08.03.2013

Die Jurtenviertel von Ulan-Bator

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Die Jurtenviertel von Ulan-Bator

Seit die Mongolei zum Kapitalismus übergetreten ist, ziehen die Hirtennomaden in die Stadt von Régis Genté

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Wenn man durch die Randbezirke von Ulan-Bator läuft und mit einigen der zahllosen Nomaden spricht, die sich in den vergangenen zehn Jahren hier niedergelassen haben, wird einem auch unabhängig von den Fakten klar, dass die Mongolei ein Land im Umbruch ist: Von den etwa 3 Millionen Einwohnern sind seit der Jahrtausendwende etwa 450 000 in die Hauptstadt gezogen. Noch nie zuvor hat es eine solche Landflucht gegeben. Nachdem bereits zu kommunistischen Zeiten Industrialisierung und Verstädterung gefördert worden waren, werden die Mongolen infolge des abrupten Übergangs zur Marktwirtschaft seit den 1990er Jahren ihr Nomadentum – das 2 500 Jahre im rauen Klima Zentralasiens überdauert hat – nun möglicherweise ganz aufgeben.

Heute lebt nur noch ein Drittel der Bevölkerung von der Viehzucht – 1980 waren es noch 80 Prozent. Vielleicht werden die Jurten (mongolisch: ger) in der unermesslichen Weite der hügeligen Steppe bald nur noch für die Touristen aufgestellt, während die Einheimischen ihre Zelte in der Hauptstadt aufschlagen. Ihren russischen Namen Ulan-Bator („Roter Held“) erhielt das vormalige Urga 1924 nach der Ausrufung der Mongolischen Volksrepublik, des zweiten sozialistischen Staats neben der Sowjetunion. Heute wird Ulan-Bator manchmal auch „UB“ genannt und dann wie ein englisches Kürzel ausgesprochen.

60 Prozent der Hauptstädter wohnen heute immer noch in Jurtenvierteln (ger choroolol), wobei die Zelte nach und nach durch kleine, selbst gebaute Häuser ersetzt werden. In einem dieser neuen Häuser lebt Bujambat.1 Er ist offensichtlich froh, nicht in einer Jurte leben zu müssen. „Es ist ganz schön mühsam, so eine Ger instandzuhalten. Für die Belüftung im Sommer muss man die mehrlagige Filzschicht komplett abnehmen. Und im Winter muss alles wieder gut abgedichtet werden. Als wir dieses Grundstück gekauft haben, stand das Haus schon drauf“, erzählt der 50-Jährige aus dem Shar-Had-Viertel im Südosten von Ulan-Bator. Hier lebt er mit seiner Frau, wenn er nicht im Bergwerk in der Wüste Gobi arbeitet. Sieben Monate im Jahr schuftet Bujambat in einer der Minen, die über das ganze Land verstreut sind, das viereinhalbmal so groß ist wie Deutschland. Derzeit erlebt die Mongolei einen regelrechten Bergbauboom. Immense Vorkommen an Kohle, Kupfer, Gold, Uran und möglicherweise auch Seltenen Erden locken Investoren an.

Die Jurtenviertel bilden eine Art Übergang zwischen Land und Stadt. In den neu entstehenden Siedlungen am Stadtrand, wo die Ankömmlinge vom Land leben, hört man noch Schafe blöken und Pferde wiehern. Die Innenhöfe wirken eher ungepflegt. Nur den Portalen widmet man wegen ihrer symbolischen Bedeutung als Schwelle zwischen außen und innen eine gewisse Aufmerksamkeit: Sie sind blau oder grün gestrichen und mit traditionellen Motiven verziert, ebenso wie die geschnitzten Seitenpfosten.

„Stets herumziehen, sich niemals niederlassen“ ist das Motto der Mongolen. In den neuen Vierteln wollen indes die wenigsten in die Steppe zurückkehren. Sie scheinen sich auch nicht sonderlich nach der unermesslichen Weite zu sehnen, von denen europäische Reisende schwärmen. Die meisten Mongolen, mit denen wir gesprochen haben, waren froh, das harte Nomadenleben endgültig hinter sich gelassen zu haben, das in ihren Augen überhaupt nichts Romantisches hat.

Zwischen 2000 und 2003 herrschten in der Mongolei extrem strenge Winter, sogenannte dsuds (Katastrophen). Es gibt verschiedene Dsuds: den weißen (zu viel Schnee, die Tiere verhungern), den schwarzen (zu wenig Schnee, die Tiere verdursten), den eisigen (Blitzeis) und den Sturm-Dsud. Insgesamt sind in diesen Jahren 11 Millionen Pferde, Rinder, Ziegen, Schafe und Kamele verhungert.

Der Verlust lebensnotwendigen Wissens

Viele Mongolen, vor allem diejenigen, die erst vor ein paar Jahren wieder zur Viehzucht zurückgekehrt waren, haben damals ihr Nomadenleben aufgegeben und sind zurück in die Stadt gezogen. „Aufgrund der sozialistischen Ansiedlungsprogramme wohnten ihre Familien bereits seit zwei oder drei Generationen in der Stadt“, erklärt Jacques Legrand, Professor am französischen Institut für östliche Sprachen und Zivilisationen (Inalco). „Nach dem Ende des Sozialismus zogen sie ab 1991 wieder aufs Land. Die Wirtschaft war praktisch auf einen Schlag zusammengebrochen, Fabriken wurden geschlossen und Handelskreisläufe verschwanden. Aber die Neu-Nomaden verfügten nicht mehr über das alte Wissen, das für ein Leben in der Steppe notwendig ist. Auch der Staat war nicht mehr in der Lage, sie zu unterstützen.“

Die nomadische Lebensweise erfordert in der Tat eine genaue Kenntnis der Natur in den vier Weidegründen, die im Laufe eines Jahres aufgesucht werden. Jeder Nomade sollte außerdem gut vernetzt sein, denn wenn das Gras knapp wird, muss er seine angestammtes Gebiet verlassen und mit anderen Hirten verhandeln.

Für die plötzliche und massive Landflucht gab es laut Legrand noch weitere Gründe: Zunächst hatte der Übergang zur Marktwirtschaft die Züchter dazu gezwungen, sich stets in der Nähe der Verkehrswege aufzuhalten. Nach dem Zusammenbruch des Agrarsektors zogen außerdem immer mehr Hirten dauerhaft in die Nähe von Städten. Und als auf den ohnehin schon immer intensiver genutzten Weiden auch noch ausländische, vor allem italienische Firmen, in großem Maßstab in die Kaschmirproduktion einstiegen, wurde die Ernährung der Tiere noch schwieriger, da Kaschmirziegen dazu neigen, beim Fressen das Gras mit der Wurzel auszureißen. „All diese Faktoren widersprechen grundsätzlich den Gepflogenheiten des nomadischen Hirtentums, wo jeder zwar seinen angestammten Platz hat, sich aber gleichzeitig in einem großen Umkreis bewegt, um seine Herde ernähren zu können. Diese Lebensweise macht es erforderlich, dass die Bevölkerung sehr weit übers Land verstreut lebt“, erklärt Legrand.

Es gab noch weitere Gründe für den relativ abrupten Wandel der mongolischen Gesellschaft. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die öffentliche Hand immer mehr zurückgezogen. Neben den massiven Kürzungen im Sozialbereich wurden viele Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen an private Einrichtungen delegiert. Betriebe wurden privatisiert und Ländereien verkauft. Auf einmal gab es Arbeitslose, und die Kluft zwischen Arm und Reich wurde immer größer.2

Auf der anderen Seite hat der Staat die Landflucht der Nomaden gefördert, indem er die am Stadtrand gelegenen Grundstücke kostenlos verteilte: Als eine Art Kompensation für seine Zustimmung, die mongolischen Zechen für ausländische Investoren zu öffnen, durfte das Parlament 2002 ein Gesetz verabschieden, das jeder Familie das Recht auf bis zu 700 Quadratmeter Land verleiht; seit 2008 gilt es auch für Einzelpersonen. Wer sich eher in Zentrumsnähe niederlassen möchte oder seine Jurte nicht in Überschwemmungs- oder Erdrutschgebieten errichten will, kann das chaschaa (Landstück) eines anderen kaufen. Solche Grundstücke werden für Preise zwischen 5 000 und 50 000 Euro3 gehandelt – eine beträchtliche Summe, wenn man bedenkt, dass das jährliche Durchschnittseinkommen bei 2 383 Euro liegt.

Das Landverteilungsgesetz von 2002 hat trotzdem nicht dazu geführt, die Kritiker ausländischer Bergbaubeteiligungen zum Schweigen zu bringen. Nach Kommunismus und jahrzehntelanger Gängelung durch Moskau pflegt die junge Demokratie einen starken Wirtschaftsnationalismus. Die Aufteilung des Rohstoffreichtums sorgt stets für hitzige Debatten und war eines der wichtigsten Wahlkampfthemen im Juni 2012. Am Ende bekam die Demokratische Partei (DP) zwar mehr Stimmen als die Mongolische Volkspartei (MVP), die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Einheitspartei. Doch weil sie keine absolute Mehrheit erringen konnte, musste die DP mit kleineren Parteien koalieren und die Frage der ausländischen Bergbaubeteiligungen wieder auf die Tagesordnung setzen.

Mit dem Flugzeug zur Arbeit

Die neue Regierung verspricht einerseits, die Rohstoffgewinne gerechter zu verteilen, und ist andererseits damit beschäftigt, Korruptionsskandale aufzudecken. So wurde der ehemalige Präsident Nambaryn Enchbajar (2005–2009) im August 2012 zu vier Jahren Haft verurteilt. Indes ist der Glaube an die freie Marktwirtschaft erschüttert. In die Angst vor dem Verlust alter Traditionen mischt sich die Sorge, man werde es auf Dauer nicht schaffen, die beiden mächtigen Nachbarn China und Russland in Schach zu halten. So setzt man auf Gelegenheitsbündnisse mit weit entfernten Mächten (siehe Text auf S. 17, rechts).

Bislang hatte unter allen Regierungen der Bergbau oberste Priorität. Es ging los in den 1960er Jahren, als die damalige kommunistische Führung beschloss, die Wirtschaft des Landes zu diversifizieren. Unterstützt von Moskauer Spezialisten, begann die Regierung die Ausbeutung der Bodenschätze zu fördern. Heute scheint die ganze Mongolei, abgesehen von den letzten Hirtennomaden, von einer Art Goldrausch erfasst zu sein.

Der Rohstoffboom könnte alles durcheinanderbringen: die politischen Verhältnisse, das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht und die regionale Entwicklung, die von den Bodenschätzen abhängt.4 „Mir ist natürlich auch klar, dass man nicht alles ablehnen kann“, sagt der Umweltaktivist Tsetsegee Munchbajar. „Aber unser Land hat jahrelang nur von den Erträgen der Kupfermine in Erdenet gelebt. Warum sollten wir unsere Bodenschätze nicht Schritt für Schritt abbauen statt in diesem Eiltempo? Das wäre die beste Lösung, um das Gleichgewicht, das wir aufgebaut haben, nicht zu zerstören.“

2010 verhängte die mongolische Regierung ein Moratorium für neue Schürf- und Abbaulizenzen – um die Umwelt zu schonen, wie es offiziell hieß. 3 000 bereits erteilte Genehmigungen wurden wieder rückgängig gemacht. Es ist jedoch nicht sicher, ob das Moratorium verlängert wird, und 4 000 Lizenzen bleiben weiterhin gültig. Ausländische Unternehmen sind vor allem gefragt, um die riesigen Lagerstätten in der Wüste Gobi auszubeuten, wie das Kupfer in Oyu Tolgoi („Türkishügel“) und die Kohle in Tavan Tolgoi. Der französische Nuklearkonzern Areva ist zuversichtlich, dass sich seine kostenintensive Uransuche bald ausgezahlt haben wird.

Die Regierung will das Land über den Bergbau in die Moderne führen und hofft, damit alle Probleme zu lösen. 15 Prozent der Bevölkerung leben laut Weltbank unterhalb der Armutsgrenze. Auf dem Papier hat der Aufschwung bereits begonnen: Die jährliche Wachstumsrate stieg von 6,4 Prozent (2010) auf 17,3 Prozent (2011). Im vergangenen Jahr ist sie zwar wieder gefallen, weil sie von den unsicheren Direktinvestitionen aus dem Ausland abhängig ist, aber sie lag immer noch bei 11,8 Prozent. Mit dem Förderbeginn in der Mine von Oyu Tolgoi, die der angloaustralische Bergbaugigant Rio Tinto betreibt, wird das Bruttoinlandsprodukt 2013 voraussichtlich um mehr als 30 Prozent steigen. Natürlich fragt sich jeder, in welchem Maße die mongolische Bevölkerung an diesem Reichtum beteiligt werden wird. Sogar die Regierung stellt manchmal diese Frage, aber „nur wenn sie in Schwierigkeiten ist. Dann setzt sie auf die nationalistische Karte, um sich einzuschmeicheln“, erklärt der mongolische Leiter einer ausländischen NGO.

Die mongolische Demokratie ist zentralistisch ausgerichtet. Das sei nicht immer so gewesen, schreibt die Ethnologin Gaëlle Lacaze. Zu Zeiten des Kommunismus sei Ulan-Bator noch nicht das Hauptziel der Binnenmigranten gewesen. Einen vergleichbaren urbanen Komfort hätten damals auch noch andere Städte geboten. Doch heute konzentrierten sich die wichtigsten Ämter, die Sozial-, Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen und die guten Kliniken alle in Ulan-Bator.5

Aber die Städte in den Bergbauregionen holen auf und verbessern ihre gesamte Infrastruktur, berichtet das mongolische Immobilienunternehmen M.A.D. Investment Solutions.6 Die meisten dieser aufstrebenden Städte liegen in der Zechenregion Gobi: In Dalandsadgad hat sich zum Beispiel die Einwohnerzahl innerhalb von zwei Jahren fast verdoppelt.

Doch die Rückkehr in die Provinz, wo Arbeitsplätze im Bergbau winken, schafft auch neue Probleme. Wegen des Schichtsystems können die Arbeiter zum Beispiel alle drei bis vier Wochen 15 Tage am Stück bei ihren Familien in Ulan-Bator verbringen. Die endlosen Strecken zwischen Zeche und zu Hause legen sie in firmeneigenen Flugzeugen zurück. Die Minen sind über das ganze Land verstreut, doch die meisten liegen im Süden in der Nähe der chinesischen Grenze (siehe Karte). Die regelmäßigen Reisen der Arbeiter durch die weitläufige Mongolei erfordern eine sehr komplexe und, auch im Hinblick auf die Umwelt, kostspielige Infrastruktur.

Gehen, kommen, wieder abreisen – das war schon immer der Lebensrhythmus der mongolischen Nomaden, die für ihren Pragmatismus bekannt sind. „Sie sind aus Prinzip flexibel, damit sie sich neuen Anforderungen anpassen können“, meint der Anthropologe Grégory Delaplace. „Jeden Tag entwerfen sie ihr Leben neu.“ Dafür gebe es sogar ein eigenes Verb: mongolchloh – mongolisieren. Und wer weiß – vielleicht wird man später die aktuelle Landflucht und neue Sesshaftigkeit der Nomaden als vorübergehendes Phänomen des jungen 21. Jahrhunderts bezeichnen.

Ein großer Teil Ulan-Bators sieht wie ein einziges großes Provisorium aus. Seit zehn Jahren gebe es „eine hybride Stadtentwicklung“, schreibt die Landschaftsarchitektin Léa Hommage7 , „geboren aus der Notwendigkeit, sich den ständig verändernden Gegebenheiten anzupassen“. Wenn man die Stadt von den Hügeln über dem Fluss Tuul aus betrachtet, erscheint sie wie ein Wimmelbild aus weißen Punkten (die Kuppeln der Jurten) und blauen, grünen und roten Rechtecken (die Made-in-China-Blechdächer der kleinen Häuser). Ob Jurten oder Häuser, alle stehen auf einem viereckigen Chaschaa-Grundstück, umgeben von hohen Palisaden aus Brettern und grob behauenen Nadelholzstämmen.

Nur im Zentrum feste Häuser

„Wir sind nicht reich. Unser einziger Besitz sind unsere beiden Jurten“, erzählt die Großmutter einer Familie, die gerade aus der Region Chöwsgöl im Norden angekommen ist. Drei ihrer Enkel haben in Ulan-Bator ein Studium begonnen. Deshalb sind sie hier, ein Hochschulabschluss ist in diesen unsicheren Zeiten auch ein wertvoller Besitz. Die Familie hat sich für ihre Jurten ein Chaschaa an einem steilen Abhang ausgesucht. Der Palisadenzaun wird gerade fertiggestellt. Schon bewacht ein Hund die Umfriedung und zerrt an seiner Kette. Um eine ebene Fläche für den Aufbau der Jurte zu schaffen, die etwa 16 Quadratmeter misst, hat man Autoreifen übereinandergelegt und mit Erde gefüllt, so dass eine Art Terrasse entstanden ist.

Die frühesten Farbfotografien der Jurtenviertel hat der Franzose Stéphane Passet in den Jahren 1912 und 1913 aufgenommen. Seine Reise wurde vom französischen Bankier und Pionier der Farbfotografie Albert Khan finanziert, als Teil des ethnologischen Foto- und Filmprojekt „Les Archives de la planète“ („Die Archive des Planeten“). Passet hat das von Palisaden umgebene Jurtenviertel Gandan fotografiert, das im frühen 18. Jahrhundert rund um das buddhistische Gandan-Kloster entstanden war und den Beginn der mongolischen Stadtgeschichte markiert. Bis heute leben hier vor allem die Familien der Mönche.

Ulan-Bators Vorläuferstadt Örgöö (Urga), die im 18. Jahrhundert noch Ich-Chüree („Großes Lager“) hieß, war eine nomadische Stadt, die bis 1778 regelmäßig ihren Standort wechselte. Selbst heute stehen nur im Stadtzentrum von Ulan-Bator feste Häuser: Massive Prachtbauten und hässliche Betonklötze aus der Zeit, als die Mongolei noch in der sowjetischen Umlaufbahn kreiste. Doch das Zentrum hat sich verändert. In die Erdgeschosse der „Stalinbauten“ zogen Anfang der 1990er Jahre verschiedene Geschäfte ein: Tante-Emma-Läden, Friseursalons mit Portalen aus „griechischen“ Säulen, kleine, muffige Cafés, Pubs und Boutiquen mit Klamotten made in China. An den Straßenmasten hängen bunte Schilder, an jeder Kreuzung stehen Kioske und tsagaan utas („weiße Telefone“), und in den angrenzenden Vierteln stapeln sich Container, die als Garage, Werkstatt oder Lagerraum dienen.

Vor ein paar Jahren wurden in Ulan-Bator die ersten hypermodernen Gebäude hochgezogen. Die Bauherren der Glaspaläste kommen aus der Oberschicht: Neureiche, die sich früher in den kommunistischen Regierungskreisen bewegt haben und dann zur rechten Zeit am richtigen Ort waren, um die vielversprechendsten Bergbaulizenzen8 oder die profitabelsten Betriebe zu ergattern.

Die Regierung möchte glauben oder glauben machen, dass die Jurtenviertel irgendwann verschwunden sein werden. „Diese Art des Städtebaus von Halbnomaden, die kurz davor sind, sesshaft zu werden oder sich zumindest eine Zeit lang in der Nähe des Wirtschaftszentrums ihres Landes niederlassen wollen, ist der Regierung eigentlich ein Dorn im Auge“, meint der Architekt Olivier Boucheron.9 Dabei seien die Wohnverhältnisse längst nicht so beengt wie in einem Slum oder einer Favela – im Gegenteil: „2000 lag die Bevölkerungsdichte in den Jurtenvierteln bei 32,2 Einwohnern pro Hektar gegenüber 55,6 in den geplanten Stadtvierteln. Außerdem gibt es hier keine prekären Besitzverhältnisse, weil den Anwohnern die Grundstücke gehören.“10 Dennoch werden die Jurtenviertel allgemein als Schandfleck empfunden.

Denn hier herrschen Armut, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung, Alkoholismus und Unsicherheit. Nachbarschaftliche Beziehungen sind eher selten. Es ist ein beschwerliches Leben. Der nächste Brunnen oder die nächste Wasserquelle liegen oft hunderte Meter entfernt. Auf den Straßen sieht man überall Kinder mit Handkarren, die sich jeden Tag auf den Weg machen müssen, um Wasser zu holen. Im Winter kann man kaum atmen, weil die Jurten mit Braunkohle beheizt werden – jede Familie verbraucht etwa fünf Tonnen im Jahr. Abgesehen von den improvisierten Läden gibt es keine Märkte oder Supermärkte im Viertel. Hier halten weder Busse noch gibt es eine geregelte Müllabfuhr. Die Abfälle werden einfach in Bäche und Schluchten geworfen. Viele Jurten stehen im Überschwemmungsgebiet, und an Fluchtwege scheint hier niemand gedacht zu haben.

Im städtebaulichen Masterplan 2020, der bereits unter den Vorgängerregierungen aufgestellt und seitdem immer wieder überarbeitet worden ist, scheint man sich mit dem Fortbestehen der Jurtenviertel abgefunden zu haben. „Diese Leute werden nicht mehr wegziehen. Deshalb haben wir in unserem fünften Entwurf drei verschiedene Bauzonen vorgesehen. Große Wohnblöcke im Zentrum, kleinere Wohnblöcke im ersten Ring um die Mitte und Einzelhäuser in den Außenbezirken“, erklärt der Leiter des Stadtplanungsamts, Churelbaatar. Das Projekt ist ein Wagnis, denn es tastet die heiß umkämpften Eigentumsrechte an und erfordert die Ausweitung des Enteignungsgesetzes: Als zum Beispiel einmal eine Brücke gebaut werden sollte, verzögerte sich der Baubeginn um sechs Jahre, weil ein Eigentümer sein Chaschaa nicht aufgeben wollte.

Viele Jurtenbewohner würden gern in ein richtiges Apartment umziehen, vorausgesetzt es ist nicht zu teuer und groß genug für ein bis zwei Familien, die normalerweise in einem Chaschaa zusammenleben. Die Landesregierung und die Stadtverwaltung setzen offensichtlich auf den Marktmechanismus, um die Neuankömmlinge zum Umzug zu bewegen – ein fragwürdiger Plan angesichts der Armut, die hier herrscht. Es könnte also gut sein, dass Ulan-Bator die Jurtenviertel noch lange erhalten bleiben.

Fußnoten: 1 Mongolen tragen traditionell keine Familiennamen. 2 Siehe Gaëlle Lacaze, „Le ‚Héros Rouge‘ est en crise: pollutions et post-socialisme a Ulaanbaatar, capitale de la Mongolie“, in: Revue des sciences sociales, Nr. 47, Paris 2012, S. 120–129. 3 „The Mongolian Real Estate Report“, MAD Investment Solutions, Ulan-Bator 2012. 4 Nach dem überlieferten Glauben der Nomaden darf man nicht in der Erde graben, um die Geister nicht zu stören. Vgl. „Mongolie: chamanisme et capitalisme“, in: Religioscope, 7. August 2012, www.religion.info. 5 Gaëlle Lacaze, siehe Anmerkung 2. 6 „The Mongolian Real Estate Report“, siehe Anmerkung 3, S. 120. 7 „Quand la steppe devient urbaine. Paysage de ville informelle à Ulaanbaatar“, nicht publizierte Abschlussarbeit im Studiengang Landschaftsarchitektur an der École nationale supérieure d’architecture et de paysage de Lille (ENSAPL), Juli 2010. 8 „Mongolia: Do Oligarchs See Politics as a Growth Opportunity?“, EurasiaNet, 27. September 2012, www.eurasianet.org. 9 Olivier Boucheron, „La ville de feutre“, in: Lieux communs, Nr. 12, Nantes, Oktober 2009. 10 Olivier Boucheron und Léa Hommage, „Etat(s) et devenir(s) du ger khoroolol à Ulaanbaatar“, Observatoire des Etats postsoviétiques, Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco), Paris, 25. Mai 2011. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Régis Genté ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Régis Genté