Netz-Regenten
Aufstand gegen Amerikas digitale Vorherrschaft von Dan Schiller
Üben die USA zu viel Macht über das Internet aus? Und was hat die Verwaltung der Netzstruktur überhaupt mit Geopolitik zu tun? Beim letzten Treffen der Internationalen Fernmeldeunion (International Telecommunication Union, ITU), die im Dezember vergangenen Jahres in Dubai stattfand, ging es zum ersten Mal hoch her, als genau über diese Fragen diskutiert wurde. Normalerweise sind die Konferenzen der ITU, einer UN-Unterorganisation mit 193 Mitgliedstaaten, furchtbar langweilig und bürokratisch. Meistens geht es um irgendwelche zwischenstaatlichen Abkommen über internationale Kabel- oder Satellitenverbindungen, die auch nur auf Drängen von Unternehmensvertretern zustande kommen. Für Global Player ist die „Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation“ (WCIT) stets ein wichtiger Termin. Diesmal sollte darüber abgestimmt werden, ob der ITU die Aufsicht über das Internet übertragen werden sollte, so wie es bei anderen Kommunikationsformen bereits seit Jahrzehnten der Fall ist.
Die USA sagten Nein und setzten ihre Position im WCIT-Abschlussdokument tatsächlich auch weitgehend durch: So wurde beschlossen, dass die globale Netzregulierung keine offizielle Aufgabe der ITU sein soll. Gleichzeitig sprach sich jedoch eine Mehrheit der Delegierten noch für eine Resolution aus, die dem Dokument angehängt werden sollte. In diesem Papier werden die Mitgliedstaaten explizit aufgefordert, „bei den unterschiedlichen Foren der ITU ihre jeweilige Position zu internetspezifischen Fragestellungen innerhalb des Mandats der ITU zu erläutern“.1 Selbst diese eher „symbolische Aufsicht“, wie es die New York Times formulierte,2 lehnten die USA ab und weigerten sich schließlich, das Abkommen zu unterschreiben. Den USA schlossen sich unter anderen Frankreich, Deutschland, Japan, Indien, Kenia, Kolumbien, Kanada und Großbritannien an. Doch immerhin über zwei Drittel der Teilnehmer – insgesamt waren 89 Mitgliedstaaten in Dubai vertreten – unterstützten das WCIT-Dokument.
Um zu begreifen, was eigentlich auf dem Spiel steht, sollte man einmal die rhetorischen Nebelkerzen beiseite schieben. Bereits vor Beginn der ITU-Weltkonferenz hatten nämlich diverse Medien in Europa und den USA schon prophezeit, es werde in Dubai zum historischen Showdown kommen: Verfechter der Netzfreiheit gegen „Usurpatoren“ (damit waren die Vertreter aus den autoritär regierten Staaten Russland, Iran und China gemeint). Die Berichterstattung ging so weit, dass ein Manager einer europäischen Telekommunikationsfirma schon von einer geradezu kriegerischen Propaganda sprach.3
Tatsächlich ist die Sorge um die Netzoffenheit nicht unbegründet. Doch es sind nicht nur die Zensoren und Firewalls autoritärer Regime, die die Meinungs- und Redefreiheit im Netz aushöhlen, knebeln und okkupieren; auch in Staaten mit freiheitlichen Verfassungen ist die Netzfreiheit bedroht. Der US-Geheimdienst NSA beispielsweise durchsiebt mit seinen zahlreichen „Horchstationen“ und mithilfe eines gigantischen neuen Datenzentrums in Utah4 die Kommunikation über Satelliten und Kabelnetze. Zudem verfolgt die US-Regierung gnadenlos einen der größten Verfechter der Informationsfreiheit im Netz: Wikileaks. Laut dessen Gründer Julian Assange haben US-Internetfirmen wie Facebook und Google das Web in eine „Überwachungsmaschine“ verwandelt, die Daten über das Nutzerverhalten im Netz aufsaugt und kommerziell verwertet.5
Bereits in den 1970er Jahren war der „freie Informationsfluss“ ein Grundprinzip der US-Außenpolitik.6
In der Ära des Kalten Kriegs und der Entkolonialisierung sahen sich die USA als Leuchtturm, der der Welt den Weg in die Zukunft wies, hinaus aus dem Zeitalter von Imperialismus und staatlicher Repression. Auch heute werden wirtschaftliche und strategische Interessen gern im Namen der universalen Menschenrechte eloquent verbrämt. So war etwa „Netzfreiheit“ eines der Zauberworte, das im Vorfeld des WCIT immer wieder fiel, zum Beispiel wenn sich Google-Manager oder die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton zur Sache äußerten. Das Schlagwort ist nur die heutige Version des alten Slogans vom „free flow“. Damals wie heute handelt es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver. Wir sollen nur dazu gebracht werden, ein fundamentales Menschenrecht einem mächtigen Gespann anzuvertrauen: den Konzernen und den Staaten.
Auf der WCIT wurde eine Fülle unterschiedlicher Themen diskutiert.7 So ging es unter anderem um die Terms of Trade zwischen den Anbietern von Internetdiensten wie Google und den Firmen, die für den Transport der Datenströme sorgen, also Netzwerkbetreiber wie Verizon, die Deutsche Telekom oder der französische Anbieter Free. Dahinter steht folgende grundsätzliche Frage: Wer soll für die ständige Modernisierung der Infrastruktur im Netz bezahlen, auf deren Grundlage immer aufwendigere Angebote möglich werden? Hätte es zum Beispiel einen Dienst wie die Google-Tochter YouTube geben können, wenn nicht zuerst die Bandbreiten der Internetverbindungen stark vergrößert worden wären?
Der Free-Chef Xavier Niel, übrigens seit 2010 einer der drei Mehrheitseigner von Le Monde, rückte das Thema ins Blickfeld, als er einen Werbeblocker als Standardeinstellung für sein Netzwerk einrichten ließ und damit Googles Werbeeinnahmen in Frankreich bedrohte. Allerdings gibt es auch eine Kehrseite dieser Frage: Wenn Anbieter verpflichtet werden, die Netzbetreiber zu bezahlen – wie es Niel und andere Telekommunikationsfirmen fordern –, hätte dies schwerwiegende Konsequenzen für die Netzneutralität und würde möglicherweise bedeuten, dass die Daten von großen, zahlungskräftigen Unternehmen schneller übertragen werden als die von kleineren Firmen oder Privatleuten.
Damit das Internet reibungslos funktioniert, braucht es weltweit einheitliche Adressen und Standards, die alle Teile des Netzwerks identifizieren und die festlegen, wie die unterschiedlichsten Rechner miteinander kommunizieren. Wer sie festlegt, kann seinen Einfluss auch außerhalb des eigenen Territoriums im Netz geltend machen. Dabei hatten die USA bisher als einziger Staat unverhältnismäßig viel Macht. Als sich das World Wide Web in den 1990er Jahren explosionsartig ausbreitete, festigten die USA ihre Macht über das Netz, indem es ihnen gelang, ihre Verwalterrolle zu institutionalisieren.8
Die Netzwerkkennungen des Internets werden von der „Internet Assigned Numbers Authority“ (IANA) in den USA verwaltet, deren Auftraggeber das US-Handelsministerium ist. IANA wiederum ist Teil der kalifornischen Nonprofitorganisation „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ (ICANN). Die technischen Standards des Internets werden durch die „Internet Engineering Task Force“ (IETF) und den Internet Architecture Board (IAB) innerhalb einer weiteren Organisation entwickelt, der „Internet Society“. Allein schon wegen ihrer Zusammensetzung und Finanzierung werden bei all diesen Institutionen die Netzinteressen der USA unverhältnismäßig stark bevorzugt.9
Die führenden globalen Websites werden nicht mit chinesischem, russischem oder gar kenianischem Kapital betrieben. Die großen Konzerne des Internetzeitalters, wie Google, Facebook, Microsoft, Apple und Amazon, deren Dienste von Menschen überall auf der Welt genutzt werden, sind allesamt in den USA beheimatet.
Moderne Wertschöpfungsketten basieren zunehmend auf grenzüberschreitenden Internetdiensten – ein Trend, der sich in Zukunft mit dem Aufkommen von Cloud-Diensten noch verstärken wird, wenn beispielsweise deutsche Firmen ihre Daten auf ausländischen Servern ablegen. Während die US-Regierung bei der Regulierung des Internets eine tragende Rolle spielt, können andere Staaten das System kaum kontrollieren.
Das zeigt sich beispielsweise beim vergeblichen Versuch europäischer Datenschützer, Facebook zur Durchsetzung ihrer Standards zu bewegen. Zwar kann jeder Staat mit technischen und legislativen Maßnahmen das heimische Netz kontrollieren. Doch selbst bei solchen nationalen Maßnahmen werden sie oft von US-Politikern scharf angegriffen. Der Informatiker Milton Mueller hat die momentane Verfassung des Internets treffend als die Verkörperung des „Unilateralen Globalismus“ der US-Politik bezeichnet.10
Dank ihrer Verwalterrolle konnten die USA die kapitalistische Eigentumslogik im Internet verankern: So wurde zum Beispiel die Macht von ICANN über das Domain Name System dazu benutzt, die Besitzansprüche und Warenzeichen von US-Konzernen international durchzusetzen. Zwar protestierten nichtkommerzielle Organisationen, die in der ICANN vertreten sind, doch sie kamen nicht gegen Coca-Cola, Procter & Gamble und die anderen Global Player aus den USA an.
Die nationalen Organisationen, die jeweils die Top Level Domains in verschiedenen Ländern verwalten, sind zudem durch privates Vertragsrecht und nicht etwa durch internationale Abkommen an die ICANN-Regeln gebunden.11 So gibt es in einigen Ländern zwar örtliche Anbieter, die den lokalen Markt dominieren, wie etwa in Russland, China und Korea, doch die höchstprofitablen und strategisch wichtigen transnationalen Dienste liegen fest in US-Hand.
Von Beginn an haben andere Länder gegen ihre Marginalisierung bei der Internetregulierung protestiert. Als deutlich wurde, dass die USA ihre Vormachtstellung nicht freiwillig aufgeben würden, wuchs der Protest und führte zu einer Reihe hochrangig besetzter Treffen, die unter dem Namen „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft“ zwischen 2003 und 2005 von der ITU in Genf und Tunis ausgerichtet wurden.12 Diese Weltgipfel bildeten das direkte Vorspiel zum großen Krach auf der WCIT 2012 in Dubai.
Bei den Treffen in Genf und Tunis wurde nämlich der Einfluss anderer Staaten auf die Netzregulierung zumindest ein bisschen gestärkt. Beim „Government Advisory Committee“ (GAC) der ICANN, das die Organisation beraten soll, haben Regierungen formal denselben Status wie Konzerne und zivilgesellschaftliche Organisationen. Viele Staaten wären mit dieser Konstruktion zufrieden gewesen, gäbe es da nicht eine Auffälligkeit: Trotz der Rede über Vielfalt und trotz des Multi-Stakeholder-Prinzips innerhalb der ICANN ist die globale Netzregulierung mitnichten eine egalitäre oder gar pluralistische Angelegenheit. Offensichtlich ist die US-Exekutive nach wie vor der Anteilseigner Nummer eins.
In den vergangenen Jahren hat sich der Konflikt um die politische Ökonomie des Cyberspace weiter zugespitzt. Andere Regierungen suchen nach Möglichkeiten, mehr Einfluss auf die Netzregulierung zu gewinnen. Als vor wenigen Jahren das US-Handelsministerium den Vertrag mit der IANA erneuern wollte, legten mehrere Länder und die ITU offiziell Beschwerde ein. Die Regierung von Kenia schlug einen „Übergang“ der IANA-Aufgaben vor, weg vom US-Ministerium und hin zu einem durch die Regierungen dominierten multilateralen System. Indem der institutionelle Überbau der Regulierung von Netznamen und -adressen globalisiert würde, sollte der Einfluss der USA eingeschränkt werden.13 Ähnliche Vorschläge kamen aus Indien, Mexiko, Ägypten und China.
Aus Angst vor dem Kontrollverlust griffen die USA in die Rhetorikkiste und inszenierten sich nun immer öfter als die Beschützer der Netzfreiheit. Gleichzeitig verstärkten sie ihr bilaterales Lobbying, um einige ausscherende Staaten zur Umkehr zu bewegen. Die Früchte ihrer Bemühungen konnten die USA auf dem WCIT in Dubai ernten, als Indien und Kenia das Abkommen ebenfalls ablehnten.
Die US-Behörden und führende Vertreter des Internetkapitals wie Google werden auch in Zukunft ihre Macht nutzen, um das US-zentrierte Internet zu stärken und ihre Gegner zu diskreditieren. Doch auf der WCIT sind die politischen Herausforderungen für den „globalen Unilateralismus“ der USA immerhin offen zutage getreten. Ein Kommentator des Wall Street Journal nannte die Dubaier Konferenz deshalb unverblümt „Amerikas erste große digitale Niederlage“.14