08.03.2013

Die Freiheit der Waffennarren

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Die Freiheit der Waffennarren

Amerikas rabiate Verfassungsschützer von Benoît Bréville

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Am 14. Dezember 2012 erschoss ein Mann in einer Grundschule in Newtown (Connecticut) mit einem Sturmgewehr zwanzig Kinder und sechs Erwachsene. Es war der siebte Massenmord in diesem Jahr. „Solche Tragödien darf es nicht mehr geben“, sagte der US-Präsident und kündigte die Einsetzung einer Kommission zur Reform des Waffenrechts an. Kurz darauf erreichten die Waffenverkäufe in Tennessee einen historischen Höchststand. In fünf Bundesstaaten meldete die Supermarktkette Walmart den Ausverkauf ihrer Vorräte an halbautomatischen Waffen, und die National Rifle Association (NRA) – mit 4,3 Millionen Mitgliedern die mächtigste Organisation der US-Waffenlobby – zählte hunderttausend Neuzugänge.

Am 16. Januar 2013 präsentierte Obama die von der Kommission ausgearbeiteten Vorschläge (Verbot von Sturmgewehren, von Magazinen mit hoher Kapazität und anderen). Sogleich schossen die Aktienkurse der Waffenunternehmen an der New Yorker Börse in die Höhe: Die Wertpapiere von Sturm, Ruger & Co stiegen um 5,6 Prozent, die von Smith & Wesson, dem größten Produzenten von Handfeuerwaffen, legten um 6,5 Prozent zu. „Bestimmt würde die Hälfte der Vertreter der Waffenindustrie bei einer Umfrage sagen, dass sie nicht wollen, dass Obama wiedergewählt wird. Aber insgeheim werden sie wieder für ihn stimmen“, meinte etwa Michael O. Fifer, Firmenchef von Sturm, Ruger & Co, bereits ein Jahr vor den Wahlen.1 So wird Barack Obama, der doch eigentlich im Ruf steht, sich für die Waffenkontrolle einzusetzen, ungewollt zum „Verbündeten“ der Waffenindustrie. Denn die Angst vor der Beschlagnahmung von Waffen lässt in den USA jedes Mal die Verkaufszahlen hochschnellen.

Das liegt unter anderem auch an der raffinierten Argumentation der Waffenlobby, die sich stets auf den zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung von 1787 beruft. Jedes Mal, wenn nach einem Massenmord die ganze Nation unter Schock steht und der Ruf nach strengeren Regeln lauter wird, wiederholen die Waffenlobbyisten ihr Mantra: dass nämlich die Gründerväter explizit gewollt hätten, dass jeder Bürger das Recht habe, „Waffen zu besitzen und zu tragen“. Keine Regierung der USA habe das Recht, diese fundamentale Freiheit einzuschränken.

Aber warum haben die Väter der Nation diesen Satz in die Verfassung geschrieben? Sorgten sie sich um das Jagdrecht künftiger Generationen? Trauten sie dem Staat nicht zu, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen?

Der zweite Zusatzartikel wird von ausländischen Medien oft ins Lächerliche gezogen. Sie sehen darin eine Merkwürdigkeit, ja geradezu einen Archaismus der amerikanischen Gesellschaft. Es ist das Bild vom Redneck, der sich an sein Gewehr und seinen Pick-up klammert, oder vom paranoiden Familienvater, der notfalls zur Selbstjustiz greift. Das Recht auf Waffen, heißt es dann, symbolisiere eben den amerikanischen Individualismus. „Bekanntlich sind Waffen in den USA eine Frage der Kultur“, meint etwa der Moderator Marc-Olivier Fogiel auf RTL-Frankreich. Für seinen Gesprächspartner, den Journalisten Claude Askolovitch, sind Waffen einfach „untrennbar mit diesem Land verbunden“, denn „die Amerikaner sehen sich immer noch als Farmer, die gegen die Engländer kämpfen“. Nur die „aufgeklärten Ostküsten-Intellektuellen“ seien dagegen immun.

Von wegen! Das im zweiten Zusatzartikel festgeschriebene Recht auf Waffenbesitz wurde im 18. Jahrhundert ausgerechnet von den „aufgeklärten Ostküsten-Intellektuellen“ festgeschrieben. Mit Kultur oder Individualismus hatte das nichts zu tun. Hier ging es um Politik und Emanzipation. Tatsächlich hat das Recht auf Waffenbesitz eine lange, heute weitgehend vergessene Geschichte.

Jahrhundertelang galt die Waffe als Symbol persönlicher Freiheit. Sie war das Schwert, das der Leibeigene unter Heinrich I. von England (1100–1135) erhielt, wenn sein Herr ihn freiließ; sie war das Gewehr, das den Sklaven fehlte, die nach Artikel 15 des Code Noir (1685) „keine Angriffswaffen und keine großen Stöcke tragen durften, unter Androhung von Auspeitschung und Beschlagnahmung“. Die Gründerväter der US-Verfassung erlaubten den Bürgern, sich zu bewaffnen, nicht um „gegen die Engländer zu kämpfen“, sondern um ein Recht wahrzunehmen, das sie für grundlegend hielten: das Recht, sich gegen Unterdrückung und Tyrannei – kurz: gegen den Staat – zur Wehr zu setzen, falls dieser versuchen sollte, die engen Grenzen der Vorrechte zu übertreten, die ihm die Verfassung zugestand.

Das moderne Widerstandsrecht geht auf die Frühaufklärer zurück: „Große Fehler aufseiten der Regierung, viele ungerechte und nachteilige Gesetze und alle Versehen aus menschlicher Unvollkommenheit wird das Volk ohne Murren und Aufsässigkeit hinnehmen. „Wenn jedoch eine lange Folge von Missbräuchen, Unredlichkeiten und Ränken, die alle in dieselbe Richtung tendieren, dem Volk die Absicht vor Augen führt, wenn es fühlen muss, wem es unterworfen ist, und erkennen muss, wohin das letztlich führt, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass es sich erhebt“, schrieb etwa der englische Philosoph John Locke in seinen 1689 anonym veröffentlichten „Zwei Abhandlungen über die Regierung“.2

Die Idee überwand Jahrhunderte und Grenzen. Während der Französischen Revolution rief Robespierre dazu auf, „Schmiedewerkstätten auf den öffentlichen Plätzen zu errichten. Hier sollen Waffen hergestellt werden, um das Volk zu bewaffnen“.3 Als fast ein Jahrhundert später die autoritäre Regierung unter Adolphe Thiers die in Belleville und auf dem Montmartre stationierten 227 Kanonen beschlagnahmen wollte, die der Pariser Bürgerschaft gehörten, kam es am 18. März 1871 zum Aufstand der Pariser Kommune. „Waffen! Jeder Bürger hat das Recht, sie zu besitzen, als einzige ernsthafte und wirksame Versicherung für seine Rechte“, verkündete damals ein Revolutionär aus Narbonne.

Der Gedanke der Bürgerbewaffnung taucht immer wieder auf: Im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) gegen Franco baten die Republikaner um Waffenhilfe aus dem Ausland, im Zweiten Weltkrieg wollten die Widerstandskämpfer die Pariser Bevölkerung bewaffnen, oder in der kubanischen Revolution gegen den Diktator Batista forderte Che Guevara 1961 die Bewaffnung der Bauern.4

Während die Tradition der Waffe als Symbol der Emanzipation und des Rechts auf Widerstand vom progressiven Lager in den USA im Laufe der Zeit aufgegeben wurde, beriefen sich fortan nur noch die Konservativen auf den ursprünglichen Geist des zweiten Zusatzartikels. So verkündete zum Beispiel der Journalist Andrew Napolitano auf Fox News, dass dieser nicht verfasst worden sei, „um eure Rechte zu schützen, auf einen Hirsch zu schießen, sondern um euer Recht zu schützen, auf einen Tyrannen zu schießen, wenn er sich eurer Regierung bemächtigt“.

Die Verteidiger der Waffenfreiheit scheuen nicht einmal davor zurück, sich auf den Bürgerrechtler Martin Luther King zu berufen. So wagte es der Erfinder des „Gun Appreciation Day“ Larry Weid auf CNN zu behaupten, „dass dieser Tag das Erbe von Doktor King ehrt. Würde er noch leben, würde er mir zustimmen, dass die Sklaverei niemals ein so langes Kapitel unserer Geschichte geworden wäre, wenn die Afroamerikaner bei der Gründung dieses Staats das Recht erhalten hätten, eine Waffe zu tragen.“5 Wayne LaPierre, seit einer halben Ewigkeit Vizepräsident der NRA, verwies sogar auf die Vernichtung der europäischen Juden, um das Recht auf Waffen zu verteidigen. Seiner Ansicht nach hätte der Holocaust nicht stattgefunden, wenn es in Deutschland damals keine Waffenkontrolle gegeben hätte.6

Im Umkehrschluss wären die Anhänger einer Regulierung des Waffenbesitzes also Befürworter des Sklavenhandels und Nazianhänger. Und da die Verfassung jedem erlaubt, eine Waffe zu besitzen, um die Tyrannei zu bekämpfen, wird jeder, der versucht, dieses Recht einzuschränken, zum Unterstützer eines möglichen Tyrannen. Folglich muss sich das Volk bewaffnen, um sein Recht auf Waffen zu verteidigen.

Dabei gäbe es so viele andere Anlässe, das Erbe der Gründerväter zu schützen. Seit Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ erlaubt die US-Regierung die Bespitzelung unschuldiger Bürger ohne Gerichtsbeschluss, die Inhaftierung vermeintlicher Terroristen ohne Verurteilung und die außergerichtliche Tötung von US-amerikanischen Staatsbürgern.7 Und der Präsident nimmt sich das Recht, militärische Mittel einzusetzen, ohne die Zustimmung des Kongresses einzuholen.8 Damit tritt die US-Exekutive den vierten, fünften, sechsten und achten Zusatzartikel mit Füßen, und doch wurde keine einzige der 270 Millionen Feuerwaffen in den USA erhoben, um an die Einhaltung der Verfassung zu appellieren.

Fußnoten: 1 Joshua Green, „Why the gun industry secretly loves Obama“, Bloomberg Businessweek, 1. September 2011. 2 John Locke, „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, Wien (Europaverlag), 1967, Deutsch von Hans Jörn Hoffmann, Buch 2, S. 352. 3 Rede von Maximilien de Robespierre im Klub der Jakobiner am 8. Mai 1793, in: „Oeuvres de Maximilien de Robespierre“, Band IX, Ecole des Hautes Etudes und Société des Etudes Robespierristes, Paris 1957. 4 Siehe Ernesto Che Guevara, „Le peuple en armes“, Partisan, November/Dezember 1961; siehe www.monde-diplomatique.fr/48714. 5 Zitiert von Charles M. Blow, „Revolutionary Language“, The New York Times, 11. Januar 2013. 6 Wayne LaPierre, „Guns, Crime and Freedom“, Washington (Regenery Publishing) 1994. 7 Siehe Conor Friedersdorf, „The strangest conservative priority: prepping a ‚2nd amendment solution‘ “, The Atlantic, 2. Januar 2013. 8 Siehe Bruce Ackerman, „Obama’s Unconstitutional War“, Foreign Policy, 24. März 2011. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Benoît Bréville