Lohn der Vertiefung
Ein Plädoyer für das Übersetzen als Tätigkeit von Gayatri Chakravorty Spivak
Seit einigen Jahren interessiere ich mich dafür, wie wir mit den gleichzeitigen, aber widersprüchlichen Anweisungen umgehen, die uns sowohl das Leben als auch das Denken vorgibt. Das Paradebeispiel dafür ist die Tatsache, dass wir von Tag zu Tag für unser Leben sorgen müssen und während dieses Lebens immer schon sterben. In diesem Widerspruch gefangen, machen wir trotzdem weiter, hoffend, dass unsere Welt über unseren eigenen Tod hinaus fortbestehen möge. Dieser Sachverhalt wird gewöhnlich als „Doublebind“ bezeichnet – und der ist eine recht produktive Grundstruktur.
Die Übersetzung bildet dabei keine Ausnahme. Am einen Ende der Übersetzungstätigkeit stehen die Gebrauchsanleitungen, die die Industrieprodukte auf ihrer Weltreise begleiten. Selbst diese gewöhnliche Form der Übersetzung verrät uns schon etwas über den Doublebind, der zum Wesen allen Übersetzens gehört. So reisen die Dinge zwar von einem Ende der Welt zum anderen. Doch unser Verhältnis zu einer Sprache oder Lebensweise kann immer nur an einem Ort in die Tiefe gehen.
Damit begegnen wir schon bei der einfachsten Übersetzung einem widersprüchlichen Phänomen. Während wir in den Kulturwissenschaften möglichst jede sprachliche Nuance erhalten wollen, kommt es bei der Übersetzung von Gebrauchsanweisungen, die ja auf der ganzen Welt gelesen werden sollen, auf absolute Verständlichkeit und schlichte Eindeutigkeit an. Hier geht es weniger um Sprache als um Standardisierungen.
Zunächst wird also eine Übersetzung in die Sprachen der Länder angefertigt, in denen das Produkt vertrieben wird, dann erfolgt eine Rückübersetzung in die Ausgangssprache. Dieser Vorgang wird mehrmals wiederholt, um die völlige Übereinstimmung zwischen ursprünglicher Bedeutung und Übersetzung zu gewährleisten. Ein klarer Fall von unauflöslichem Doublebind zwischen lokal und global!
Am anderen Ende des Spektrums stehen Übersetzungen für Wahrheitskommissionen. Anders als bei anonym und neutral übersetzten Do-it-yourself-Anleitungen müssen hier die sprachlichen Besonderheiten berücksichtigt werden – die Tonlage, das Gefühl, die Subjektivität. Während der Übersetzer meist in der Sprache der Unterdrücker, Folterer, Vergewaltiger und Mörder zu Hause ist, besteht gleichzeitig seine Aufgabe darin, sich in die Opfer hineinzuversetzen und das, was das Opfer vor der Kommission berichtet, als seine eigene erlittene Vergangenheit darzustellen. Das Doublebind zwischen Opfer und Übersetzer ist so anspruchsvoll, dass Menschen, die diese Art des Dolmetschens betreiben, schnell ausbrennen.
Kulturwissenschaftler, die wie ich als Lehrer und Übersetzer arbeiten, bewegen sich in der Grauzone zwischen diesen beiden Extremen. Für die Mehrzahl der Übersetzungen taugen wir als Vorbild kaum. Aber wir sind das Instrument, durch das sich der Globus immer wieder in eine Welt verwandelt. „Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem die Technologie unsere Menschlichkeit überholt haben wird. Dann wird es nur noch Idioten geben“, hat Albert Einstein einmal gesagt.
Die traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächer Literatur und Philosophie lehren uns im besten Falle ein fantasievolles und vernünftiges Tätigwerden. Sie lehren uns, die Dinge im Namen der Erkenntnis auf neue und andere Weise zu erfassen. Das heißt für die Literatur, dass man als Leser lernt, sein eigenes Interesse am Text zurückzustellen, der den anderen repräsentiert.
In der Philosophie üben sich Lehrende und Studierende in der Vorstellung eines verallgemeinerbaren Vernunftwesens. Das Wort „Vernunft“ unterscheidet sich hier vom bloß „Vernünftigen“ oder „Rationalen“, wie es adjektivisch in der Rede von „rationalen Entscheidungen“ gebraucht wird, die die Welt der politischen und ökonomischen Prognosen antreiben, die wiederum das Leben der meisten Menschen bestimmen, die sich in der Welt abstrampeln oder sie beherrschen. In seinem Buch „Schurken. Zwei Essays über die Vernunft“ empfiehlt Jacques Derrida, dass wir den Unterschied zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen in alle Sprachen der Welt übersetzen lernen, ehe wir uns eine erfüllte Globalität vorstellen.
Historisch gesehen waren die Personen, die Zugang zu einer solchen Bildung hatten, auch die Hüter dessen, was man als Humanismus bezeichnet. Und als Subjekt des Humanismus wurde gewöhnlich implizit ein heterosexueller, der Mehrheitsgruppe oder -kaste und Mehrheitsreligion zugehöriger, über Grundbesitz verfügender Mann unterstellt. Diese Unterstellung ist inzwischen nicht prinzipiell, sondern eher zufällig infrage gestellt worden – mit dem Ergebnis, dass die Empfänger der heutigen Bildung allesamt auf Geschwindigkeit, Vermittelbarkeit und Arbeitsmarktfähigkeit getrimmt werden.
Die Vorstellung von einer Weltgemeinschaft steht in einem Doublebind-Verhältnis zu der Tatsache, dass jedes Gemeinschaftsgefühl mit einer Erstsprache verbunden ist, oft auch mit einer Gruppe von Menschen, die nicht unbedingt eine Nation oder Klasse bilden müssen, aber dennoch irgendwie mit diesen Ideen verbunden sind, insofern sie eine Heimat für so etwas wie imaginäre Nachbarschaftsverhältnisse bieten.
Das produktive Doublebind der Übersetzung liegt in der Spannung zwischen dem Tiefenlernen einer Sprache, das den Zugang zum Sprachgedächtnis, zur in die Sprache eingelassenen Erinnerung eröffnet, und der Aufgabe des Übersetzens, die ebenfalls einen in die Tiefe gehenden Spracherwerb voraussetzt. Insofern ist Übersetzung aus meiner Sicht eher eine Tätigkeit als eine Annehmlichkeit, wobei die heutige Weltgemeinschaft auf diesen Komfort selbstverständlich angewiesen ist, wenn man einmal von den ganz wenigen an der obersten Spitze absieht. Doch selbst dort, wo nur ein paar Weltsprachen gesprochen werden, muss ständig auf Übersetzungen zurückgegriffen und der Doublebind zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit der Übersetzung geleugnet werden.
Konzentrieren wir uns hier also auf die Übersetzung als Tätigkeit, auf den oben angedeuteten intimen Akt des Lesens und auf die Fähigkeit, unser jeweiliges Eigeninteresse zurückzustellen. Die Tätigkeit des Übersetzens verfolgt das Ziel, nicht Zufriedenheit, sondern vielmehr Unzufriedenheit mit dem Ergebnis zu erzeugen. Wir wissen, dass in Situationen, die uns vor ein ethisches Problem stellen, das gesamte Ausmaß des Leidens immer größer ist als unsere Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen. Das typische Gefühl ist auch hier Bedauern oder Reue und nicht Jubel und damit jener Unzufriedenheit verwandt, die mit der Unmöglichkeit der Übersetzung einhergeht.
Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal für mein Fach, die Vergleichende Literaturwissenschaft, starkmachen – sie ist meiner Meinung nach „das Gesundheitssystem einer Kultur“. Sie entspringt der Überzeugung, dass auch in unserer globalisierten Welt Kinder über das Erlernen einer Erstsprache das Instrumentarium einer bedingungslosen Ethik verinnerlichen, und zwar bevor sie lernen, was Vernunft bedeutet. Jede Sprache, ob groß oder klein, reich oder arm, bedroht oder mächtig, kann bei einem Kind den metaphysischen Kurzschluss auslösen und es auf den ungewissen Pfad der Ethik führen. Wenn wir aus der Muttersprache in eine Fremdsprache übersetzen, wird diese Beziehung zwischen Individuum und Sprache aus den Angeln gehoben.
Die Vergleichende Literaturwissenschaft kann das Unmögliche versuchen, nämlich Sprachen zu erlernen wie ein Kind und damit das in die Sprache eingelassene Gedächtnis betreten und einen persönlichen und einzigartigen Zugang zu ihrer Geschichte finden. Ein solcher Tiefenerwerb der Sprache, bei dem man sich selbst zurücknimmt, erweitert die Möglichkeiten und die Bandbreite der ethischen Praxis.
Anfang Oktober letzten Jahres fand in Assam eine Konferenz über „Ethnizität, Identität, Literatur“ statt. An der Grenze zwischen dem nordostindischen Bundesstaat Assam und dem muslimisch geprägten Bangladesch gibt es massive ethnische Konflikte, ähnlich denen an der US-amerikanisch-mexikanischen oder der israelisch-palästinensischen oder anderen internationalen Grenzen. Beim Studium der Literatur aus der Region stieß ich auf den Roman „Rupabarir Palash“ von Sayed Abdul Malik. Der Autor, selbst ein Migrant, beschreibt, wie Migranten, insbesondere die aus der Unterschicht, sich die Sprache des sogenannten Gastlandes aneignen und wie diese Sprache für die zweite Generation bereits zur Erstsprache wird. Der Roman endet mit der Klage darüber, dass die Einwanderer trotz dieser Anstrengung in Indien kein Wahlrecht haben.
Durch diesen Roman habe ich verstanden, dass das Modell des Tiefenlernens einer Sprache nicht nur das Verfahren der Vergleichenden Sprachwissenschaften ist, sondern auch ein Verfahren in angewandter Kulturwissenschaft, das die vermeintlich illegalen Migranten benutzen. Es ist ein globales Phänomen in jener Gruppe, die ich als „neue Subalterne“ bezeichnet habe. Subalterne Klassen können den Staat nicht für sich nutzen, obwohl in einer Demokratie angeblich das Volk den Staat kontrolliert.
Insel des Versprachlichens in einem Feld von Spuren
In Abdul Maliks Roman heißt es: „Diejenigen, die um überleben zu können, den Zauber ihres Mutterlands verlassen haben und nach Assam gekommen sind, dieses Land als Mutter angenommen und ihre eigene Sprache vergessen haben, haben das Assamesische zu ihrer eigenen Sprache gemacht.“
Karl Marx beschreibt an einer Stelle diesen Prozess, wenn auch weniger gefühlsbetont, als Basis jeder revolutionären Praxis: „So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergisst.“1
Lehrende und Studierende, die auch übersetzen, gelangen zu der Einsicht, dass bei einer Übersetzung zuerst der Körper der Sprache zerstört wird, ihr Klang, der so eng mit der Gefühlsstruktur verknüpft ist, erst recht, wenn man aus der Erstsprache übersetzt. Wir müssen uns klarmachen, dass diese Gewalt bei jedem Bemühen um Kommunikation notwendig ist.
Aber können wir, wenn wir „alles“ in unsere Erstsprache übersetzen, noch jenes Tiefenlernen sichern, das die von Marx bezeichnete Grenze transzendiert – will heißen, jene erste Sprache vergessen, nachdem wir gelernt haben, uns in der neu erworbenen zu bewegen? Ich glaube nicht.
Der diachronische und synchronische Wettbewerb zwischen den Sprachen stellt sicher, dass die Sprachen die Oberhand gewinnen, in die am häufigsten übersetzt werden. Und weil massenhaft Texte in andere Sprachen übertragen werden, nehmen die Menschen Übersetzungen fast nur noch als Annehmlichkeit wahr – und verlieren das Interesse am Übersetzen als Tätigkeit. Ich bin zweisprachig, geübt in meiner Erstsprache, dem Bengalischen, und fast so gut im Englischen. Doch erst die Übersetzung eines komplizierten philosophischen Textes aus dem Französischen, das ich weniger gut beherrsche, hat mich auf bestimmte Probleme aufmerksam gemacht.2
Möge die Zukunft der Kulturwissenschaften im Übersetzen und nicht in der Übersetzung liegen! Wir werden eine Weltgemeinschaft bilden, jede und jeder von uns globalisierbar, jenseits der Politik, eine Insel des Versprachlichens in einem Feld von Spuren. Die Spur einer „unbekannten“ Sprache findet sich dort, wo wir Bedeutsamkeit erkennen, ohne zu wissen, wie sie zustande kommt. Schließlich sollten gerade wir als Lehrerinnen und Übersetzer anerkennen, dass eine vollständig übersetzte Welt nichts Wünschenswertes ist.