Syrische Karambolagen
von Alain Gresh
Die CIA und das britische MI 5 einigten sich auf ein Konzept: „Um die Befreiungskräfte zu unterstützen, militärische Gegenmaßnahmen des syrischen Regimes einzuschränken und möglichst schnell unsere Ziele zu erreichen, müssen wir besondere Maßnahmen ergreifen – insbesondere die Ausschaltung einiger Schlüsselfiguren. Diese Aufgabe muss vor Beginn des Aufstands und der Intervention erledigt sein.“
Um ihr Ziel zu erreichen, wollten die britischen Geheimdienstler und ihre US-amerikanischen Kollegen alle „psychologischen und praktischen Handlungsmöglichkeiten nutzen, um die Spannungen zu verschärfen“. Vor allem müsse „glaubhaft gemacht werden, dass Damaskus für Verschwörungen und Sabotageakte in den Nachbarstaaten verantwortlich ist“. Um das Regime zu stürzen, sollte ein Komitee zur Befreiung Syriens finanziert werden, zudem war die Bewaffnung der paramilitärischen Organisationen verschiedener politischer Gruppierungen geplant.
So war es gedacht – im Herbst 1957. Das zitierte Dokument wurde damals von US-Präsident Dwight D. Eisenhower und dem britischen Premierminister Harold Macmillan abgezeichnet.1 Es war die Zeit, da man den Nahen Osten einzig und allein als Schauplatz des Ost-West-Konflikts sah. In Washington und London galt das – nationalistische, aber durchaus liberal und demokratisch gesinnte – syrische Regime schlicht als „sowjetischer Vorposten“. Wenige Monate später, im Januar 1958, überzeugte die Führung der syrischen Baath-Partei den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser von dem Plan, beide Staaten zu vereinigen. In der Folge erwiesen sich die Beziehungen zwischen der neuen „Vereinigten Arabischen Republik“ und Moskau als zunehmend problematisch. Das war der Grund, warum der Westen seine Umsturzpläne aufgab.
In Washington pflegt man noch immer eine einfache Sicht der Dinge. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, erklärt Präsident Bush. Nun gibt es kein Zögern und keine Bedenken mehr, das syrische Regime in die Knie zu zwingen.
Obwohl die Führung in Damaskus nach dem 11. September 2001 mit der CIA zusammengearbeitet hat, um die Verbindungen von al-Qaida aufzuspüren, ist Syrien inzwischen eindeutig ins Visier der US-Regierung geraten.2 Unter Berufung auf ungenannte Quellen erklärte die New York Times im Juli 2003, das syrische Baath-Regime verfüge über Massenvernichtungswaffen.3 Am 11. November 2003 verabschiedete der US-Kongress den Syria Accountability Act – ein Gesetz, das dem Präsidenten freie Hand für Sanktionen gegen Syrien gab. Von dieser Ermächtigung machte Präsident Bush am 11. Mai 2004 Gebrauch, als er mit der Begründung, Syrien diene als Hinterland für den anhaltenden Widerstand im Irak, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen gegen das Regime in Damaskus verhängte.
Zu seiner Überraschung schlug wenig später Frankreichs Präsident Jacques Chirac vor,4 im UNO-Sicherheitsrat per Resolution den Rückzug Syriens aus dem Libanon zu fordern. Nach der Entscheidung Syriens, eine Verlängerung des Mandats von Präsident Emile Lahoud um drei Jahre durchzusetzen, gab es einen willkommenen Anlass, die Resolution zur Abstimmung zu bringen. Die am 2. September 2004 verabschiedete Resolution 1559 forderte die Entwaffnung aller Milizen und implizit den Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon.
Die Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri am 14. Februar 2005 beschleunigte die Erfüllung dieser Forderung. Seither hat das Baath-Regime die Befunde einer UN-Sonderkommission zu fürchten, die unter Leitung des deutschen Richters Detlev Mehlis den Fall Hariri untersucht. In Washington war man begeistert vom neuen Zusammenhalt der „internationalen Gemeinschaft“ in einer Frage, in der man Frankreich die Initiative überlassen hatte. Der erste Zwischenbericht der Mehlis-Kommission mündete im Oktober in eine neue Warnung an Syrien: Der UN-Sicherheitsrat forderte Damaskus auf, die Ermittlungen der Kommission uneingeschränkt zu unterstützen. Aber der Sicherheitsrat setzte eine Frist für die Kooperationsbereitschaft: Nach dem 15. Dezember sollen Maßnahmen gegen das syrische Regime ergriffen und die für den Mord an Hariri mutmaßlich Verantwortlich vor ein internationales Tribunal gestellt werden können.
Erstaunlich dabei ist, dass ausgerechnet Washington die internationale Gerichtsbarkeit bemühen will. Denn es sind ja gerade die USA, die den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ablehnen und Dutzende von Staaten zu bilateralen Verträgen gedrängt haben, die US-Staatsbürger vor der Verfolgung durch den IStGH schützen sollen.5
Vorverurteilung durch die Medien
Aber bekanntlich sind auch UN-Kommissionen nicht über jede Einflussnahme erhaben. Richard Butler, der vom 1. Juli 1997 bis zum 30. Juni 1999 das UN-Waffeninspektionsteam im Irak (Unscom) leitete, lieferte in seinen Berichten die von Washington gewünschten Falschinformationen, die zur Rechtfertigung der amerikanisch-britischen Luftangriffe auf den Irak im Dezember 1998 dienten.6
Was Detlev Mehlis bislang vorgelegt hat, ist mehr als ein Zwischenbericht. Der Ermittler zeigt sich zwar überzeugt, dass die Ermordung Hariris nicht ohne Mitwisserschaft hoher syrischer und libanesischer Funktionäre möglich war, aber er gibt auch zu bedenken: „Solange diese Untersuchung nicht abgeschlossen ist […], sind wir nicht vollständig in Kenntnis darüber, was geschehen ist, wie es geschehen ist und wer die Verantwortung für die Ermordung Rafik Hariris und fünfzehn unschuldiger Menschen trägt. So lange muss die Unschuldsvermutung gelten.“
Die Medien zeigten weniger Zurückhaltung, nachdem erst einmal eine erste Fassung des Berichts „versehentlich“ publik geworden war, in der Maher al-Assad, der Bruder des syrischen Präsidenten, und Assef Shawkat, der Chef der Militärgeheimdienste und Schwager des Präsidenten, als Hintermänner genannt wurden. Zwar fehlte dann diese Passage in der offiziellen Fassung des Berichts, aber die Medien ließen es sich nicht nehmen, die Identifizierung der Schuldigen zu vermelden.
Der Mehlis-Bericht stützt sich in weiten Teilen auf die Aussagen von zwei Zeugen, denen mit Vorsicht zu begegnen ist. Der eine („syrischer Herkunft, im Libanon wohnhaft, nach eigenen Angaben dort für den syrischen Geheimdienst tätig gewesen“) gab an, „dass hohe syrische und libanesische Regierungsvertreter zwei Wochen nach der UN-Resolution 1559 die Ermordung Rafik Hariris beschlossen“ hätten. Dieser Zeuge, der angeblich über „enge Kontakte zu hohen syrischen Funktionären im Libanon“ verfügte, berichtete von Treffen syrischer und libanesischer Vertreter, die u. a. im Hotel Méridien in Damaskus stattgefunden hätten und bei denen der Anschlag geplant worden sei. Woher hat ein Geheimdienstmitarbeiter, der nach eigenem Bekunden eine untergeordnete Position innehatte, solche Informationen? Und ist es plausibel, dass die Planung eines Anschlags ausgerechnet in einem Luxushotel in Damaskus erörtert wird?
Der andere Zeuge, dessen Einlassungen in der ersten Fassung des Berichts als belastend für hochrangige Vertreter des Regimes eingestuft wurden, ist ein gewisser Zouheir Ibn Mohammed Said Saddik. In Absatz 114 des Berichts hält Mehlis fest: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Untersuchung können einige der von Saddik gelieferten Informationen nicht als beweiskräftig gelten.“ Weshalb werden sie dann aber dennoch angeführt? Nach Berichten des Spiegels soll Saddik, der im Oktober verhaftet wurde, seine Aussagen mehrfach revidiert haben. Überdies sei er wegen Betrug und Unterschlagung verurteilt worden. Nach anderen Quellen soll Saddik von Rifaat al-Assad bezahlt worden sein. Der Bruder des verstorbenen Präsidenten Hafis al-Assad, der im französischen Exil lebt, macht kein Geheimnis daraus, dass er in Damaskus die Macht übernehmen will.7
Auf weitere Ungenauigkeiten im Mehlis-Report wurden in zahlreichen kritischen Kommentaren hingewiesen.8 Aber der Bericht enthält auch ernst zu nehmende Verdächtigungen, die Damaskus in Verlegenheit bringen dürften. „Syrien sollte aufhören, den Report als rein politisch motiviert abzutun“, meint der unabhängige syrische Journalist Sami Mouajed, obwohl solche Motive zweifelsfrei existieren: „Alle Welt weiß doch, dass bestimmte Kreise im Westen Syrien ins Visier genommen haben und das Land schwächen wollen – ganz unabhängig von der Schuldfrage. Hier geht es darum, Syrien für seine Übergriffe auf den Libanon zu bestrafen, für seine Ablehnung des Kriegs der USA im Irak und für seine Unterstützung des Aufstands und des Widerstands der Palästinenser.“9 Deshalb habe man, meint Sami Mouayed, keine andere Wahl, als zu kooperieren.
Assad in Gaddafis Fußstapfen
Angesichts der Bedrohung wird in Syrien zwar die nationale Einheit beschworen, doch das Regime ist geschwächt. Das liegt an seinem autoritären Charakter, aber auch an seinem Nepotismus (alle wichtigen Positionen sind von Mitgliedern der Familie des Präsidenten besetzt) und an der Korruption. Dieses Regime ist unfähig, den Hoffnungen der Bevölkerung gerecht zu werden oder gar einen Dialog mit der Opposition zu beginnen. Deren Symbolfigur ist Riad Turk, Führer der Kommunistischen Partei, der achtzehn Jahre in den Gefängnissen des Regimes verbracht hat, der sich aber ebenfalls offen gegen die Pläne der USA wendet.
Viel Spielraum bleibt dem Regime nicht mehr, zumal es nichts unternimmt, um in Mordfall Hariri andere Spuren zu präsentieren. Einige arabische Kommentatoren spekulieren inzwischen aber bereits auf eine „libysche Lösung“: Nachdem Libyen alle Streitfragen um das Attentat auf Pan-Am-Flug 103 über Lockerbie und den Anschlag auf ein französisches Flugzeug in Niger geklärt10 und im Dezember 2003 die Produktion von Massenvernichtungswaffen offiziell aufgegeben hatte, ließ die Normalisierung der Beziehungen zwischen Oberst Gaddafi und dem Westen nicht lange auf sich warten. Seitdem geben sich die europäischen Staatsführer in Tripolis die Klinke in die Hand, von Menschenrechtsverletzungen war nicht mehr die Rede.
Allerdings scheint es zweifelhaft, ob die syrische Führung über ihren Schatten springen und ihre Unterstützung für die Sache der Palästinenser, ihre Ablehnung der israelischen Vormachtstellung in der Region und ihre Verurteilung des US-Besatzungsregimes im Irak aufgeben kann, nur um in Washington gut Wetter zu machen. Das Baath-Regime liefe Gefahr, seine Legitimität zu untergraben. Und außerdem ist man in Damaskus ohnehin überzeugt, dass jedes Zugeständnis nur neue Forderungen nach sich ziehen würde.
Wie sehr das Regime in der Klemme steckt, machte die Rede von Baschar al-Assad am 10. November deutlich.11 Der Präsident will dem Druck nicht nachgeben, signalisierte aber Kompromissbereitschaft gegenüber den Hauptforderungen des Westens. Er wolle weiter Palästinenserpräsident Abbas unterstützen und sprach sich für einen gerechten Frieden in der Palästinafrage aus. Andererseits verurteilte er die Anschläge auf die Zivilbevölkerung im Irak und erklärte die Bereitschaft Syriens, bei der Sicherung der irakisch-syrischen Grenze mit den USA zusammenzuarbeiten. Wobei er sich den Seitenhieb erlaubte, die USA seien auch nicht in der Lage, ihre Grenze zu Mexiko zu sichern.
Gegen den neuen libanesischen Ministerpräsidenten Fuad Siniora erhob Assad ebenso heftige wie unberechtigte Vorwürfe, die im Libanon große Empörung auslösten. Doch zugleich versicherte er, mit der Mehlis-Kommission zusammenarbeiten zu wollen. Damit stellt sich aber die Frage, warum Syrien der Kommission nicht gestatten will, bestimmte syrische Funktionäre im Libanon zu befragen. Die Erklärung liegt in der neuesten UN-Sicherheitsrats-Resolution (1636) vom 31. Oktober 2005, aus der sich grundsätzliche Probleme für die syrische Souveränität ergeben. Joseph Samaha, Chefredakteur der libanesischen Tageszeitung Al-Safir, beschreibt es so: „Diese Resolution schafft eine ‚parallele Macht‘ in Syrien. Sie räumt der Mehlis-Kommission eine Autorität ein, die über der des Staates steht. […] Erstmals verleiht ein ‚internationales Gesetz‘ einer nicht gewählten Körperschaft derartige Rechte.“12 Kein unabhängiger Staat, so Joseph Samaha, könne es hinnehmen, dass einer Person Befugnisse zustehen sollen, „die nicht einmal ein Militärgouverneur unter dem Notstandsgesetz besitzt“.
Wird sich die Krise also weiter zuspitzen? Sanktionen gegen Syrien würden – wie schon im Irak – vor allem die Bevölkerung treffen. Und die Blockade der syrischen Grenzen würde Probleme vor allem für die Nachbarländer schaffen, in erster Linie für den Libanon. Der Sturz des Regimes in Damaskus schließlich würde zwangsläufig das Chaos in der Region ausweiten, das bereits durch die militärische Intervention der USA im Irak entstanden ist.
In der Washington Post war Anfang November zu lesen: „Aus internen Unterlagen geht hervor, dass die Planungen des Pentagons auch grenzüberschreitende Operationen einschließen, um die syrisch-irakische Grenze zu schließen und die Stützpunkte des irakischen Widerstands in Syrien zu zerstören, außerdem Vernichtungsschläge gegen Anlagen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, in denen chemische und biologische Waffen entwickelt werden können, und weiterhin Angriffe auf das syrische Regime unter Präsident Baschar al-Assad.“13