Indiens Empörte
Die neue Mittelschicht protestiert gegen die Diskriminierung von Frauen – aber auch gegen Korruption und Kastenwesen von Bénédicte Manier
Noch nie sind so viele Menschen aus Protest gegen eine Vergewaltigung in Neu-Delhi auf die Straße gegangen. Zehntausende Frauen und Männer versammelten sich Tag für Tag, um zu zeigen, wie sehr sie das Martyrium dieser jungen Frau, die am 28. Dezember ihren schweren Verletzungen erlag, berührt und empört.
Viele der jungen Demonstranten kommen aus der Mittelschicht. Sie sind vor allem deshalb auf die Straße gegangen, weil sie sich mit dem Opfer identifizieren, das aus einer bescheidenen Bauernfamilie stammte und zum Studium in die Hauptstadt gezogen war. Sie sind mit der Globalisierung groß geworden, einige haben sogar im Ausland studiert, und sie sind finanziell unabhängig. Für diese Generation ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau selbstverständlich – sowohl an der Universität, wo genauso viele Frauen wie Männer immatrikuliert sind, als auch am Arbeitsplatz. Durch Indiens starkes Wirtschaftswachstum haben sich nämlich insbesondere Frauen ganz neue Berufsfelder erschlossen – nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern auch in Bereichen, die seit zehn Jahren im Aufwärtstrend liegen, wie technische Dienstleistungen, Luftfahrt und Pharmazie. 32 Prozent der drei Millionen offiziellen Mitarbeiter in der Informationstechnologie und Informatik sind Frauen.1 Insgesamt ist ihr Anteil an der statistisch erfassten berufstätigen Bevölkerung zwischen 1981 und 2011 von 19,7 auf 25,7 Prozent gestiegen.
Die Vergewaltigung der Studentin hatte auf diese junge urbane Minderheit eine geradezu kathartische Wirkung. Die Vorherrschaft der Männer, das machten die Demonstranten immer wieder unmissverständlich deutlich, ist für sie ganz und gar inakzeptabel. Auf einmal wurde der Kulturkampf zwischen dem alten patriarchalischen Indien und dem neuen weltberühmten „Shining India“, für das diese emanzipierte Jugend steht, öffentlich sichtbar.
Die Region um Neu-Delhi im Nordwesten Indiens ist immer noch stark von patriarchalen Traditionen geprägt. Hier liegt auch der „Foeticide Belt“, jene Region, in der am meisten weibliche Föten abgetrieben werden. Geschätzte 40 bis 50 Millionen Frauen sind im 20. Jahrhundert in Indien durch den Rückgang weiblicher Geburten „verschwunden“. Die frühzeitige Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten ist gerade in wohlhabenderen Staaten wie Pandschab und Haryana weit verbreitet. Besonders die ehrgeizigen Mittelschichten halten an der Tradition der Mitgift beziehungsweise des Brautpreises fest, die in einem direkten Zusammenhang mit der Abtreibung weiblicher Föten steht. Zwar verbietet das Gesetz seit 1994 selektive Abtreibungen und die frühzeitige Geschlechtsbestimmung – das ändert aber nichts an der Praxis. Ohne die zahlreiche und aktive Mitwirkung der Ärzteschaft wären die Millionen Abtreibungen weiblicher Föten nicht zu erklären.2 Dadurch gibt es ein großes Ungleichgewicht in der Bevölkerungsstruktur: In Indien kommen auf 1 000 Männer nur 940 Frauen.3
Diese traditionelle männliche Dominanz erklärt auch die Häufigkeit häuslicher Gewalt, der über 37 Prozent der verheirateten Inderinnen ausgesetzt sind.4 Dazu zählen etwa jährlich 7 000 bis 8 000 Mitgiftverbrechen, in denen Ehemänner von der Schwiegerfamilie noch mehr Geld erpressen wollen. Das sind allerdings nur die angezeigten Fälle, die Dunkelziffer liegt weit höher. Die Anzahl der Vergewaltigungen hat sich nach Angaben des indischen Bundeskriminalamts (National Crime Records Bureau, NCRB) zwischen 1990 und 2008 mehr als verdoppelt. Demnach wird in Indien im Durchschnitt alle zwanzig Minuten eine Frau vergewaltigt.5
Auf 754 Anzeigen kommt eine Verurteilung
Der Männerüberschuss ist sicher eine Ursache für die häufige Gewalt gegen Frauen. Es existiert zwar keine Statistik, die zwischen diesen beiden Phänomenen einen Zusammenhang herstellt, aber für die Bevölkerung ist der Fall klar: In den Dörfern des Foeticide Belt (in den Bundesstaaten Pandschab, Haryana, Rajasthan und so weiter) lassen viele Familien ihre Töchter nicht mehr allein in die Schule oder aufs Feld gehen, und Ärzte berichten, dass sehr oft Patientinnen zu ihnen kommen, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden sind.
Hinzu kommt, dass die Täter durch das hinduistische Kastensystem geschützt werden, vor allem auf dem Land. Männer aus hohen Kasten, die offensichtlich davon ausgehen können, dass ihr Verbrechen nicht geahndet wird, suchen sich ihre Opfer häufig unter den Dalit (Unberührbaren), die ihren Vergewaltigern schutzlos ausgeliefert sind.
In der Hauptstadt ist sexuelle Belästigung in den öffentlichen Transportmitteln weit verbreitet. Auf dem Campus, in den Vorortzügen und abends an Bushaltestellen haben die Vergewaltigungen zugenommen. Besonders hoch ist die Zahl der Anzeigen in Neu-Delhi: Im Jahr 2011 waren es 572, deutlich mehr als in Bombay (221), Kalkutta (46), Madras (76), Bangalore (97) oder Hyderabad (59).6
In den Städten hat die Zunahme sexueller Gewalt dazu geführt, dass in den Medien häufiger darüber berichtet wird. Viele Frauen machen inzwischen Selbstverteidigungskurse, die allerdings nur in den Großstädten angeboten werden. Als Pratibha Patil noch Präsidentin war (2007–2012), hat sie die Inderinnen wiederholt dazu aufgefordert, Kampfsportarten zu erlernen, denn „der beste Schutz ist die Selbstverteidigung“.7 Auch in immer mehr staatlichen Mädchenschulen von Neu-Delhi werden Selbstverteidigungskurse eingeführt.
Die Wut der Demonstranten richtet sich auch gegen die Gleichgültigkeit und Ignoranz der indischen Behörden. Wenn die Opfer Anzeige erstatten, sind sie häufig einer demütigenden Tortur ausgesetzt. Am Ende werden die meisten Täter weder verhaftet noch angeklagt. In Neu-Delhi beispielweise wurde von den 754 zwischen Januar und November 2012 im Zusammenhang mit 635 Fällen von Einzel- und Gruppenvergewaltigungen angezeigten Männer nur ein Einziger verurteilt. Die meisten anderen Verfahren sind noch nicht abgeschlossen.8
Zwar hat die Regierung schon angekündigt, gegen Straftäter härter vorzugehen und mehr Frauen bei der Polizei einzustellen, aber es ist fraglich, ob diese Versprechen wirklich dazu beitragen können, die tiefe Vertrauenskrise zu lösen. Man hält die Polizei insgesamt für unfähig, die zunehmende Gewalt in den Griff zu bekommen. Der Zorn der Demonstranten richtete sich deshalb genauso gegen die Vergewaltiger wie gegen Polizei und Regierung, denen vorgeworfen wird, dass sie ihren vom Volk verliehenen Auftrag nicht erfüllen.
Ohne Zweifel waren die jüngsten Proteste auch politisch motiviert. Sie knüpfen an die landesweiten Demonstrationen von 2011 an. Damals war der Dorfaktivist Kisan Baburao Hazare (genannt „Anna“: großer Bruder) in einen zwölftägigen Hungerstreik getreten. Er kämpft bis heute für die Verschärfung der indischen Antikorruptionsgesetze. Um sich der Forderung Hazares anzuschließen, ging die städtische Mittelschicht zu Tausenden auf die Straße. In beiden Bewegungen offenbart sich die wachsende Kluft zwischen dem ökonomischen und kulturellen Fortschritt Indiens und der Rückständigkeit einer herrschenden Klasse, der niemand mehr zutraut, die Probleme des Landes zu lösen, zumal sie oft selbst in Bestechungsskandale verwickelt ist.
Beide Bewegungen zeigen auch den wachsenden Einfluss einer jungen, gebildeten Generation, die die neuen Medien und sozialen Netzwerke zu nutzen weiß und politische Slogans formuliert, die sich auf jeden Fall gut anhören. Während sich früher die typischen Sorgen der Mittelschicht um Konsum und Bildung drehten, kann man heute so etwas wie ein gemeinschaftliches Streben nach Sicherheit und einem starken Staat beobachten. Diese Bewegung weckt die Hoffnung, dass zukünftig fortschrittlichere Normen darüber entscheiden, wie sich die Gesellschaft insgesamt weiterentwickelt.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass diese Mittelschicht eine Minderheit darstellt. Und Veränderungen brauchen Zeit. Ohnehin ist Indien ein Land der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, nicht nur was die Diskriminierung und Gleichberechtigung von Frauen betrifft. Auch sonst herrscht eine große Ungleichheit, die sich zwischen Stadt und Land noch verschärft hat: Über 37 Prozent der Inder leben in absoluter Armut, und Unterernährung ist nach wie vor ein Riesenproblem. Die Infrastruktur hat sich mit dem Wirtschaftswachstum nicht verbessert, und noch immer mangelt es am Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Wenn die Regierung den von der brutalen Vergewaltigung ausgelösten Zorn beruhigen will, muss sie die Polizei reformieren, bestimmte Gesetze verbessern und konsequenter durchsetzen und die Nichtregierungsorganisationen in ihrem Kampf gegen die jahrhundertealte Diskriminierung unterstützen. Das Eingreifen des Staats reicht zwar nicht aus, um Mentalitäten zu verändern, aber der soziale Fortschritt kann zumindest dazu beitragen, die konkrete Lage aller Frauen zu verbessern.
Einsame Spitze – Frauen in der Politik
In Indien werden Frauen seit Langem in höchste Staatsämter gewählt: Indira Gandhi war von 1966 bis 1977 und von 1980 bis 1984 Ministerpräsidentin. Ihre Schwiegertochter Sonia Gandhi ist seit 1998 Vorsitzende der Kongresspartei. Pratibha Patil, die derselben Partei angehört, war von 2007 bis August 2012 Staatspräsidentin, und Meira Kumar ist seit 2009 Präsidentin des Unterhauses des Parlaments (Lok Sabha). Auch die Region Delhi wird seit 1998 von einer Frau, Sheila Dikshit, regiert.
Dennoch bleibt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern groß. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: die Macht der traditionellen sozialen Gefüge und der fehlende Respekt vor dem Gesetz. So steht zum Beispiel seit 2005 den Frauen das gleiche Erbrecht zu. Doch in der Realität bleiben die meisten Frauen immer noch von Erbe und Landbesitz ausgeschlossen.
70 Prozent der Inderinnen leben auf dem Land, wo sie vom Vater oder Ehemann unterdrückt werden und kaum von der Wirtschaftsentwicklung profitieren. In puncto Gleichberechtigung steht Indien im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) auf Platz 129 von 146 Ländern und innerhalb Südasiens sogar auf dem vorletzten Platz (dahinter liegt nur noch Afghanistan).
Dank der Quotenregelungen belegen Frauen 36,8 Prozent der Sitze in den Gemeinderäten, das sind eine Million Abgeordnete im Land. Im Unterhaus sind jedoch nur 10,8 Prozent der Parlamentarier weiblich. Seit 1996 wartet eine Gesetzesinitiative, die ihren Anteil auf ein Drittel erhöhen soll, auf die Abstimmung.