08.03.2013

Als die USA noch ein anderes Land waren

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Als die USA noch ein anderes Land waren

Acht Gründe, dem Kalten Krieg nachzutrauern von Jon Wiener

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Beim Buchfestival voriges Jahr in Los Angeles tauschten etliche Autoren, mich selbst eingeschlossen, auf einem Podium in der üblichen Weise Argumente zur Politik der USA in den 1950er Jahren aus. Bis irgendwann einer der Diskutanten das Publikum mit dem Satz schockierte: „Mein Gott, wie ich den Kalten Krieg vermisse.“

Dann erzählte er, wie seine Großmutter von Oklahoma nach Kalifornien gekommen war: Sie hatte nur die Grundschule besucht, aber sie fand während des Zweiten Weltkriegs einen Job in einer Flugzeugfabrik, trat der Gewerkschaft bei, war krankenversichert, erwarb Rentenansprüche und brachte es in den Jahren des Kalten Kriegs auf ein anständiges Gehalt. Am Ende besaß sie ein Haus in einem Vorort von Los Angeles und konnte ihre Kinder auf die Universität schicken.

Mehrere ältere Zuhörer sprangen auf und riefen empört: „Und die McCarthy-Verfolgungen?“ „Die Atombombe?“ „Vietnam?“ „Richard Nixon?“ Natürlich hatten sie recht. Es stimmt ja, die USA haben zu Zeiten des Kalten Kriegs wirklich gedroht, die Welt mit Atomwaffen zu vernichten; sie haben in aller Welt brutale Diktatoren unterstützt, wenn sie nur gegen die Kommunisten waren; und sie haben in Korea und Vietnam den Tod einiger Millionen Menschen zu verantworten. Und all das angeblich, um die Freiheit zu verteidigen.

Gleichwohl kann man durchaus die Nostalgie verstehen, die jener Autor bei der Erinnerung an die Zeit des Kalten Kriegs verspürt hat. In Anbetracht der Dinge, die damals geschehen sind, ist das ein überaus trauriges Eingeständnis – aber wer könnte bei allem, was derzeit geschieht, im Ernst bestreiten, dass die Vereinigten Staaten der 1950er und 1960er Jahren in vielerlei Hinsicht einfach ein besseres Land waren als das, in dem wir heute leben? Im Folgenden werde ich acht Dinge aufzählen (und die Liste könnte ich beliebig verlängern), die wir damals hatten – und heute nicht mehr haben.

1. Der Präsident maßte sich nicht das Recht an, Staatsbürger der USA ohne ordentliches Gerichtsverfahren zum Tode zu verurteilen.

Letztes Jahr haben wir erfahren, dass Präsident Obama persönlich zugestimmt hat, einen im Ausland lebenden US-Bürger durch einen Drohnenangriff zu töten, ohne dass zuvor irgendwelche Ermittlungen durch die Justiz stattgefunden hatten. Der Einsatz erfolgte im Jemen, aber, so merkte Amy Davidson auf der Website von The New Yorker an: „Hätte es nicht auch in Paris sein können?“ Obama hat uns wiederholt versichert, dass die Leute, deren Ermordung er anordnet, „Terroristen“ seien. Aber es wäre zutreffender von „mutmaßlichen Terroristen“ zu sprechen oder aber von „mutmaßlichen Unterstützern von Terroristen“ oder, um ganz präzise zu sein, von „Leuten, von denen eine andere Regierung behauptet, sie seien Terroristen oder zumindest terroristisch“.

Obamas Zielperson im Jemen war Anwar al-Awlaki, ein US-Bürger, der eine Führungsfigur von al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel gewesen sein soll. Daniel Klaidman schreibt in seinem Buch „Kill or Capture“ (Töten oder Fangen), Obama habe im Kreis seiner Berater gesagt: „Ich will Awlaki. Lasst ihn nicht entkommen.“ Damit bekundete Obama, wie Steve Coll im New Yorker angemerkt hat, als erster Präsident in der US-amerikanischen Geschichte „die Absicht, einen bestimmten US-Bürger zu töten, ohne dass dieser in aller Form eines Verbrechens beschuldigt oder rechtskräftig verurteilt wurde“.1 Übrigens wurde bei einem anderen Drohnenangriff auch al-Awlakis 16-jähriger Sohn getötet, den niemand mit terroristischen Aktivitäten oder Attentatsplänen in Verbindung gebracht hat.

Der entscheidende Punkt ist hier natürlich der Rechtsstaatsvorbehalt, wie er im fünften Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung formuliert ist: „Niemand darf des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz beraubt werden.“ Es heißt hier also ganz klar „niemand“, und nicht etwa „niemand außer solchen Personen, die der Präsident für Terroristen hält“.

Obamas Mordaufträge

Und es kommt noch schlimmer: Nach der Entscheidung einer Bundesrichterin vom Januar 2013 kann das Justizministerium die Geheimhaltung eines Dokuments verfügen, das die angeblich „rechtliche“ Begründung für die gezielte Tötung eines US-Bürgers enthält. Richterin Colleen McMahon hat eine Klage der American Civil Liberties Union (ACLU) und der New York Times mit der Begründung abgewiesen: „Ich sehe keinen Weg, wie man das Dickicht der Gesetze und Präzedenzfälle umgehen könnte, die es der Exekutive unserer Regierung effektiv gestatten, gewisse Aktionen, die auf den ersten Blick unvereinbar mit unserer Verfassung und unseren Gesetzen erscheinen mögen, als völlig rechtmäßig zu erklären und zugleich die Gründe für diesen Beschluss geheim zu halten.“

Es ist wahr, die CIA hat zugegeben, dass sie solche Mordanschläge, wie sie im „Horror’s Book“2 beschrieben sind, zu Zeiten des Kalten Kriegs auch geplant und ausgeführt hat. Aber damals galten die Anschläge ausländischen Politikern wie Fidel Castro und Patrice Lumumba oder auch Rafael Trujillo.3 Aber in solchen Fällen legten die US-Präsidenten Wert darauf, nicht in die CIA-Pläne eingeweiht zu sein, damit sie eine Mitwisserschaft „glaubwürdig bestreiten“ konnten. Und gewiss hat kein Präsident vor Obama jemals öffentlich das Recht beansprucht, das Töten von US-Bürgern anzuordnen.

Bis zum 11. September 2001 hat noch jede Regierung in Washington die „gezielte Tötung“ mutmaßlicher Terroristen durch Israel verurteilt. Man kritisierte also „außergerichtliche Hinrichtungen“ ähnlich jenen, die Obama heutzutage immer wieder in den Stammesgebieten Pakistans, im Jemen und womöglich auch in anderen Regionen anordnet.

2. Wir hatten keine geheimen „Terrorismus-Industrie-Komplex“. Als „terrorism-industrial complex“ bezeichnen die Autoren Dana Priest und William Arkin in ihrem Buch „Top Secret America“ das ständig anwachsende Geflecht von staatlichen Agenturen und Privatfirmen, die mit dem Kampf gegen den Terrorismus beauftragt sind.4 Zu Zeiten des Kalten Kriegs gab es für „streng geheime“ Aufgaben eine Handvoll staatlicher Behörden; heute sind es mehr als 1 200. Priest und Arkin fanden außerdem heraus, dass 51 bundesstaatliche Organisationen und Militärkommandos allein damit befasst sind, die Geldströme von und zu den Terrorismusnetzwerken aufzuspüren. Hinzu kommen fast 2 000 Vertragsfirmen, die für streng geheime Aufträge, vermutlich die Jagd nach Terroristen, engagiert wurden.

Die offiziellen Staatsausgaben für „nachrichtendienstliche Tätigkeiten“ beliefen sich in den letzten Jahren des Kalten Kriegs auf etwa 27 Milliarden Dollar, 2012 waren sie auf 75 Milliarden Dollar angestiegen. Diese massive Vermehrung staatlicher und privater Sicherheitsaktivitäten ging einher mit einer ähnlich gigantischen Ausweitung der offiziellen Geheimhaltungsstandards: Im Zeitraum 1980 bis 2011 ist die Zahl der als geheim klassifizierten Dokumente von jährlich 5 Millionen auf 92 Millionen angestiegen. Und seit Obama Präsident ist, hat sich auch die strafrechtliche Verfolgung von Whistleblowern, von Leuten, die Informationen aus der Regierung nach außen geben, intensiviert.

Zwar haben CIA und FBI zur Zeit des Kalten Kriegs ebenfalls im großen Stil geheime und illegale Überwachungsaktionen betrieben, die auch gegen US-Bürger gerichtet waren, aber die Dimensionen waren im Vergleich mit der Zeit seit 9/11 eher bescheiden.

3. Die Gewerkschaften waren selbstverständlicher Bestandteil des politischen Systems. „Nur ein Narr würde versuchen, arbeitenden Männern und Frauen das Recht zu nehmen, sich einer Gewerkschaft ihrer Wahl anzuschließen.“ So sprach Präsident Dwight D. Eisenhower 1952. Und er sprach sich nicht nur für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung aus, sondern auch für das Prinzip der kollektiven Verhandlungen mit den Arbeitgebern. In den Augen Eisenhowers war „eine starke, freie Gewerkschaftsbewegung“ ein „willkommener und notwendiger Bestandteil unserer industriellen Gesellschaft“. Und er formulierte gemäß der damals herrschenden Stimmung: „Sollte eine politische Partei das geltende Arbeitsrecht abschaffen wollen, wäre sie schnell aus unserer politischen Geschichte verschwunden.“ Und er räumte ein: „Es gibt eine winzige Splittergruppe, die glaubt, so etwas könnte man machen, aber das sind so wenig Leute … Und sie sind dumm.“

Johnsons Kampf gegen die Armut

Bei solchen Äußerungen würde man Barack Obama sicher nicht erwischen. Allerdings wurden die Gewerkschaften damals von den Republikanern auch deshalb verteidigt, weil man sie als wichtige Partner im Kampf gegen den Kommunismus schätzte. Die Arbeiter in den USA könnten sich, so das Argument, im Gegensatz zu ihren sowjetischen Kollegen zu unabhängigen Gewerkschaften zusammenschließen. Und mit der Welle des Wohlstands unter Eisenhower erreichte der Organisationsgrad einen Höchststand: 1955 gehörten 34 Prozent aller Lohn- und Gehaltsempfänger einer Gewerkschaft an. 2011 war der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Privatsektor unter die 7-Prozent-Grenze gesunken – auf den tiefsten Stand seit 1932.

Natürlich verlangte die Regierung in der Ära des Kalten Kriegs, dass die Gewerkschaften kommunistische Funktionäre ausschlossen – wenn sie es nicht taten, wurden sie einfach dichtgemacht. Zudem sollten sie wilde Streiks unterdrücken und den „Arbeitsfrieden“ durchsetzen; dafür erhielten sie als Gegenleistung mehrjährige Tarifverträge, die den Arbeitern ständig steigende Löhne und betriebliche Sozialleistungen sicherten. Aber wie uns die vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben: Für Lohnabhängige ist so ziemlich jede Art Gewerkschaft besser als gar keine.

4. Ohne richterliche Genehmigung konnte dein Telefon nicht abgehört werden. Heute verleiht das „Gesetz zur Ergänzung der Überwachung ausländischer Nachrichtendienste“ (Fisa) der Regierung umfassende Vollmachten für das Bespitzeln der Bürger. Durch eine Vorlage, die Obama am 29. Dezember 2012 mit Begeisterung unterzeichnet hat, wurden es bis 2017 festgeschrieben. Die aktuelle Gesetzeslage gestattet die Überwachung jeglicher elektronische Kommunikation auch ohne richterliche Anordnung im Einzelfall, solange die Regierung behauptet, sie wolle damit Erkenntnisse über „ausländische Nachrichtendienste“ sammeln.

In den letzten Jahren wurde vieles, was früher illegal war, zu geltendem Landesrecht. Riesige Datenmengen von E-Mails und Telefongesprächen werden gesammelt und ausgewertet. Und eine Gesetzesnovelle, die der Kongress 2008 verabschiedet hat, gewährt zum Beispiel Telekommunikationsunternehmen, die der Bush-Regierung ihr richterlich unkontrolliertes Abhörprogramm ermöglicht hatten, im Nachhinein strafrechtliche Immunität.5

Im Kongress gab es mehrere bescheidene Versuche, das Fisa-Gesetz vom 29. Dezember 2012 zumindest zu entschärfen, etwa durch eine Klausel, die den Director of National Intelligence6 verpflichtet hätte, die Zahl der geheim überwachten Bürger offenzulegen. Obwohl dieser Zusatz das Spionageprogramm der Regierung in keiner Weise eingeschränkt hätte, wurde er im Senat mit 52 zu 43 Stimmen abgelehnt.

Mit solchen Gesetzen hat sich der Staat in ein hermetisches Sicherheitsdenken zurückgezogen, wie es in den Jahren des Kalten Kriegs undenkbar gewesen wäre. Zwar trifft es zu, dass die Polizei und das FBI in den 1950er und 1960er Jahren normalerweise alle beantragten Telefonüberwachungen durch richterlichen Beschluss bewilligt bekamen. Aber allein die Tatsache, dass sie dies bei einem Richter beantragen mussten, dürfte den Drang der Regierungsstellen, ein unbegrenztes Abhörsystem zu betreiben, erheblich eingedämmt haben.

5. Die Infrastruktur wurde erweitert und verbessert. Heute ist unsere gesamte Infrastruktur in Auflösung begriffen: Brücken brechen zusammen, Kanalisationssysteme verrotten, die Stromnetze sind überlastet. Viele dieser Systeme stammen noch aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein wichtiger Grund für ihren Bau war die Überzeugung, dass der titanische Kampf gegen den Kommunismus nicht nur im Ausland, sondern auch zu Hause gewonnen werden musste.

Das bekannteste Beispiel für die vom Kalten Krieg inspirierten Infrastrukturprogramme ist das vom Kongress beschlossene Gesetz zum Ausbau des Fernstraßennetzes. Aufgrund des National Interstate and Defense Highway Act von 1956 wurden innerhalb von dreizehn Jahren rund 66 000 Kilometer autobahnähnlicher Nationalstraßen gebaut. Es war das größte öffentliche Infrastrukturprojekt in der Geschichte der USA. Der Ausbau dieser neuen „freeways“ oder „interstates“ wurde vom Gesetzgeber mit der Notwendigkeit begründet, das Straßennetz müsse „in Kriegszeiten den Erfordernissen der nationalen Verteidigung gerecht werden“.7

Der Bau von Straßen und Brücken ging einher mit einem ähnlichen Programm zum Ausbau der öffentlichen Wasser- und Stromversorgung und der Telefonnetze. Die Ausgaben für Infrastrukturmaßnahmen stiegen bis in die 1960er Jahre ständig an und erreichten bei ihrem Höchststand 1964 mehr als 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Anfang der 1980er Jahre war dieser Anteil auf unter 2,5 Prozent gesunken, heute liegt er nach wie vor unter 3 Prozent des BIPs.8

Inzwischen sind die USA hinsichtlich des Infrastrukturausbaus weit hinter ihre potenziellen globalen Konkurrenten zurückgefallen. China zum Beispiel wird in den nächsten fünf Jahren rund eine Billion Dollar in Hochgeschwindigkeitszüge, Autobahnen und andere Infrastrukturprojekte investieren. Dagegen müssten die USA zwei Billionen Dollar investieren, um auch nur die Straßen, Brücken, Deiche, Wasserleitungen und Abwassersysteme instand zu setzen, die inzwischen das Ende ihres geplanten Lebenszyklus erreicht haben.9

Dies bedeutet angesichts der geplanten Kürzungen im Bundeshaushalt, dass die Einzelstaaten und die Kommunen für einen Großteil der Kosten dieser Infrastrukturerneuerung aufkommen müssen. Doch deren eigene Finanzmittel reichen bekanntlich für diese gigantischen Aufgaben bei Weitem nicht aus.

Bei all dem ist natürlich zu bedenken, dass das in den 1950er Jahren gebaute Straßennetz dazu beigetragen hat, das Automobil zum wichtigsten Transportmittel der USA zu machen – auf Kosten der Massenverkehrssysteme, was wiederum zulasten der Umwelt ging. Die einstürzenden Straßenbrücken und verrottenden Abwasserkanäle veranschaulichen dennoch auf dramatische Weise die Defizite einer Politik, die die sich dem Gemeinwohl nicht mehr verpflichtet fühlt.

6. Die Universitätsausbildung war billiger. In den 1950er Jahren kostete ein Studium an der University of California – die damals als beste staatliche Uni der Welt galt – pro Jahr 220 Dollar; das wären heute (inflationsbereinigt) 1 600 Dollar. Im vorigen Jahr hat die Verwaltung dieser Universität – inmitten der Krise des gesamten Erziehungswesens – die Gebühren für Einwohner des Staats Kalifornien auf 13 200 Dollar erhöht. Insgesamt sind die Studenten der USA gegenüber ihren Universitäten mit mindestens einer Billion Dollar verschuldet. Und viele von ihnen werden wegen der College-Darlehen, die sie schon für eine äußerst mittelmäßige Ausbildung abstottern müssen, lebenslang verschuldet bleiben.

1958 hatte die Sowjetunion ihren ersten Satelliten in Umlauf gebracht. Der sogenannte Sputnik-Schock führte zur Verabschiedung des National Defense Education Act (NDEA), ein Gesetz, das für die staatlichen Universitäten üppige Zuschüsse aus Bundesmitteln vorsah. Auf der Website des Washingtoner Erziehungsministeriums kann man heute nachlesen, mit diesem Gesetz habe man sicherstellen wollen, „dass Amerika über sehr gut ausgebildete Individuen verfügt, um mit der Sowjetunion im Bereich von Naturwissenschaft und Technik konkurrieren“ zu können. Damals wurden staatliche Zuschüsse erstmals zur wichtigsten Finanzierungsquelle für wissenschaftliche Forschungsprojekte. Zugleich sah das NDEA auch ein großzügiges Programm für Studentendarlehen vor.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurden diese Mittel aus dem nationalen Haushalt zusammengestrichen, was die staatlichen Unis zwang, ihre Finanzierungslücken durch höhere Studiengebühren zu stopfen. Die Studenten mussten also mehr zahlen – und zwar sehr viel mehr.

Es stimmt, dass die Studenten in den 1960er Jahren beim Antrag auf ein NDEA-Darlehen eine entwürdigende eidesstattliche Erklärung unterschreiben mussten, in der etwa stand, dass sie nicht vorhätten, die US-Regierung gewaltsam zu stürzen. Es stimmt auch, dass vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Gelder in die Forschung zu militärischen und strategischen Zwecken floss.10 Und doch: Wer würde, angesichts des allgemeinen Niedergangs des öffentlichen Bildungswesens im ganzen Land, nicht mit einer gewissen Nostalgie an die Ära des Kalten Kriegs zurückdenken?

7. Wir hatten einen Präsidenten, der zum „Krieg gegen die Armut“ aufrief. In seiner Rede zur Lage der Nation vom 12. Januar 1966 erklärte Präsident Lyndon B. Johnson, „die reichste Nation der Erde“ habe die Pflicht, allen Amerikanern „die elementaren Annehmlichkeiten des Lebens“ zugänglich zu machen. Es sei durchaus möglich, gleichzeitig den Kommunismus weltweit ( insbesondere in Vietnam) und ebenso die Armut zu Hause zu bekämpfen. Das war Johnsons, wie es damals hieß, Kanonen-und-Butter-Rede. Darüber hinaus wollte der Präsident nicht einfach staatliche Gelder an die Armen verteilen; er wollte Aktionsgruppen auf Gemeindeebene fördern, in denen die Betroffenen selbst Unterstützungsprogramme entwickeln und durchsetzen sollten, denn, sagte der Präsident, die Armen wissen selbst am besten, was sie brauchen.

Natürlich muss man auch hier die Realitäten sehen: Johnsons „Krieg gegen die Armut“ war – im Gegensatz zu seinem Krieg in Vietnam – hoffnungslos unterfinanziert, und die Aktionsgruppen auf lokaler Ebene wurden schon bald von den Bürgermeistern oder vom örtlichen Parteiapparat der Demokraten entmachtet. Aber wie steht es um die heutige Realität?

Präsident Obama kam noch nicht einmal auf den Gedanken, 2012 im Rahmen der Kampagne für seine Wiederwahl das Problem der Armut auch nur zu erwähnen. Und dies trotz der Tatsache, dass die Armut inzwischen Dimensionen erreicht hat, die Lyndon B. Johnson fürwahr schockiert hätten, und dass die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer geworden ist als je zuvor seit dem Ende der 1920er Jahre. Heute haben wir immer noch reichlich Kanonen, aber Butter ist nicht mehr viel da.

Eisenhowers Warnung

8. Wir hatten einen Präsidenten, der uns vor der „exzessiven Macht des militärisch-industriellen Komplexes“ warnte.

Im Januar 1961 warnte der scheidende Präsident Eisenhower in seiner „Abschiedsbotschaft“, die er drei Tage vor der Amtseinführung von John F. Kennedy verkündete, vor dem „ungerechtfertigten Einfluss, der – ob beabsichtigt oder nicht – durch den militärisch-industriellen Komplex ausgeübt“ werde. „Das Potenzial für die fatale Zunahme fehlgeleiteter Macht existiert und wird weiter existieren“, erklärte Eisenhower in dieser Rede und führte damit den Begriff „militärisch-industrieller Komplex“ in den politischen Wortschatz ein. Für die Geschichte des Kalten Kriegs war dies ein entscheidender Moment: Hier warnte ein Präsident, der im Zweiten Weltkrieg als Oberbefehlshaber der US-Armee fungiert hatte, seine Landsleute vor den Gefahren, die vom Militär und dessen Verbündeten in Wirtschaft und Politik ausgingen.

Anlass für diese Rede war die Auseinandersetzung zwischen dem Präsidenten und dem Kongress über den Verteidigungshaushalt. Eisenhower hatte Angst vor einem Atomkrieg und wandte sich entschieden gegen das Gerede über die Möglichkeit eines „begrenzten“ Einsatzes nuklearer Waffen. Zudem wusste er, dass die USA der Sowjetunion militärisch haushoch überlegen waren. Dennoch behaupteten damals seine Gegner aus der Demokratischen Partei, der Rüstungsindustrie und aus Kreisen der Militärs, der Präsident habe die „Verteidigung“ vernachlässigt – also nicht genügend Waffen gekauft, nicht genug Geld ausgegeben. Und Präsident Kennedy hatte die Wahlen im November 1960 gewonnen, weil er den Amerikanern eine völlig fiktive „Raketenlücke“ zwischen den USA und der Sowjetunion eingeredet hatte.11

Es stimmt zwar, dass diese späte Warnung Eisenhowers sehr viel wirksamer gewesen wäre, wenn er sie zu Beginn seiner ersten oder zweiten Amtszeit oder in einer seiner Reden „zur Lage der Nation“ formuliert hätte. Und richtig ist auch, dass er während seiner Amtszeit die von der CIA inszenierten Staatsstreiche im Iran und in Guatemala genehmigt und ebenfalls grünes Licht für die Planung einer Invasion Kubas gegeben hatte (die dann zum Schweinebucht-Desaster seines Nachfolgers Kennedy wurde). Eisenhower hatte überdies die Militärdoktrin der „gegenseitigen Vernichtung“ zur Grundlage der Nuklearstrategie des Kalten Kriegs gemacht und diese durch die entsprechende B-52-Bomberflotte gestützt.

Aber am Ende seiner zweiten Amtszeit änderte der alte Exgeneral seine Haltung. Seine Warnungen waren nicht nur gegen unnötige Militärausgaben gerichtet, sondern auch gegen Institutionen, von denen er befürchtete, sie könnten eine Krise auslösen, die das Ende der individuellen Freiheitsrechte bedeuten würde. Als jemand, „der weiß, dass der nächste Krieg die Zivilisation endgültig vernichten könnte“, forderte der Präsident seine Mitbürger auf, sich dem militärisch-industriellen Komplex zu widersetzen. Keiner seiner Nachfolger hat das auch nur versucht, und mit dem Ergebnis müssen wir heute, im Jahr 2013, leben.

Aber es gab im Kalten Krieg eine Sache, die ich nicht vermisse: Durch die atomare Hochrüstung hätte es beim geringsten Auslöser zum nuklearen Schlagabtausch kommen können.

Unsere Gegner im Kalten Krieg verfügten über ein Atomwaffenarsenal, das ausgereicht hätte, uns und den ganzen Planeten mehrfach zu vernichten. Im Jahr 1993 haben wir erfahren, dass die Sowjetunion zu einem bestimmten Zeitpunkt über fast 45 000 Atomsprengköpfe verfügte und eine Reserve von fast 1 200 Tonnen waffenfähigen Urans angesammelt hatte. Verglichen damit ist das militärische Potenzial der al-Qaida und unserer terroristischen Feinde von heute bemerkenswert unbedeutend. Wobei wir natürlich nicht vergessen dürfen, dass Russland und die USA noch immer über ein nukleares Waffenarsenal verfügen.

Fußnoten: 1 www.newyorker.com/online/blogs/comment/2012/08/kill-or-capture.html, 2. August 2012. 2 Diese Dokumentation über das „Familiensilber“ wurde 1973 im Gefolge des Watergate-Skandals vom damaligen CIA-Chef James Schlesinger in Auftrag gegeben, unterlag aber bis 2007 der Geheimhaltung. 3 Lumumba, der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongo, wurde im Januar 1961 ermordet. Trujillo, der langjährige Diktator der Dominikanischen Republik, im Mai 1961. 4 „Top Secret America. The Rise oft the New American Security State“ , New York (Little, Brown and Company) 2011. Erschienen zunächst als dreiteilige Serie im Juli 2010 in der Washington Post. 5 www.opencongress.org/bill/111-s1725/show. 6 Dieser Posten eines Direktors aller 16 US-amerikanischen Geheimdienste wurde erst 2004 geschaffen – eine der Folgen von 9/11. 7 Präsident Eisenhower war in der Tat von dem Autobahnsystem beeindruckt, das er in Deutschland vorgefunden hatte und das 1945 den Vormarsch der US-Truppen erheblich erleichtert hatte: www.nationalatlas.gov/articles/transportation/a_highway.html. 8 Dabei ist zu beachten, dass der Anteil an Infrastrukturausgaben, der für Betrieb und Instandhaltung aufzuwenden ist, zwischen 1960 und 2007 von 40 auf 55 Prozent gestiegen ist. Siehe den Bericht des Congressional Research Service vom 21. September 2011: www.fas.org/sgp/crs/misc/R42018.pdf. 9 Zu dieser Infrastruktur gehören auch die 40 bis 50 Jahre alten Staudämme. Die vorstehenden Angaben stammen aus dem Report einer Expertengruppe von 2009: web1.millercenter.org/conferences/report/conf_2009_transportation.pdf. 10 Die University of California betrieb damals sogar die Laboratorien von Livermore und Los Alamos, in denen Atomwaffen entwickelt wurden. 11 In seiner Rede meinte Eisenhower, die von Kennedy behauptete Raketenlücke sei ebenso ein „Phantasieprodukt“ wie die zuvor beschworene „Bomberlücke“ (zitiert nach: Der Spiegel, 15. Februar 1961). Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Jon Wiener lehrt Geschichte an der University of California-Irvine. Zuletzt erschien von ihm „How We Forgot the Cold War: A Historical Journey Across America“, Berkeley (University of California Press) 2012. Dieser Beitrag erschien am 15. Januar 2013 auf TomDispatch.com. © Agence Global; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Jon Wiener