Afrikanische Aussichten
von Stephen Ellis
Vor zwölf Jahren erschien der Economist mit einer Titelseite, die eine Umrisskarte von Afrika zeigte, darin das Foto eines Kindersoldaten. Die Titelzeile lautete: „The Hopeless Continent“: Afrika als Kontinent der Armut und der endlosen Kriege – ein hoffnungsloser Fall.
In letzter Zeit hat sich dieses Image gewandelt. Heute tendiert die angloamerikanische Wirtschaftspresse bei der Einschätzung des „dunklen Kontinents“, wie ihn die Briten im 19. Jahrhundert zu nennen pflegten, zum entgegengesetzten Extrem. Der Economist, die Financial Times und andere Leitorgane der britisch-amerikanischen Wirtschaftseliten zeichnen Afrika mittlerweile als den Kontinent der großen Investitionschancen. 2010 erschien ein hoch gelobter Report des Wirtschaftberatungsunternehmens McKinsey unter dem Titel „Löwen auf dem Sprung“.1 Und die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young veröffentlichen seit 2011 einen jährlichen „Africa Attractiveness Survey“, der auf lohnende Kapitalanlagen hinweist.2
Die neue Hoffnung besteht für Leute, die gern in derartigen Kategorien denken, darin, dass Afrika endlich das Stadium der Unterentwicklung hinter sich lässt. Und tatsächlich hat sich der Kontinent in den letzten Jahren enorm entwickelt – allerdings auf eine Weise, die niemand vorausgesehen hatte.
Die Begeisterung der Unternehmensberater speist sich vor allem aus den Zahlen über das afrikanische Wirtschaftswachstum, zumal die reichsten Volkswirtschaften neuerdings nur langsam oder gar nicht wachsen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht für 2012 für ganz Afrika von einem Wachstum von 5 Prozent aus.3 Und 2015 dürfte Afrika mehr als viermal so viel produzieren wie im Jahr 2000. Die durchschnittliche Auslandsverschuldung der afrikanischen Länder ist inzwischen deutlich zurückgegangen: 2012 beliefen sie sich nur noch auf 22,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während es 2000 noch 63 Prozent waren.4 Im Vergleich mit Europa ist diese Verschuldungsquote in der Tat sehr niedrig.
Diese eindrucksvollen Zahlen belegen auch eine rasche Expansion der Verbrauchermärkte, die sich zum großen Teil schlicht aus dem Bevölkerungswachstum erklärt. Tatsächlich wächst die Bevölkerung Afrikas seit Mitte des 20. Jahrhunderts schneller als in jeder anderen Großregion während der gesamten Weltgeschichte. Zugleich sind die Verbrauchermärkte heutzutage dank allgemein verbesserter Kommunikation und speziell dank der Verbreitung des Mobiltelefons stärker integriert als je zuvor.
Eine weitere bedeutsame Veränderung der ökonomischen Lage ist bei den Staatsfinanzen zu verzeichnen. Einige afrikanische Staaten legen heute Staatsobligationen auf, wie wir es von entwickelten Ländern gewohnt sind. Vor 2012 hatten nur 13 von 54 afrikanischen Staaten internationale Bonds in Fremdwährung aufgelegt. Inzwischen sind Nigeria, Senegal und Sambia dazugekommen, und in naher Zukunft dürften auch Angola, Kenia, Ruanda, Tansania, Uganda und Mosambik ihre eigenen Papiere auf den internationalen Finanzmarkt bringen – zur Freude vieler Investoren, die nach neuen, hochprofitablen Märkten Ausschau halten.
Dazu ein Vergleich: Nigeria muss für seine Bonds heute weniger Zinsen zahlen als zum Beispiel Spanien.5 Kurzum, Afrika integriert sich immer stärker in die globalen Unternehmens- und Finanzmärkte und ist damit immer weniger auf Entwicklungshilfe angewiesen.
Bei der Interpretation solcher Zahlen stellt sich allerdings die Frage, was an ihnen wirklich Substanz hat und was nur Schaumschlägerei ist. Deshalb seien hier vorweg zwei Vorbehalte angemerkt: Erstens sind die Statistiken in Afrika allgemein wenig verlässlich, und das gilt für das Wirtschaftswachstum ebenso wie für andere Zahlen.6 Zweitens neigen die Akteure auf den Finanzmärkten notorisch zu übertriebener Begeisterung über neue Anlagechancen, die dann eine ganz eigene Dynamik – um nicht zu sagen: einen Herdeninstinkt – erzeugt.
Europäische und nordamerikanische Banker und Investoren haben angesichts ihrer von Schulden erdrosselten heimischen Märkte ein professionelles Interesse, die Profitaussichten in Afrika schönzureden, weil viele von ihnen den Kontinent für den letzten Zukunftsmarkt der Welt halten. Wir müssen uns also bewusst sein, dass sie womöglich eine neue Investitionsblase erzeugen, die wie alle Blasen eines Tages platzen wird.
Kenia zahlt weniger Zinsen als Spanien
Das Gefühl, dass Afrika im Wandel begriffen ist, trügt dennoch nicht. In den meisten Ländern hat sich die Infrastruktur deutlich verbessert, die Afrikaner haben neue Partner gefunden in Gestalt von China, Brasilien, Indien und anderen neuen Akteuren, und allein schon durch die inzwischen verstrichene Zeit lasten die Schatten der kolonialen Vergangenheit nicht mehr so schwer auf ihnen wie früher.
Die meisten Länder haben ihre Unabhängigkeit vor einem halben Jahrhundert erlangt, und da das Medianalter7 in Afrika unter 20 Jahren liegt (in Europa dagegen über 40 Jahren), haben die meisten Afrikaner keine persönliche Erinnerung mehr an die Kolonialzeit. Häufig sind sie sogar zu jung, um sich noch an die 1960er oder 1970er Jahre zu erinnern – an eine Zeit also, in der afrikanische Regime die europäischen abgelöst hatten, die Praktiken wie die Gewohnheiten und die Mentalität ihrer kolonialen Vorgänger fortsetzten und teilweise sogar noch krassere Formen politischer Alleinherrschaft pflegten, als die Kolonialherren je hatten durchsetzen können.8 Historisch betrachtet waren diese Jahrzehnte die eigentliche postkoloniale Periode, die ihren Abschluss erst in den 1990er Jahren fand – etwa gleichzeitig mit dem Zerfall des letzten großen europäischen Imperiums, der Sowjetunion.
Um zu begreifen, wie sich Afrikas Position in der Welt verändert hat, müssen wir nicht nur Afrika betrachten, sondern vor allem verstehen, was in der Welt insgesamt geschehen ist. Ein entscheidender Faktor ist der Aufstieg einer Reihe neuer Mächte, von denen China nur die bedeutendste ist. Noch wichtiger ist allerdings, dass der Westen nicht mehr als das große Vorbild gilt, als Resultat eines historischen Entwicklungsprozesses, den der Rest der Welt nachholen muss, um nicht abgehängt zu werden. Heute gibt es zahlreiche Länder, die sich ökonomisch erfolgreich entwickeln, ohne den europäischen Weg einzuschlagen, und die auch nicht die Absicht haben, dies jemals zu tun.
Besondere Schwierigkeiten, die neue Position Afrikas zu verstehen, haben die Europäer und die Nordamerikaner. Sie hegten über lange Zeit ihre ganz eigenen Illusionen, die großenteils bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, als europäische Intellektuelle Afrika als einen Kontinent betrachteten, der in einer früheren Phase der menschlichen Entwicklung stecken geblieben sei, weshalb er der Rettung durch die Europäer bedürfe – insbesondere vor dem Sklavenhandel. Mehr als zwei Jahrhunderte lang pflegten die Europäer – im Zeichen des Kolonialismus, eines naturwissenschaftlich begründeten Rassismus und einer angemaßten zivilisatorischen Mission –, Afrika als einen hilfsbedürftigen Kontinent zu sehen, wobei die Hilfe lediglich von außen kommen könne.
Das historische Konzept eines zivilisatorischen Auftrags der Europäer in Afrika ist der Vorläufer jener Auffassung von Entwicklungshilfe, der wir bis heute anhängen. In ihrer modernen Version entstand diese Entwicklungsidee nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge neuer Denkansätze und institutioneller Neuerungen. In dieser spätkolonialen Periode sollte eine großformatig praktizierte Entwicklungshilfe einen Kontinent voller gesunder, gut ausgebildeter Menschen hervorbringen, die auf dieselbe Art und Weise produzieren und konsumieren können sollten wie die Bewohner der reichen Welt. Und außerdem sollten in diesem Prozess Eliten herangezogen werden, die fähig wären, auf eine dem Nationalstaat angemessene Weise zu regieren. Dieses Konzept von Entwicklung muss sich nun ändern.
Wir sollten Afrika nicht mehr als einen Kontinent betrachten, der ständig Hilfe braucht, deren Zuschnitt sich durch unsere Technokraten und Sozialwissenschaftler bestimmen lässt. Afrika ist ein volles Mitglied der Weltgemeinschaft. Tatsache ist aber auch, dass sich in dieser Weltgemeinschaft die Machtverhältnisse wie die Verfahrensregeln sehr rasch und auf nicht vorhersehbare Weise verändern.
Jeder Besucher, der heute erstmals eine afrikanische Großstadt erlebt, wird über die vielen Shoppingmalls ebenso staunen wie über die endlosen Verkehrsstaus. Zwar sind die Quellen des Reichtums, aus denen sich das Konsumverhalten einer offensichtlich wohlhabenden Mittelklasse speist, nach wie vor mysteriös; aber ein Teil der Erklärung sind Einkommen aus Rohstoffexporten, Geldtransfers aus der afrikanischen Diaspora, die Rückkehr von gut ausgebildeten Leuten, die in der Diaspora gearbeitet haben, und die Konsumentenkredite, die eine neue Generation afrikanischer Banken gewährt.
Wohlstand einer neuen Mittelschicht
Tatsächlich hat in manchen Ländern die Verschuldung der neuen Mittelschicht bei den Banken in beunruhigendem Ausmaß zugenommen. In Kenia zum Beispiel ist das Kreditvolumen der privaten Haushalte 2011 gegenüber dem Vorjahr um 32,5 Prozent auf insgesamt 2 Milliarden Dollar angewachsen.9 An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass der Wohlstand der Mittelschicht, wie er in vielen afrikanischen Ländern sichtbar wird, mit einer höchst ungleichen Verteilung der Einkommen einhergeht. Diese „extremen Einkommensdisparitäten“, hat Kofi Annan angemerkt, „verlangsamen das Tempo der Armutsbekämpfung und behindern den Prozess eines in die Breite wirkenden Wirtschaftswachstums“.10
Dasselbe dürfte freilich für die meisten Regionen der Welt gelten, also auch für die USA und viele europäische Länder, aber ebenso für China und Indien. Die Bedenken, die Kofi Annan über das ungleiche Wachstum in Afrika äußert, sind zwar keineswegs fehl am Platze, gehen aber vielleicht an die falsche Adresse, weil sie eben nicht nur auf Afrika, sondern auf die Welt insgesamt zutreffen. Hier einige Beispiele, die unmittelbar klarmachen, wie untrennbar die Situation in Afrika mit den globalen Entwicklungen verknüpft ist. Da ist zunächst die Demografie: In Afrika leben derzeit eine Milliarde Menschen; 2050 werden es – bei gleichbleibendem Bevölkerungswachstum – zwei Milliarden sein, was dann nahezu ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen würde. Das bedeutet etwa im Fall Ugandas, dass die Einwohnerzahl, die von 1960 bis 2012 von 6,8 Millionen auf 35 Millionen angewachsen ist, bis 2060 auf knapp 113 Millionen steigen würde.11
Zweites Beispiel Beschäftigung: Für Afrika ist es ein großes Problem, den vielen jungen Leuten, die jedes Jahr ihre Ausbildung abschließen, auch Jobs bereitzustellen. Bekanntlich gingen die revolutionären Bewegungen der letzten beiden Jahre in Nordafrika von den zahllosen gut ausgebildeten, aber arbeitslosen Jugendlichen aus, die Zugang zu sozialen Medien haben. Zweifellos wird das stetige Bevölkerungswachstum in ganz Afrika einen politischen Druck aufbauen, der vor allem die Infrastruktur der riesigen neuen Städte, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, immer mehr überfordern dürfte.
Drittes Beispiel Klimawandel: Die Erwärmung unserer Erde ist zwar per definitionem ein globales Problem, sie bringt für die einzelnen Regionen aber jeweils ganz spezifische Probleme mit sich. So hat etwa eine neuere Studie ergeben, dass sich die Niederschläge, die den Sambesi und seine Zuflüsse im südlichen Afrika speisen, in den nächsten vierzig Jahren um 26 bis 40 Prozent verringern werden; zugleich werden die seltener werdenden Regenfälle extremer ausfallen, das heißt zu Überflutungen führen.12
Desgleichen müssen wir die globalen Zusammenhänge im Auge behalten, wenn wir uns die auffälligste Veränderung vergegenwärtigen, die Afrika seit dem Ende des Kalten Kriegs aufzuweisen hat: das Phänomen der sogenannten gescheiterten Staaten. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren von der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright in Umlauf gebracht. Inzwischen spricht man häufig auch von „fragilen“ Staaten, was im Grunde dasselbe meint. Ich selbst ziehe den Ausdruck „sogenannte gescheiterte Staaten“ vor, weil Staaten auch dann, wenn der bürokratische Apparat außerstande ist, die politische Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet auszuüben, nach wie vor bestimmten Interessen dienen. Selbst die meisten Länder mit „gescheiterten“ staatlichen Institutionen werden immer noch irgendwie regiert, wenn auch häufig durch informelle Hierarchien und mittels offiziell nicht vorgesehener Instrumente.
Das erklärt auch, warum sich selbst in „scheiternden“ oder „gescheiterten“ Staaten gigantische neue Städte wie Lagos oder Kinshasa entwickeln, in denen sich die kommerziellen und politischen Aktivitäten konzentrieren. Diese Metropolen zählen inzwischen zu den größten der Welt und haben mehr Einwohner als jede europäische Großstadt. Niemand weiß genau, wie viele Menschen in diesen afrikanischen Megastädten leben – was kaum überraschend ist, da es in diesen Gesellschaften keine eingespielten Bürokratien und damit auch keine Statistiken gibt.
Ohne genaue Statistiken aber sind Bürokraten kaum in der Lage, die uns vertrauten Management- und Planungsinstrumente anzuwenden. Üblicherweise gehen wir davon aus, dass Dinge wie Stadtplanung, die Anlage eines Abwassersystems oder der Aufbau eines Gesundheitswesens planvoller Bemühungen bedürfen, die von einer Regierung koordiniert werden müssen. In Afrika geht es häufig auch ohne eine solche zentrale Instanz. Hier wird zunehmend mit Methoden regiert, die aus der eigenen Geschichte stammen – zu der auch die Periode des Kolonialismus gehört – und nicht den Lehrbüchern über öffentliche Verwaltung entnommen sind. Und doch werden viele afrikanische Staaten ganz routinemäßig auf die Liste „scheiternder“ oder „gescheiterter“ Staaten gesetzt.
Dass es in Afrika relativ wenige Staaten gibt, deren Verwaltungsapparate effizient genug sind, um den wichtigsten nationalen Aufgaben gerecht zu werden, ist nicht nur für die Afrikaner selbst von Belang. Die Ressourcen des Kontinents werden für die Welt als Ganzes immer wichtiger. Das gilt etwa für die vielen Bodenschätze, einschließlich des Öls, auf die China für seine weitere Industrialisierung angewiesen ist. 30 Prozent der chinesischen Ölimporte kommen aus Afrika; schon heute ist Angola neben Saudi-Arabien und dem Iran für Peking der wichtigste Lieferant. In Afrika werden nicht weniger als 89 Prozent der globalen Platin- und 81 Prozent der Chrommengen gefördert; bei anderen Bodenschätzen sind es ebenfalls hohe Anteile.13 Vor allem aber verfügt Afrika über die vielleicht letzten Großreserven an erschließbaren Agrarflächen. Dieser Faktor ist bestimmt einer der wichtigsten, und er wird Afrikas Beziehungen zu anderen Teilen der Welt in den nächsten Jahrzehnten entscheidend bestimmen.
Entwicklungsmodell Landwirtschaft
Angesichts der Tatsache, dass Mitte dieses Jahrhunderts eine Weltbevölkerung von 9 Milliarden Menschen ernährt werden muss, gewinnt Afrika immense Bedeutung als potenzieller Produzent von Lebensmitteln. Deshalb investieren inzwischen ausländische Finanziers gewaltige Summen in landwirtschaftlich nutzbare Flächen in Afrika, auf denen Nahrungspflanzen oder auch Palmöl und Rohstoffe zur Gewinnung von Agrosprit erzeugt werden sollen.
Die Landwirtschaft wird so oder so die Zukunft Afrikas bestimmen. Das klassische ökonomische Entwicklungsmodell, an dem sich Europa, Japan, die USA und China stets orientiert haben, ging einher mit einer massenhaften Migration vom Land in die Städte. Dort wurden die Neuankömmlinge zu Arbeitskräften in den Fabriken, dem Motor der Industrialisierung. Es kann durchaus sein, dass in Teilen Afrikas dasselbe passiert, wenn asiatische und andere Investoren neue Fabriken bauen, um die billige Arbeitskraft auszunutzen.
Allerdings gibt es auch Gründe für die Annahme, dass Afrika nicht diesem Muster der Entwicklung folgen wird. John Page, der bis 2008 als Chefökonom für Afrika bei der Weltbank arbeitete, stellt bei dem aktuellen afrikanischen Wirtschaftswachstum keine Anzeichen von strukturellen Veränderungen fest. Der Wachstumsschub der Jahre 1995 bis 2005 resultierte – wie auch die Erholung von der globalen Krise von 2008/2009 – vor allem aus der Entdeckung neuer Bodenschätze, aus steigenden Rohstoffpreisen und aus dem Aufschwung der heimischen Nachfrage. Page zweifelt daran, dass in Afrika ein ausreichendes Wachstum ohne strukturelle Veränderungen derart verstetigt werden kann, dass die Durchschnittseinkommen bis 2025 ein annähernd mittleres Niveau erreichen.14 Und er ist umso skeptischer, als sich historisch in nur wenigen afrikanischen Ländern ein Typ von Staat herausgebildet hat, der in der Lage ist, eine für Fabrikarbeit notwendige gesellschaftliche Disziplin durchzusetzen und solche sicheren Bedingungen zu gewährleisten, wie sie ein potenzieller Investor vorfinden will.
Andererseits müssen wir uns angesichts der jüngsten Geschichte fragen, wie heutzutage die Voraussetzungen für kapitalistisches Wachstum generell aussehen. Zum Beispiel hat sich China zur weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft unter einem Einparteienregime entwickelt, das ohne einen Rechtsstaat auskommt, dafür aber reichlich Korruption kennt. In Afrika leben heute bereits eine Million Auslandschinesen, darunter viele Geschäftsleute, die offenbar mit genau denselben Methoden erfolgreich sind, wie sie ihnen aus China vertraut sind.
Dabei ist die Frage offen, ob chinesische Anleger und Unternehmer in größere industrielle Produktionsstätten investieren werden, obwohl sie in Afrika nach verbreiteter Meinung keine geeigneten Geschäftsbedingungen vorfinden. Ein mögliches Szenario geht davon aus, dass die Chinesen die afrikanischen Gefilde nutzen „wie eine Ziegenherde“. So sieht es jedenfalls der altgediente südafrikanische Journalist Stanley Uys: „Sie bleiben so lange im Land, wie es dauert, um die Bodenschätze herauszuholen, die sie haben wollen, und am Ende hinterlassen sie uns nur Dornengestrüpp, Steine und Sand.“15
Eine erfreulichere Aussicht wäre folgende: Afrika wird sein landwirtschaftliches Potenzial so sinnvoll nutzen, dass dabei Jobs für die Millionen Menschen entstehen, die in den kommenden Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen. Und das könnte auf zweierlei Weise geschehen: Entweder durch die Entwicklung einer intensiven Produktion auf kleinen Flächen, was den bestehenden landwirtschaftlichen Sektor revolutionieren würde. Oder aber durch Investitionen in Plantagen und große Agribusiness-Projekte. Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidung, in welche Richtung es gehen wird, durch die jeweilige Politik der afrikanischen Staatsregierungen bestimmt wird.
Damit sind wir wieder bei der widersprüchlichen Realität angelangt, die darin besteht, dass einerseits offenbar nur wenige afrikanische Staaten effiziente Verwaltungsapparate hervorbringen, die in der Lage wären, eine solche nationale Politik zu formulieren und umzusetzen – und dass zugleich, andererseits, auf demselben Kontinent dynamische Volkswirtschaften und riesige Metropolen entstanden sind, die als Umschlagplätze wirtschaftlicher und politischer Macht funktionieren. Das Afrika der Zukunft könnte also folgendes Bild bieten: Einige wenige relativ mächtige Staaten vermögen sich über die internationalen Kapitalmärkte selbst zu finanzieren und damit Einfluss über Nachbarstaaten zu gewinnen, die diese Möglichkeit nicht haben. Die Folge wäre die Aufteilung des Kontinents in mehrere Zentren und die entsprechenden Peripherien.
Selbst wenn es gelingen sollte, die relativ hohen Wachstumsraten für ganz Afrika über einen längeren Zeitraum zu stabilisieren, wird es nicht automatisch mehr als eine Handvoll Länder geben, die sich nach dem ökonomischen und politischen Modell entwickeln, das mindestens zwei Generationen lang als nachahmenswertes Vorbild gegolten hat. Die seit 1945 vorherrschende Vorstellung von Entwicklung, die noch bis vor Kurzem Gültigkeit hatte, erwuchs aus dem spezifischen politischen Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit. Damals erlebte die Welt den längsten Wirtschaftsaufschwung der Geschichte, den Kalten Krieg, die Auflösung der großen europäischen Reiche – und die beharrliche Missachtung der Tatsache, dass die globalen Ressourcen sowohl endlich als auch ziemlich ungesichert sind. All das hat sich inzwischen geändert.