der russischen Gazprom mit deutschen Partnern wie Eon Ruhrgas und Deutscher Bank, die zu einem bestimmenden Faktor der deutschen Russlandpolitik zunächst unter Schröder und dann unter Merkel wurde, hat ihre Wurzeln in der Brandt’schen Ostpolitik. Die war zunächst eine Entspannungspolitik im Hinblick auf die beiden deutschen Staaten – und eine Lösung für die Frage der deutschen Energieversorgung, was den Spielraum der UdSSR wiederum erweiterte. Heute erleichtert die „Gas-Diplomatie“ das Überleben der Autokratie in Russland.
Die pragmatische Russlandpolitik der USA folgt indes anderen Richtlinien. So unterhalten sie keine ernsthaften wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und sind auch nicht auf russische Rohstoffe angewiesen. Das Bestreben, Russland zu missionieren, wurde aufgegeben. Barack Obama betreibt keine werteorientierte Außenpolitik. Washington setzt auf taktische Kompromisse mit Moskau. Der sogenannte Neustart der bilateralen Beziehungen in der ersten Amtsperiode Obamas bedeutete allerdings nur äußerlich so etwas wie eine Partnerschaft.
Präsident Putin schuf mit den repressiven Gesetzen, die er 2012 durchsetzte, die Voraussetzungen für die Errichtung einer Diktatur in Russland und für eine erneute Abschottung des Landes. Westliche Politiker und Intellektuelle aber reagierten darauf mit Gleichgültigkeit. Ihr Mantra: Russland ist entweder aus sich selbst heraus fähig zur Liberalisierung, oder man muss es eben „so nehmen, wie es ist“. Westliche Medienvertreter nehmen weiterhin gern Einladungen zur Teilnahme am Waldai-Club an, so als könne man nicht ermessen, was in Russland vor sich geht, wenn man nicht zuvor mit dem Präsidenten zu Abend gegessen hat.
Der führende Russlandexperte der deutschen Sozialdemokraten, Gernot Erler, denkt laut über die „Europäisierung“ Russlands nach5 , vermeidet aber, die Frage zu stellen, wie „Europäisierung“ und politische Repression in Einklang zu bringen sind – dabei hat er die Verletzungen von Menschenrechten und die Einschüchterung der russischen Protestbewegung durchaus zur Kenntnis genommen.6 Und der umtriebigste der deutschen Russlandexperten, Alexander Rahr, prophezeit gar, man werde Putin in einigen Jahrzehnten mit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer vergleichen. Immerhin habe Putin „ein funktionierendes System in Russland geschaffen“.7 Es funktioniert, in der Tat, zur vollen Zufriedenheit einer korrupten Elite.
Der US-amerikanische Diplomat John Evans gerät gar in Verzückung ob der an Recht und Gesetz orientierten Politik Putins und der beispiellosen Freiheit des Wortes in Russland.8 Warum nur verletzt der angeblich „wie ein Jurist“ agierende Präsident permanent die russische Verfassung? Und warum meint der französische Ökonom Jacques Sapir „die russischen Führer“ dafür loben zu müssen, dass sie im Unterschied zu ihren westlichen Kollegen „bereit für Herausforderungen“ seien? „Sie haben das, was man eine Vision der russischen Zukunft nennen kann.“9 Von wessen Zukunft ist hier die Rede, möchte man fragen. Von der eigenen oder der Russlands?
Es überrascht daher nicht, dass die freiheitlich gesinnte Minderheit in Russland eine zunehmend antiwestliche Haltung an den Tag legt. Noch in den 1990er Jahren empfahlen die russischen „Sapadniki“ (Westler) die freiheitlichen Demokratien zur Nachahmung. Heute begegnen sie ihr mit Misstrauen. Die Enttäuschung über die Haltung des Westens ist groß.10
Misstrauen und Enttäuschung sind nur zu verständlich, denn die Zivilgesellschaft wäre das erste Opfer, sollte sich das Land erneut isolieren. Die liberale Minderheit in Russland will durchaus die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen und ist für den Dialog in Sicherheitsfragen. Was sie nicht will: dass Europa zur Geldwaschanlage für russisches Schwarzgeld wird, dass Partnerschaft und Dialog der Zivilgesellschaften lediglich imitiert werden und dass westliche Politiker das Geschäftsgebaren korrupter russischer Unternehmer legitimieren. Ebenso wenig will sie, dass sich korrupte ausländische Unternehmen in Russland etablieren.
Der „Sonderweg“, auf den der Kreml Russland führen will, hat in Wirklichkeit kein Ziel. Das Land befindet sich in einer historischen Sackgasse. Der Streit darüber, ob sich die Russlandpolitik von Interessen oder von Werten leiten lassen sollte, hat sich bereits erledigt. Der Westen hat mit seiner Absage an eine werteorientierte Politik die Möglichkeit aufgegeben, die Strategie zu bestimmen. Stattdessen sind die westlichen Demokratien selbst zum Objekt eines Einflusses geworden, der ihre Prinzipien untergräbt.
Damit ist auch das Modell der Demokratieförderung in autoritären Staaten obsolet. In Russland jedenfalls ist die Förderung der Demokratie unmöglich geworden: Sie ist, seit Putin 2012 die entsprechenden Gesetze unterschrieb, schlicht verboten. Mehr noch, sie ist auch in den Augen der Bevölkerung diskreditiert. Leute, die Hilfe aus dem Westen in Anspruch nehmen, gelten inzwischen allgemein als „fünfte Kolonne“ – mit allen damit verbundenen Folgen für ihre Reputation.
Folglich stehen die liberalen Demokratien vor der Notwendigkeit, ihre Russlandpolitik neu auszurichten. Das „Magnitskij-Gesetz“, das der US-Kongress im Dezember 2012 verabschiedet hat (siehe Kasten), könnte zum Wendepunkt in den Beziehungen des Westens zu Russland werden. Immerhin haben die USA als führende Weltmacht damit Möglichkeiten an die Hand bekommen, massiven Druck auf die herrschende Elite eines Staats zu nehmen, der für sich in Anspruch nimmt, eine Säule der gegenwärtigen Weltordnung zu sein. Es geht hier vor allem darum, Bedingungen zu stellen.
Bisher betrifft dies lediglich eine kleine Gruppe der russischen Elite. Aber dergleichen kann zum Präzedenzfall werden, der es dem Westen erlaubt, neue Maßstäbe in der Abwägung von Interessen und Werten zu formulieren. Die Frage ist, ob Washington tatsächlich dazu bereit ist – andernfalls wäre das Magnitskij-Gesetz nur ein neues Instrument der Täuschung. Einflussreiche Kreise in beiden Ländern werden versuchen, den Gang der Ereignisse in diese Richtung zu lenken.
Das Europäische Parlament unternahm seinerseits einen Schritt: Es drückte seine Besorgnis über die Entwicklung in Russland aus und forderte im November 2012 die EU-Kommission sogar dazu auf, eine eigene „Magnitskij-Liste“ zu erstellen, auf deren Grundlage die Konten korrupter russischer Staatsbediensteter eingefroren werden könnten und diesen die Einreise in den Schengenraum verwehrt werden könnte. Dieser Beschluss hat zwar keinen verpflichtenden Charakter, aber seine Richtung ist klar. Selbst im deutschen Bundestag waren erstmals Ansätze einer kritischen Haltung gegenüber Moskau zu beobachten.11
Dass auch Europa sich der Maßnahme Washingtons anschließen könnte, beunruhigt die russischen Eliten verständlicherweise. Die aktuellen Diskussionen darüber, ob man russisches Kapital nach Russland zurücktransferieren solle, zeugen von dieser wachsenden Furcht – ebenso wie die Absicht der russischen Führung, die USA mit „symmetrischen und asymmetrischen“ Gegenmaßnahmen abzustrafen.12
Tatsächlich aber hat der Kreml keine Möglichkeiten für einen analogen Gegenschlag. Kaum ein westlicher Bürger unterhält Konten in Russland oder äußert den dringenden Wunsch, dort auch zu leben. Die russische Obrigkeit kann westlichen Diplomaten und Journalisten das Leben schwermachen, die Unternehmen aber wird sie kaum antasten. Es würde den eigenen Interessen schaden. Zu Geiseln seiner Rache wird der Kreml die russische Opposition und die Zivilgesellschaft machen. Jede Beeinträchtigung seiner Interessen durch den Westen wird er mit „symmetrischen“ Folgen für die russische Gesellschaft beantworten.
Die Befürworter des Status quo in den Beziehungen zu Russland werden deshalb fragen, warum sie sich überhaupt erst den Kopf darüber zerbrechen sollen: Wenn eine werteorientierte Neuausrichtung des Verhältnisses zu Russland den Autoritarismus noch verstärkt, warum sollte man sie dann auch nur in Erwägung ziehen? Weil diese Neuorientierung unabdingbar ist, wenn die westlichen Demokratien ihre Rolle als zivilisatorische Alternative zurückgewinnen wollen. Und sie brauchen eine werteorientierte Außenpolitik auch, um einen Ausweg aus ihrer eigenen Krise zu finden.
In Russland wird die Rückkehr zur Eiszeit auf jeden Fall verstärkte Repressionen bedeuten. Wenn sich die freiheitsliebenden Demokratien aber auf ihre eigenen Wertmaßstäbe besinnen und danach handeln, schaffen sie dagegen günstigere äußere Bedingungen für eine russische Transformation. Das würde eine Spaltung der herrschenden Elite in Russland sicher beschleunigen: Während die einen an offenen Grenzen und einer Ablösung des Regimes interessiert sind, werden die anderen versuchen, ihre Macht zu erhalten – auf Kosten einer Isolation Russlands.
Dabei sind weder die einen noch die anderen echte Demokraten. Auch die Anhänger einer größeren Offenheit und Freiheit in der russischen Elite folgen den Interessen einer monopolistischen Händlerbourgeoisie, die den Erhalt ihres Eigentums und ihre Macht garantiert haben will. Sie sind mithin genauso weit entfernt von den Idealen einer freiheitlichen Demokratie wie das Putin-Regime, das russische Militär und die Geheimdienstbürokratie. Sie könnten versuchen, dem Beispiel Jelzins zu folgen und die Macht einfach einer neuen Garde übergeben.
Dennoch: Eine Spaltung der russischen Elite wäre bereits ein Schritt hin zu einer neuen Realität. Diese Situation müssten die russische Opposition und Zivilgesellschaft dazu nutzen, einen Rechtsstaat zu schaffen und eine Neuauflage des alten Modells zu verhindern. An den Beziehungen des Westens zu Russland wird sich zeigen, ob die freiheitsliebenden Demokratien bereit sind, ihren eigenen Prinzipien zu folgen. Auch die Bewältigung ihrer eigenen inneren Krise wird sich daran messen müssen. An eine Transformation Russlands ist jedenfalls ohne eine Erneuerung dieser Beziehungen nicht einmal zu denken.
Das Magnitskij-Gesetz
Der Namensgeber des im vergangenen Dezember vom US-Kongress verabschiedeten „Magnitzky Rule of Law Accountability Act“, Sergej Magnitskij, war ein russischer Anwalt, der 2009 unter ungeklärten Umständen im Moskauer Untersuchungsgefängnis Butyrka ums Leben kam.
Magnitskij hatte für die Anwaltskanzlei Firestone Duncan gearbeitet. Einer ihrer Kunden war der Investmentfonds Hermitage Capital, damals einer der größten ausländischen Investoren in Russland. Es ging das Gerücht, dass die Firma mehrfach Informationen über „Unregelmäßigkeiten“ in russischen Unternehmen (unter anderem Gazprom) an die Presse weitergegeben hatte. Jedenfalls wurden 2007 die Büros von Hermitage Capital und Firestone Duncan von Rollkommandos des russischen Innenministeriums durchsucht. Die Begründung lautete, es sei ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung gegen Hermitage Capital anhängig. Bei der Durchsuchung wurden unter anderem Firmenstempel und Gründungsdokumente beschlagnahmt, mit deren Hilfe die Firma später auf dubiose Weise „umregistriert“ wurde. Der Hermitage-Geschäftsführer William Browder, der sich vom früheren Putin-Anhänger zu einem seiner erbittertsten Gegner gewandelt hatte, war bereits 2005 des Landes verwiesen worden.
2008 wurde Sergej Magnitskij verhaftet. Im Fall Hermitage Capital wollte er gegen betrügerische Steuerfahnder aussagen, doch bevor es dazu kommen konnte, wurde er selbst der Steuerhinterziehung beschuldigt und verhaftet. Im Gefängnis wurde Magnitskij gefoltert. Er sollte seine Zeugenaussage zurückziehen. Wenige Tage vor Ablauf der einjährigen Frist, während der man nach russischem Recht ohne Anklage in Untersuchungshaft festgehalten werden darf, starb Magnitskij.
Der damalige Präsident Medwedjew entließ daraufhin mehrere hohe Justizbeamte. Anklage erhoben wurde allerdings lediglich gegen eine Gefängnisärztin und den stellvertretenden Gefängnisleiter. Das Verfahren gegen die Ärztin wurde eingestellt. Der Prozess gegen den Stellvertreter endete mit einem Freispruch.
William Browder, der bis zum Schluss für die Freilassung seines Anwalts gekämpft hatte, beauftragte Helfer in Russland mit Recherchen und legte schließlich eine Liste mit insgesamt 60 Namen von Beamten vor, die er für die Inhaftierung und den Tod von Sergej Magnitskij verantwortlich machte. Ende 2012 erließen die USA ein Einreiseverbot gegen alle Personen, die auf Browders „Magnitskij-Liste“ standen. Ihre Konten in den USA wurden eingefroren. Das Europaparlament verabschiedete im Dezember 2012 eine entsprechende Resolution, die allerdings nur empfehlenden Charakter hat.
Es dauerte nicht lange, da bekam Russland ein „Anti-Magnitskij-Gesetz“, das der Präsident Ende Dezember 2012 unterzeichnete. Künftig dürfen US-Amerikaner keine russischen Kinder mehr adoptieren oder sich in russischen NGOs engagieren. Am 13. Januar 2013 protestierten mehrere zehntausend Menschen in Moskau gegen das „Gesetz über Maßnahmen gegen Personen, die die Grund- und Menschenrechte russischer Staatsbürger verletzen“, wie sein offizieller Titel lautet. Es war die erste große Demonstration in Russland seit Mai 2012. Katja Tichomirowa