08.02.2013

Der Mann, der die Wahrheit sagt

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Der Mann, der die Wahrheit sagt

Der populäre Prediger Ousmane Madani Haidara und die Vielfalt des Islam in Mali von Charlotte Wiedemann

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Seine Stimme ist ungewöhnlich tief, dabei weich und melodisch. Auch wer Bamana, die Sprache der Bambara, nicht versteht, spürt die Kraft dieser Stimme und begreift, warum sie neben der religiösen auch eine kulturelle Botschaft trägt. Ousmane Madani Haidara spricht ohne französische Einsprengsel; Bamana ist die am weitesten verbreitete malische Nationalsprache, und Haidara spricht sie so rein und so reich, wie es nur noch wenige vermögen.

In der persönlichen Begegnung wirkt Malis berühmtester Prediger erstaunlich unprätentiös. Kommt schnellen Schrittes herein, streckt der Besucherin die Hand entgegen, schwingt sich in eine Sofaecke. Seiner Körpersprache ist anzumerken, dass er nicht aus einer Dynastie von Religiösen stammt, auch wenn er den Propheten Mohammed für seinen Urahn hält. Haidaras Eltern waren Kleinhändler; er hat schon als Kind hart gearbeitet. Ein Selfmademan also, der nun, mit 57, durchaus lustvoll ein Imperium steuert. Sein Haus in Bamako ist das Prunkvollste weit und breit, drinnen ausladende Salons mit weißen Kunstledersofas, draußen eine Porschelimousine, senf-metallic. Aber auch ein Krankenhaus, gratis für Arme. Alles von dem Geld seiner Anhänger, die er auf 2 Millionen beziffert; es sind sehr viele Frauen darunter.

Wenn Haidara ruft, füllt sich ein Stadion. Zu einer Zeit, da in Mali Krieg gegen Dschihadisten geführt wird, ist der populärste Mann des Landes ein Prediger, der über Sexualität, Ehebruch, Aids und Kondome spricht. Beten, sagt Haidara, könnt ihr auch in eurer eigenen Sprache; es ist nämlich nicht so, dass Gott nur Arabisch versteht. Und wenn ein Atheist sich von der Existenz Gottes nicht überzeugen lässt, dann soll man ihn eben lassen. Gottes Erde ist für alle da! Die Dschihadisten schicken ihm per Telefon Morddrohungen. Haidara hat nichts dagegen, ein Sufi genannt zu werden, obwohl er mit Malis traditionellen Sufi-Bruderschaften oft über Kreuz lag. Anders als sie greift er Machtmissbrauch, soziale Ungerechtigkeit und Korruption offen an. Wulibali wird er deshalb genannt: „der Mann, der die Wahrheit sagt“.

Seine Organisation Ansar Dine („Verteidiger des Glaubens“) besteht seit mehr als zwanzig Jahren. So heißt nicht zufällig auch eine der islamistischen Kampfgruppen in Nordmali. Ihr Anführer Iyad Ag Ghali, ein malischer Tuareg, hielt es für geschickt, sich dieses Namens zu bemächtigen1 . Die Malier ließen sich dadurch nicht verwirren. Aber es war natürlich eine Kampfansage, und Haidara, der Wulibali, nahm sie an. Distanzierte sich früh und laut von der fanatischen Weise, wie in Nordmali islamisches Recht verhängt wurde. „Wir sind seit Jahrhunderten Muslime, wir brauchen deren Scharia nicht.“ Damit gab er der Ablehnung eine dezidiert einheimische, malische Stimme, selbstbewusst und verständlich. Später verschärfte er den Ton: „Das sind Banditen, und was sie tun, ist ein Angriff auf alle malischen Muslime!“ Damit wollte er die Zaudernden ins Boot ziehen, vor allem Malis Wahhabiten, seine Intimfeinde.

In der Popularität dieses Predigers spiegelt sich viel von Malis gegenwärtiger Krise – keineswegs nur wegen der dschihadistischen Bedrohung. Das Scheitern einer Fassadendemokratie und der Überdruss an deren politischer Klasse lässt ihm nun Vertrauen zufließen, das anderswo keine Heimat mehr hat. Die meisten Malier, vor allem die Analphabeten, empfinden den Französisch sprechenden Zentralstaat als fern und fremd; auch dies stärkt die Liebe zu einem Mann, der so dezidiert malisch auftritt und selbst nur ein einziges Jahr auf der Bank einer staatlichen Schule saß.

Seit dem Putsch im März 2012 ist Haidara ein gefragter Vermittler, pendelt zwischen politischen Lagern und verfeindeten Armeefraktionen. Auch andere Religiöse stehen nun auf Malis politischer Bühne, und manchmal scheint es, als würden überhaupt nur sie noch Respekt genießen. Da ist Mahmoud Dicko, als Vorsitzender des Hohen Islamischen Rats der oberste Repräsentant der malischen Muslime – ein Wahhabit. Und dann der sogenannte Chérif de Nioro, ein klassischer Sufi-Führer, ein reicher Marabut.2 Seine Dynastie, beheimatet in Nioro, nahe der mauretanischen Grenze, ist im ganzen Sahel legendär. Der Marabut stellte sich auf die Seite der malischen Putschisten. Wir werden den drei Protagonisten noch mehrfach begegnen auf dieser Reise durch Malis zeitgenössischen Islam.3 Sie repräsentieren dessen wichtigste Strömungen: die traditionellen Bruderschaften, die große Minderheit der Wahhabiten, auf 15 Prozent geschätzt, und die wachsende Anhängerschaft neuartiger charismatischer Prediger.

Auf ihm liegt Baraka, göttlicher Segen, darum küsst man seine Hand

Mali, zu 90 Prozent muslimisch, hat keine Staatsreligion und versteht sich als säkular. Doch das hat, entgegen einem westlichen Lieblingsrezept, seine Demokratie nicht vor dem Scheitern bewahrt. Lautet die Frage also eher, wie sich politische Partizipation und Religion zueinander verhalten? Im Westen herrscht die Ansicht, ein sufistischer Islam sei mit Demokratie am besten vereinbar. Es ist Haidara, der Wulibali, der uns darauf stößt, dass die Dinge so einfach nicht liegen. Denn als wir ihn fragen, was der größte Unterschied zwischen ihm und den Wahhabiten sei, gibt er eine überraschende Antwort: „Die Wahhabiten sagen, alle Menschen seien gleich. Aber die Menschen sind nicht gleich. Gott erhebt manche, und durch sie können sich die anderen Gott nähern.“

Wie zur Illustration tritt ein alter Mann heran, greift nach Haidaras Hand, küsst sie. Auf dem Prediger liegt Baraka, göttlicher Segen. In sein Heimatdorf Tamani am Niger kommt einmal im Jahr ein gewaltiger Pilgerzug, 52 000 waren es im letzten Oktober, zu einer sogenannten Ziarah; darunter ist eigentlich ein Besuch zu verstehen, mit dem der Besuchte geehrt wird. Haidaras Anhänger glauben: Jemanden zu lieben, der von Gott geliebt wird, bedeutet, Gott selbst zu lieben. Darum würden alle Gelübde, die im Dorf Tamani abgelegt werden, in Erfüllung gehen. Dieser Personenkult ist mit dem Islam nicht vereinbar!, rufen Malis Wahhabiten. Niemand dürfe sich so vergöttern lassen. Haben sie nicht recht?

Die Frage der Gleichheit: Sie begleitet die Auseinandersetzung zwischen Sufis und Wahhabiten seit mehr als einem halben Jahrhundert. Nach 1945 treten in Mali – damals noch ein Teil des kolonialen „Soudan français“ – die ersten jener Reformisten auf, die man später Wahhabiten nennen wird4 . Junge muslimische Rechtsgelehrte; sie wollen sich den alten Sufi-Autoritäten nicht mehr unterordnen und greifen deren Status an mit einem neuen Islamverständnis: Jeder Einzelne muss religiöse Kenntnisse erwerben, jeder ist selbst dafür verantwortlich, die Regeln von Koran und Sunna zu kennen und ihnen zu folgen. Das steht in Widerspruch zu den Mustern einer tradierten, gerontokratischen Gesellschaft – und wird begeistert aufgegriffen von jenen, die sich selbst von alten Fesseln befreien wollen. Eine neue Schicht von Händlern, die nicht aus noblen Familien stammen, ist zu Wohlstand gekommen; sie verlangen nach einem Islam, der frei ist von hergebrachtem westafrikanischen Kastendenken.

Wegen ihrer Reformideen sind die Wahhabiten aus Sicht der Kolonialmacht von Beginn an Feinde. Denn es war den Franzosen gelungen, die bedeutendsten Sufi-Führer, die „Grands Marabouts“, durch Vergünstigungen zu gewinnen – eine Kollaboration, die beidseitig dem Machterhalt diente. Sufi-Führer denunzierten 1958 sogar die erste muslimische Frauenvereinigung als antifranzösisch. Bereits einige Jahrzehnte zuvor hatte die Kolonialverwaltung den Begriff „Islam noir“ geprägt. Gemeint war ein religiöser Partikularismus mit stark ethnisch geprägten Bruderschaften, dessen Isolation von der arabischen Welt zu stärken sei, damit die Schwarzen nicht „ihre natürliche Einfachheit“ verlören. Bis heute hat sich im Westen, nicht nur bei den Franzosen, das Bild von einem verträglichen schwarzen Islam gehalten, der nur durch fremde Einflüsse radikalisiert werde.

Endgültig verankern können sich die Wahhabiten ab 1968, unter Malis Militärdiktatur. Zuvor, in einer kurzen sozialistischen Phase nach der Unabhängigkeit, hatte die neue frankofone und strikt säkulare Elite noch jeglichen religiösen Einfluss als „Obskurantismus“ verdammt. Nun, nach dem Staatsstreich von Oberst Moussa Traoré, beginnt eine neue Ära. Die arabischen Staaten betreten die Weltbühne und nehmen mit ihren Petrodollars Einfluss auf die Politik armer Staaten der Dritten Welt. Um Geld aus Saudi-Arabien zu bekommen, gewährt die malische Militärregierung den Wahhabiten viele Freiheiten. Malis Hilfebedarf wächst, schrecklich sind die Dürren der Jahre 1972 bis 1974. Unter saudischem Einfluss beginnt das Staatsradio 1974 mit religiösen Sendungen.

Man könnte meinen, spätestens an dieser Stelle habe sich die Frage nach der Gleichheit erledigt. Doch die Wahhabiten in Mali üben weiter ihren reformerischen Einfluss aus: Ihre Koranschulen bieten nicht nur einen besseren Arabischunterricht als die herkömmlichen Sufi-Schulen, sondern sie führen auch weltliche Fächer ein, Geografie und Mathematik. Dieser neue Typ von Madrassa breitet sich aus; er ist attraktiv für all jene Bauern und Kleinhändler, die sich von der staatlichen französischsprachigen Schule ohnehin keinen Aufstieg ihrer Kinder auf einen Verwaltungsposten versprechen können. Es sind jene Schichten, denen bis heute die französischsprachige Bildung fern und fremd geblieben ist.

Der Wahhabit Dicko soll die Untaten der Dschihadisten verdammen

Die Offiziere aus Malis Militärregierung gehen zwar zu den Marabuts, wenn sie Segen zum Wohle ihrer Karriere brauchen. Doch das Weltbild der Wahhabiten steht ihnen näher, weil es moderner ist und erlaubt, sich von den Lebenswegen und Sitten der Eltern zu lösen. In den politisch repressiven 1980er Jahren bieten die Wahhabiten eines der wenigen Foren, in denen offen über moralische und soziale Fragen diskutiert werden kann.

Haidara, der Wulibali, lässt sich 1984 in Bamako nieder, er ist 29 Jahre alt, Eloquenz und Courage machen ihn rasch berühmt. Seine Predigten gegen Ungerechtigkeit und Nepotismus erregen den Zorn der Militärregierung, er wird drangsaliert, darf nicht mehr öffentlich auftreten, bekommt sogar Predigtverbot im eigenen Haus.

Zur selben Zeit ist Mahmoud Dicko, der heutige Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats, bereits ein aufsteigender wahhabitischer Star. Er hat in Saudi-Arabien studiert, in jenen Jahren, als die Beziehungen zwischen dem dürregeplagten Mali und dem saudischen Königreich eng wurden. Zurück in Bamako, wird der Ehrgeizige, kaum 30, Imam der ersten großen Wahhabiten-Moschee, vermarktet seine Predigten auf Kassette, eine Neuheit in Mali. Und nun geschieht etwas Bemerkenswertes: Die Militärregierung, der seine Reden zu radikal sind, beruft Dicko in eine staatliche Islam-Organisation, will ihn mäßigen durch Integration. Und tatsächlich wird aus dem wahhabitischen Intellektuellen ein neuer Typ von religiösem Politiker, ein Mann der vielen Gesichter und der geschickten Sprache, der aus Malis öffentlichem Leben nicht mehr wegzudenken sein wird, wer auch immer gerade regiert.

Als 1990 das Militärregime von einer Volksbewegung gestürzt wird, fällt unter den Demonstranten ein islamistischer Block auf: für ein Mehrparteiensystem, aber in einem islamisch ausgerichteten Staat. Zum ersten Mal wird Malis Laizismus infrage gestellt. Doch die große Mehrheit der Delegierten einer Nationalkonferenz, die über die neue Verfassung entscheidet, stellt sich nach hitziger Debatte sogar gegen die Zulassung religiöser Parteien. In diesem Moment der euphorischen Hoffnung auf die junge Demokratie hat das Religiöse keine Chance. Noch ist unvorstellbar, dass Demokratie und Parteien einmal so an Ansehen einbüßen könnten, dass sich das Vertrauen den Religiösen zuwendet.

Die neue Meinungsfreiheit lässt in Mali die Zahl der Vereinigungen explodieren, auch der muslimischen; bald sind es nahezu hundert. Der Staat richtet schließlich den „Hohen Islamischen Rat Malis“ ein, er soll die diversen Strömungen gegenüber Politik und Verwaltung repräsentieren. An dessen Spitze steht anfänglich ein unpolitischer Gelehrter; später – 2008 – gewinnt Mahmoud Dicko die Wahl. Mit dem wachsenden Verdruss an der Parteiendemokratie hat sich das Klima geändert. Und die weltweit konfrontative Stimmung zwischen Westen und Islam politisiert auch malische Muslime.

Mit der Liberalisierung sind Bars und Nachtklubs aufgetaucht; Prostitution versteckt sich nicht mehr. Die Klage über den Verfall der Sitten wird allgegenwärtig und verbindet sich mit dem Zorn auf die Korruption. Mahmoud Dicko gibt dieser Stimmung eine Melodie, wenn er über die „Mimikry“ lokaler Politiker höhnt, die westliche Vergnügungssucht und Libertinage zum Vorbild malischen Lebensstil machen wollten. Ein Ton, der nie mehr verwehen wird; er nistet sich ein, macht manche auf eine diffuse Weise empfänglich für dschihadistische Botschaften. Es gibt ländliche Imame, die heute auf die Frage, wer an Malis Krise schuld sei, die erstaunliche Antwort geben: Gott! Er bestrafe so die Malier für ihr lasterhaftes Leben.

So naiv denkt Mahmoud Dicko natürlich nicht. Unter Malis religiösen Protagonisten ist der Wahhabit der Bestgebildete. Bei öffentlichen Auftritten lässt er gern sein Arabisch perlen, und im persönlichen Gespräch verbirgt er nur nachlässig seine Verachtung für staatliche Funktionäre, „die nicht einmal wissen, was Scharia bedeutet“. In der Tat wird der Begriff in Malis Öffentlichkeit so falsch reduziert verwendet wie im Westen: als Synonym für schlimme Strafen. Dickos Versuch, in einem Workshop zu diskutieren, was Scharia in Mali bedeute, erntete einen Sturm des Protests, vor allem in Malis betont säkularen Zeitungen. Dicko sähe gern einen größeren Einflussbereich islamischen Rechts, „aber das ist eine Frage der Überzeugung, nicht des Gewehrs“.

Stets seine Zunge hütend, geht er den Weg der kleinen Schritte. Bekam nun schon seine alte Forderung nach einem Religionsministerium erfüllt. Und Interimspräsident Dioncounda Traoré bot ihm sogar den Posten eines zweiten Vizepräsidenten an.5 Der kluge Dicko bleibt lieber unabhängig. Aber gut sind die Zeiten nicht für ihn; die Ereignisse treiben ihn mehr, als dass er sie steuern könnte. Mit den Dschihadisten wollte er gern verhandeln, jedenfalls mit den malischen; er nennt sie „unsere Brüder“. Doch als er in den Norden fährt, empfangen ihn die entscheidenden Leute nicht, auch nicht Iyad Ag Ghali, die Schlüsselfigur; Dicko kennt ihn von früher. In Bamako kann er sich dem Drängen, er müsse als Vorsitzender des Hohen Islamrats die Untaten der Dschihadisten verdammen, nicht länger widersetzten. Haidara, der Wulibali, rückt ihm auf die Pelle, bis Dicko eine Erklärung im Staatsfernsehen abgibt. Kurz vor der Intervention fleht er dort ein letztes Mal Richtung Norden: Muslime sollten nicht Krieg gegen Muslime führen!

Die Geschichte, wie Mali islamisch wurde, erzählt von einem Jahrhunderte währenden Prozess voller Wechselfälle. Denn nach Phasen der Islamisierung, teils friedlich, teils gewalttätig, gab es wieder Zeiten der Deislamisierung, des Wiederaufstiegs älterer Naturreligionen. Bis heute ist Mali von einem erstaunlichen Nebeneinander geprägt. Ganz in der Nähe von Bamakos Großer Moschee werden auf dem Markt Fetischartikel angeboten, Tierschädel, Hörner, Pfoten, im fließenden Übergang von Religion, Magie, Medizin. In Rufweite steht der islamische Radiosender, der regelmäßig ermahnt, vom Fetischismus abzulassen. Anders als im restlichen Westafrika war in Mali ein Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien nicht durchsetzbar. Weil dieser afrikanische Brauch von allen malischen Ethnien außer Tuareg und Arabern praktiziert wird, rechtfertigen ihn die meisten Imame als islamisch, ungeachtet der Verurteilung durch internationale muslimische Autoritäten. Selbst säkulare Intellektuelle gehen dieses Thema höchst defensiv an.

Malis kleine frankofone Elite hatte in der Stunde der Unabhängigkeit die Idee der Laizität von Frankreich übernommen, doch zwischen Verfassung und Lebenswirklichkeit blieb immer eine Kluft. Ein erstes Familiengesetz von 1962 erlaubte die religiöse Heirat erst nach der staatlichen – das wurde von der Bevölkerung schlicht ignoriert. Bis heute heiraten viele Malier, vermutlich sogar die meisten, nur beim Imam.

Religiöse Meinungsmacht im säkularen Staat: Sie schlägt sich vor allem dort nieder, wo es um Frau und Familie geht, um die Grundfesten der traditionellen Ordnung. Ein ganzes Jahrzehnt schwelte der Konflikt um eine geplante Heraufsetzung des Heiratsalters für Mädchen von 15 auf 18 Jahre; zwei Präsidenten scheiterten daran. Stark verwässert wurde ein neues Familiengesetz schließlich im Dezember 2011 verabschiedet, kurz vor Beginn der malischen Krise. Der Hohe Islamische Rat hatte 49 Änderungen durchgesetzt, es war die große Stunde des Mahmoud Dicko.

Der junge Putschistenführer trägt ein magisches Stöckchen

Doch zu Unrecht lasten westliche Beobachter den Widerstand nur den Wahhabiten an. Auch Haidara, der Wulibali, mobilisierte seine Anhänger, weil ein höheres Heiratsalter „gegen unsere Sitten und Gebräuche verstößt“. Skepsis gegenüber Ideen von Emanzipation und Kinderschutz, die als westlich angesehen werden, verbindet sich mit der Sorge über den Sittenverfall. Ein populäres Argument lautet: Immer mehr ledige Mädchen im Teen-Alter werden schwanger; wie kann man es da verbieten, sie dann wenigstens zu verheiraten?!

Am Ende setzte sich als Heiratsalter 16 Jahre durch, und entscheidende Passagen des Gesetzes lesen sich wie eine Verteidigung afrikanischen Patriarchats: „Die Frau schuldet ihrem Ehemann Gehorsam … Der Mann ist das Oberhaupt der Familie … Die Entscheidung, wo die Familie wohnt, trifft der Mann.“ Die Frage der Gleichheit: Sie wird in Mali, wenn es um die Geschlechter geht, eindeutig negativ beantwortet. Die Menschen sind weder vor Gott gleich noch vor einander.

Ein Volksislam, von Animismus durchsetzt und beeinflusst von vorislamischen Sitten, ist in Mali immer stark geblieben – und die gegenwärtige Krise scheint ihn erneut zu stärken. Denn beide Seiten dieser Krise, das Scheitern einer Fassadendemokratie und die dschihadistische Belagerung, veranlassen viele Malier, Selbstversicherung in älteren Elementen von Identität zu suchen.

Beispielhaft die Auftritte von Amadou Haya Sanogo, jenem Hauptmann, der im März 2012 an der Spitze einer Gruppe meuternder junger Offiziere den malischen Präsidenten stürzte6 . Am Tag nach dem Putsch schaute unter Sanogos Uniformhemd nicht mehr wie vorher ein weißes T-Shirt hervor, sondern ein lehmgefärbtes traditionelles Jägerhemd.7 Initiierten Jägern werden in Westafrika besondere Kräfte zugeschrieben; die Putschisten bezogen sich nun mehrfach positiv auf die malischen Jägervereinigungen, die auch bei der nicht jagenden Großstadtjugend Kultstatus haben. Sanogos Hemd zeigte: Er war gewappnet für alles, was kommen würde. Am Handgelenk trug er ein Lederamulett, und bis heute führt der Hauptmann stets einen kurzen Stock mit sich, von dem es heißt, er beschütze ihn. Der Stab soll von Angehörigen der Senufo geschnitzt worden sein, einer Ethnie im malischen Südosten, von der Sanogo väterlicherseits abstammt. Aus Sicht der Städter in Bamako, die durch Lebensweise und ethnische Vermischung viele Traditionen verloren haben, verfügen die Senufo im Umgang mit unsichtbaren Kräften über besondere Fähigkeiten.

Bald nach dem Putsch stellt sich jener Chérif de Nioro8 an Sanogos Seite, der große Marabut. Mit wehendem Gewand kommt der 74-Jährige in die Garnison der Putschisten; er hat entscheidenden Anteil daran, dass der Hauptmann die Macht zumindest formell wieder in zivile Hände gibt. Eine Filmaufnahme dieser Begegnung gewährt Einblick in die Rangordnung von Militärischem und Religiösem: Bei seiner Ankunft nimmt der hochgewachsene Chérif, der durch seinen schwarzen Kopfputz noch größer wirkt, den kleineren Hauptmann in die Arme; Sanogo lässt für einen Moment seinen Kopf an der Schulter des Alten ruhen. Später sitzen beide eng nebeneinander auf einem Sofa, der Chérif redet, Sanogo schweigt, und ab und an legt der Alte dem Offizier im Kampfanzug die Hand aufs Knie wie einem Kind.

Geerbtes Charisma: Der Marabut, mit vollem Namen Mohamédou Ould Cheikh Hamallah, zehrt vom Ruhm seines Vaters. Der ist im ganzen Sahel legendär, weil er die Kollaboration mit der Kolonialmacht verweigerte; er wurde verhaftet, verbannt, deportiert. Mit seinem Widerstand stellte er sich gegen die frankreichtreuen Sufi-Führer, auch in seiner eigenen Bruderschaft, der Tijaniya.9 So viel Kraft galt als Zeichen göttlichen Segens, Baraka, und allein die Anrufung von Hamallahs Namen konnte schon Wunder bewirken; zum Dank bekam er Geschenke: Häuser, Vieh, Diener, Bräute …

Mahamédou, der einzige überlebende Sohn des berühmten Vaters, verwaltet dessen Erbe seit mehr als vier Jahrzehnten. Lange war er eher ein Marabut der Macht, sogar der Hausmarabut von Malis Militärdiktator Moussa Traoré. In jenen 1980er Jahren sehen wir die drei heute einflussreichsten Männer des malischen Islam allesamt schon auf der Bühne. Dicko, der aufsteigende Star der Wahhabiten; Haidara, der Wulibali, vom Regime unterjocht; und der Chérif de Nioro an der Seite ebenjenes Regimes.

Heute sind die Karten neu gemischt. Hat sich der Chérif an das dissidentische Erbe seines Vaters erinnert, als er mit der politischen Klasse um Malis gestürzten Präsidenten ins Gericht geht? Sie verachte das Volk, hasse es sogar, habe Malis Sicherheit vernachlässigt, seine Sitten verraten, seine Religion verkauft. Die Angegriffenen schlagen mithilfe einer Medienkampagne zurück: Der reiche Marabut sei „ein Pate“, gierig nach schmutzigem Geld, verstrickt in Drogenschmuggel. Das löst in Nioro einen Aufstand aus, bringt die ganze Stadt für den Chérif auf die Beine. Rührt ihn nicht an, unseren großen Baobab!

Bamako, Kongresszentrum, ein Saal mit 3 000 Plätzen. Malis Sufis haben zur Kundgebung gegen den Dschihadismus und zur Verteidigung des „authentischen Islam“ gerufen. Darunter verstehen sie die in Afrika gültige malikitische Rechtsschule – und die Macht der Marabuts. Großes Geraschel der Gewänder, die Religiösen sind Malis bestangezogene Berufsgruppe. Mehrlagige Bubus, Schals in passenden Farben, gewaltige Gebetsketten aus Holz und Harz, wie Schmuck um den Hals getragen. Ein stadtbekannter Exot mit langen Tressen hält ein Symbol in die Höhe, in dem Animismus, Christentum und Islam verschmelzen.

Haidara, der Wulibali, im weißen Gewand mit glitzernden Sternchen, ist unangefochten der Star. Er hat eine neue Organisation der religiösen Führer Malis gegründet und ist natürlich ihr Chef. Der Emporkömmling auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Frauen im Publikum jubeln, sobald Haidaras Name fällt. Neben ihm mit versteinerter Miene Mahmoud Dicko, der Wahhabit; als Vorsitzender des Hohen Islamischen Rats ist er offizieller Gast. Er lässt einen Moment sein Arabisch laufen und beschwört dann die Einheit – anderes bleibt ihm nicht übrig. Immens ist der Druck aus der malischen Öffentlichkeit, die religiösen Führer müssten jetzt zusammenstehen, in der Notlage der Nation.

Auch Sanogo ist da, der Putschistenführer; er sitzt auf der anderen Seite von Haidara; ein seltsames Triptychon. Sanogo nimmt sein magisches Stöckchen sogar mit zum Rednerpult. Gesänge zum Lobe des Propheten werden angestimmt, in der Lokalsprache Bamana und im melodiösen Auf und Ab malischer Volksmusik. Dies ist zweifellos authentisches Mali – religiös tolerant, sozial konservativ.

Als die Dschihadisten die Mausoleen von Sufi-Heiligen in Timbuktu zerstörten, leitete sie ein ins Fanatische gewendeter Monotheismus. Neu ist diese Praxis nicht: In Saudi-Arabien wurden schon vor hundert Jahren sogar die Grabstätten von Angehörigen der Prophetenfamilie planiert. Für einen Mann wie Haidara sind die Dschihadisten in Nordmali deshalb eine extreme Spielart der Wahhabiten. Aber er macht einen Unterschied zwischen denen, die – wie Mahmoud Dicko – Mausoleen als unislamisch kritisieren, und denen, die sie zerstören. Und das ist für den Moment die Basis für eine Einheit unter Malis Muslimen.

Als der Krieg beginnt, wird in Mali viel gebetet. Mahmoud Dicko tritt seinen schwersten Gang an: dankt Frankreich im Namen der malischen Muslime. Und weist den Vorwurf aus islamischen Ländern zurück, dies sei ein Angriff auf den Islam. Es ist der bitterste Moment in Dickos Karriere. Der Krieg, sagt er, sei ein trauriges Schauspiel. Unterdessen hat Haidara, der Wulibali, dem Kampf gegen die Gotteskrieger eine populäre Losung gegeben: „Möge Gott uns helfen, sie zu besiegen!“

Fußnoten: 1 Allerdings in einer Schreibweise ohne französischen Einfluss auf die Transkription des Arabischen. 2 Marabut ist eine Abwandlung des arabischen Worts Murabit: ursprünglich ein Muslim, der zu Beginn der muslimischen Eroberung Nordafrikas in einem kleinen Fort lebte. 3 Dieser Text basiert vorwiegend auf eigenen Recherchen in Mali. Die Darstellung der Geschichte der Wahhabiten folgt der Arbeit von Carsten Hock, „Fliegen die Seelen der Heiligen?“ Berlin (K. Schwarz) 1999. Anregungen lieferten ferner Benjamin F. Soares und René Otayek (Hg.), „Islam and Muslim Politics in Africa“, New York (Pelgrave) 2007, und Seidina Oumar Dicko, „Hamallah. Le protégé de Dieu“, Bamako (Éditions Jamana) 1999. 4 Sie selbst nennen sich in Mali „Sunniten“. 5 Siehe Le Challenger, Bamako, 1. November 2012. 6 Anlass war die schlechte Ausrüstung der Armee für den Kampf in Nordmali. Siehe Philippe Leymarie, „Aufstand der Tuareg“, Le Monde diplomatique, April 2012. 7 Beobachtet von dem US-Anthropologen Bruce Whitehouse bei Feldforschung in Bamako. 8 Als Chérif wird jemand bezeichnet, der seine Abstammung auf den Propheten zurückführt. 9 Die Tijaniya wurde um 1800 von Ahmed Tijani gegründet; ihre Zentrale ist heute im marokkanischen Fez. Charlotte Wiedemann ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr: „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt“, Köln (PapyRossa Verlag) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.02.2013, von Charlotte Wiedemann