Kapitalismus im Namen des Koran
Ägyptens neoliberale Muslimbrüder von Gilbert Achcar
Das unternehmerfreundliche wirtschaftspolitische Credo der Muslimbruderschaft entspricht der Doktrin des Neoliberalismus weit eher als die Form des Kapitalismus, die sich unter der Präsidentschaft Husni Mubaraks entwickelt hatte. Vertreter dieses wirtschaftsliberalen Ansatzes sind zum Beispiel der erzkonservative Khairat al-Schater1 , Nummer zwei und ehemals Präsidentschaftskandidat der Bruderschaft, oder der steinreiche Hassan Malek, ein früherer Geschäftspartner von al-Schater, der zusammen mit seinem Sohn heute eine ganze Kette von Textil- und Möbelfabriken und -geschäften mit mehr als 400 Beschäftigten leitet.
Als Titel des Porträts von Malek im Magazin Businessweek hätte sich eigentlich die Formulierung angeboten: „Die Ethik der Bruderschaft und der Geist des Kapitalismus“. Denn Maleks Karriere scheint exakt der klassischen Theorie des Soziologen Max Weber zu entsprechen. Nach Bloomberg Businessweek gehörten die Maleks in der muslimischen Welt zu einer aufstrebenden konservativ-religiösen Generation, deren Frömmigkeit ihr entschlossenes Agieren auf wirtschaftlichem und politischem Felde beeinflusst hat. In Ländern wie Ägypten seien diese Islamisten für die laizistische Politik eine große Herausforderung. Und zwar nicht allein aufgrund ihres Konservatismus, sondern auch wegen ihrer Arbeitsethik, ihrer Entschlossenheit und ihrer Überzeugung, dass Müßiggang eine Sünde sei. „Der Kern der wirtschaftlichen Vision der Bruderschaft ist ein Extremkapitalismus“, zitiert das Magazin den Exmuslimbruder Sameh Elbarqy.2
Dieser „extreme“ Kapitalismus zeigt sich etwa bei der Auswahl der Wirtschaftsexperten für die Kommission zur Ausarbeitung der ägyptischen Verfassung, die – von der linken und liberalen Opposition boykottiert – von den Muslimbrüdern und der Salafisten dominiert wurde. Die ägyptische Tageszeitung al-Ahram veröffentlichte eine ganze Liste wirtschaftsliberaler Kommissionsmitglieder, die der Bruderschaft nahestehen.3
Da ist zum Beispiel der Geschäftsmann Tarek al-Dessouki von der salafistischen Al-Nur-Partei, der als Vorsitzender der Wirtschaftskommission im neuen Parlament den Auftrag hat, eventuelle Konflikte mit saudischen Investoren in Ägypten zu lösen.
Der 80-jährige Hussein Hamed, ein Experte für islamisches Finanzwesen, bekleidete vor seiner Berufung in die Verfassungskommission hohe Positionen bei der International Islamic Bank, der Dubai Islamic Bank, der Sharjah Islamic Bank und der International Association of Islamic Banks.
Maabed Ali al-Garhi ist Vorsitzender des International Committee of Islamic Economy und arbeitet für die Börse von Dubai. Ibrahim al-Arabi steht der Muslimbruderschaft nahe und ist Mitglied der Kairoer Handelskammer. Und Hussein al-Kazzaz, ein guter Freund al-Schaters, leitet eine Unternehmensberatung. „Im Gegensatz zu dieser starken unternehmerfreundlichen Fraktion“, so al-Ahram, „saßen in der hundertköpfigen Verfassungskommission nur drei Arbeitnehmervertreter.“
Sami Elbarqy, der früher der Bruderschaft angehörte, brachte die Sache gegenüber Bloomberg Businessweek auf den Punkt: Das Problem sei nicht, dass die Bruderschaft eng mit dem Wirtschaftssystem der Mubarak-Ära verbunden ist, die entscheidende Frage laute vielmehr, ob sie imstande ist, mit den schlimmsten Auswüchsen dieses Systems zu brechen. „Es bleibt abzuwarten, ob sich an der Vetternwirtschaft unter dem Mubarak-Regime mit den unternehmerfreundlichen Vertretern al-Schater und Malek am Steuer etwas ändern wird. Auch wenn sich die Bruderschaft traditionell in den Dienst der Armen gestellt hat, „werden die Arbeiter und die Bauern unter dieser neuen Unternehmerklasse zu leiden haben“, meinte Elbarqy. Eines der großen Probleme der Bruderschaft sei „die enge Verbindung zwischen politischer Macht und Kapital“. Und genau hier liege die Gemeinsamkeit mit dem ehemaligen Regime.4
Entscheidend dafür, dass die Bruderschaft in der Vergangenheit am ägyptischen Kapitalismus nicht teilhaben durfte, war ihre Repression durch das Regime. Seitdem dieses Hindernis beseitigt ist, eifert die Muslimbruderschaft dem türkischen Vorbild nach: Sie hat eine Unternehmervereinigung gegründet, die sich insbesondere an kleine und mittelständische Unternehmer richtet, die Egyptian Business Development Association (Ebda).5
Dabei beanspruchen die Bruderschaft und Präsident Mursi, wie die türkische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und die Erdogan-Regierung, die Interessen der gesamten ägyptischen Wirtschaft zu vertreten. Das schließt auch die Vertreter des alten Regimes ein, die naturgemäß einen wichtigen Bestandteil des ägyptischen Kapitalismus darstellen, vor allem auf der Führungsebene.
Dass die alten Kollaborateure des Mubarak-Regimes von der Bruderschaft nicht geschnitten werden, zeigte sich zum Beispiel bei der Chinareise von Präsident Mursi im August 2012. Mursi hatte auf diese Reise, ganz im Stil eines westlichen Politikers, auch mehrere Mubarak-treue Geschäftsmänner mitgenommen. In dieser Rolle des Leiters einer Wirtschaftsdelegation fühlte er sich offensichtlich überaus wohl. Zu seinen Begleitern gehörte auch Mohammed Farid Khamis, Chef von Oriental Weavers, einem der weltgrößten Hersteller von maschinengewebten Teppichen. Unter Mubarak hatte Khamis sowohl dem Politbüro der Regimepartei Nationaldemokratische Partei (NDP) als auch dem Parlament angehört. Ein weiterer prominenter Mitreisender war Sherif al-Gabaly, auch er ehemaliges Mitglied im NDP-Politbüro und Vertrauter des Präsidentensohns Gamal Mubarak. Al-Gabaly ist heute Chef des Düngemittelkonzerns Polyserve Fertilisers and Chemical Group und bekleidet eine führende Position im ägyptischen Industriellenverband.6
Wie Erdogan in der Türkei muss auch Mursi mit den unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessengruppen seines Landes klarkommen und auf die Zwänge reagieren, die aus der weltwirtschaftlichen Einbindung seines Landes resultieren. Dabei unterscheidet sich die ägyptische Muslimbruderschaft von der AKP nicht so sehr durch das größere Gewicht des Mittelstands und der kleinen Geschäftsleute. Der Hauptunterschied liegt vielmehr in der Natur der beiden sozioökonomischen Systeme: Im Fall der Türkei ist das der Kapitalismus einer aufstrebenden Industrie, die auf den Export orientiert ist. In Ägypten haben wir es dagegen mit einem Rentierstaat und einem auf Handel und Spekulation gestützten Kapitalismus zu tun, deren wechselseitige Beziehung seit Jahrzehnten von Nepotismus geprägt ist.
Mit seiner Chinareise wollte Mursi die ägyptischen Exporte fördern, mit dem Ziel, das bilaterale Handelsdefizit von 7 Milliarden Dollar zu senken. Zudem wollt er die Chinesen dazu überreden, in Ägypten zu investieren. Der Erfolg war mäßig.
Die ungebrochene Kontinuität zwischen Mubarak-Regime und Mursi-Ära zeigt sich auch in der Abhängigkeit Ägyptens vom Kapital aus den Staaten des Golfkooperationsrats (GCC). Der größte Geldgeber ist heute allerdings nicht mehr Saudi-Arabien, sondern Katar, was dem guten Verhältnis zwischen dem Emirat und der Bruderschaft entspricht.7 Die Regierung in Doha hat Kairo einen 2-Milliarden-Dollar-Kredit bewilligt und plant in den nächsten fünf Jahren, 18 Milliarden Dollar in die Bereiche Petrochemie, Fertigungsindustrie und Tourismus zu investieren, aber auch – durch Beteiligung an ägyptischen Banken – in den Finanzsektor.
Zudem bekam die Regierung Mursi vom Internationalen Währungsfonds (IWF) einen 4,8-Milliarden-Dollar-Kredit bewilligt, musste dafür aber eine restriktive Haushaltpolitik zusichern.
Welche Gegenleistungen von der ägyptischen Regierung erwartet werden, ist in dem IWF-Papier vom Mai 2011 festgehalten: „Jedes Jahr strömen 700 000 neue Arbeitssuchende auf den ägyptischen Arbeitsmarkt. Um sie aufzunehmen und die bereits bestehende Arbeitslosenzahl zu senken, muss die ägyptische Wirtschaft dynamischer werden. Das erfordert mutige Maßnahmen. Die wesentlichen Reformen verlangen einen verstärkten Wettbewerb, damit sich der Markt für lokale und ausländische Investitionen öffnet. Außerdem muss ein wirtschaftliches Umfeld geschaffen werden, das private Investitionen anzieht und kleine und mittlere Unternehmen fördert. Der Arbeitsmarkt muss reformiert werden. Und das Haushaltsdefizit muss sinken, was unter anderem die Reduzierung verschwenderischer Subventionen einschließt.“ Das Fazit lautet: „Die externe Finanzierung, auch durch den Privatsektor, ist in den kommenden Jahren weiter wünschenswert.“8
Doch durch solche neuen Kredite wird die Schuldenlast noch weiter ansteigen. Schon jetzt verschlingt der Schuldendienst Jahr für Jahr ein Viertel der ägyptischen Staatsausgaben, die Ende 2012 mehr als 40 Prozent über den Einnahmen lagen.9
Mursi steuert auf eine ökonomische Katastrophe zu
Eine ständig steigende Schuldenlast bedeutet, wenn man zugleich der neoliberalen Logik unterworfen ist, dass der Staat die Gehälter im öffentlichen Dienst, die Subventionen zugunsten der Ärmsten und die Renten kürzen muss. Im September 2012 hat Präsident Mursi vor einer Delegation US-amerikanischer Geschäftsleute verkündet, er werde nicht vor drakonischen Strukturreformen zurückschrecken, um die Wirtschaft des Landes anzukurbeln.10 Es ist also damit zu rechnen, dass künftig Arbeitskämpfe und soziale Proteste wieder stärker unterdrückt werden. In diese Richtung weist bereits die Politik der neuen Regierung, die im Zuge der Revolution errungenen Gewerkschaftsrechte wieder zu kassieren, wie auch die Tatsache, dass Gewerkschafter immer häufiger ihren Arbeitsplatz verlieren.
Präsident Mursi, seine Regierung und die Muslimbruderschaft steuern Ägypten geradewegs in eine ökonomische und soziale Katastrophe. Und dies, obwohl bereits offensichtlich geworden ist, dass die neoliberalen Rezepte angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Ägypten vollkommen verfehlt sind. Anstatt das Land aus dem Teufelskreis von Unterentwicklung und Abhängigkeit herauszuführen, hat sich die Lage sogar noch verschlimmert.
Die instabile politische und soziale Lage, die im Gefolge des Aufstands gegen Mubarak entstanden ist, lässt die Hoffnung auf ein durch private Investitionen initiiertes Wachstum schwinden. Und der Glaube, dass die Gelder aus den Golf-Emiraten die Kürzung der öffentlichen Investitionen ausgleichen wird, ist reichlich borniert.
In der Mubarak-Ära hatten die Muslimbrüder den Armen noch karitative Leistungen und das berühmte „Opium des Volkes“ geboten. Jahrzehntelang hatte die Muslimbruderschaft verkündet: „Der Islam ist die Lösung.“ Doch dieser Slogan verdeckte ihre Unfähigkeit, ein alternatives Wirtschaftsprogramm zu entwerfen. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit: „In Zukunft müssen sich die Slogans von der ‚Lösung Islam‘ und der religiöse Diskurs an dem öffentlichen Experiment messen lassen“, meint der palästinensische Akademiker Khaled Hroub. Dieser Prozess werde das Schicksal einer ganzen Generation bestimmen, sei aber völlig unvermeidlich: „Die arabischen Gesellschaften müssen diese Phase der Geschichte einfach durchstehen, damit sich ihr Bewusstsein und die öffentliche Meinung von den Versprechungen der leeren Slogans abwenden und der Realität zuwenden kann, also einer Prüfung der von Parteien und Organisationen vorgeschlagenen Programme.“11
Die „Opiumhändler“ sind jetzt an der Macht. Die Wirkung ihrer einschläfernden Versprechungen wird zwangsläufig nachlassen. Vor allem, weil sie im Gegensatz zu ihren iranischen Kollegen nicht über den Ölreichtum verfügen, mit dem sich die Zustimmung oder die Gleichgültigkeit eines großen Teils der Bevölkerung erkaufen ließe.
Vor mehr als 25 Jahren hat der französische Historiker und Orientalist Maxime Rodinson das Problem treffend beschrieben: „Der islamische Fundamentalismus ist eine zeitlich begrenzte Übergangsbewegung, aber sie kann noch 30 oder 50 Jahre dauern – ich weiß es nicht. Dort, wo er nicht an der Macht ist, wird er sich als Ideal so lange halten, wie die Frustration der Massen und die Unzufriedenheit andauern, die das Volk in den Extremismus treibt.“12 Um der Herrschaft der Kleriker überdrüssig zu werden, müsse man sie zuvor über einen längeren Zeitraum erfahren haben. Auch in Europa habe das bekanntlich lange gedauert. „Die Dominanz der Islamisten wird also noch längere Zeit andauern“, meinte Rodinson: „Erst wenn ein islamistisches Regime unübersehbar versagt, etwa auch in Bezug auf die nationale Frage, und sich zu einer richtigen Tyrannei entwickelt, könnte das viele Leute dazu bringen, auf alternative Lösungen zu setzen. Voraussetzung wäre allerdings ein überzeugender und mitreißender Gegenentwurf. Und den zu finden, wird nicht einfach sein!“