Wo Schaden nicht klug macht
von Laurent Bonelli
Viele Beobachter glaubten in den Vorstadtkrawallen Vorboten für den Zusammenbruch unserer Gesellschaft zu erkennen. Man beklagte das Ende des „französischen Modells“ und diagnostizierte „die Entstehung einer Parallelgesellschaft jenseits der Gesetze der Republik“. Diese allgemeinen Phrasen sind jedoch eher Ausdruck einer politisch-gesellschaftlichen Interessenlage denn ernst zu nehmende Analyse eines kollektiven Handelns.
Schon Mitte der Siebzigerjahre begann sich eine Krisensituation anzubahnen. Automatisierung, Digitalisierung und Standortverlagerungen führten zu Massenarbeitslosigkeit und vermehrter Teilzeit- und Zeitarbeit. Nach einer Phase wirtschaftlichen Wachstums in einem starken Sozialstaat, in der sich gerade die Lebensverhältnisse der Unterschichten deutlich gebessert hatten, nahm die Zahl ärmer werdender Haushalte wieder zu.1
Große Sorgen bereitet heute vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. In den Stadtteilen, die Ende Oktober in die Schlagzeilen geraten waren, ist die Arbeitslosigkeit unter den 15- bis 24-Jährigen nach Angaben von Insee (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien) erheblich gestiegen: Sie beträgt 41,1 Prozent im Stadtteil Grande Borne in Grigny (der Gemeindedurchschnitt liegt bei 27,1 Prozent), 54,4 Prozent in den Toulouser Bezirken Reynerie und Bellefontaine (Gemeindedurchschnitt: 28,6 Prozent), 31,7 Prozent in Ousse-de-Bois (Gemeindedurchschnitt: 17 Prozent), 37,1 Prozent in Clichy-sous-Bois/Montfermeil (Gemeindedurchschnitt: 31,1 Prozent), 42,1 Prozent in Bellevue in Nantes (Gemeindedurchschnitt: 28,6 Prozent).
Die instabile Beschäftigungslage hat aber nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen, sie macht die betroffenen Jugendlichen auch orientierungslos. Wer schon vor dem eigentlichen Start ins Berufsleben erlebt, wie ungewiss die ökonomische Zukunft ist, der kann keine langfristigen Pläne schmieden und gibt früh die Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Der Anteil der Jugendlichen, die ohne Abschluss von der Schule gehen, liegt in den genannten Stadtteilen bei 30 bis 40 Prozent, im Landesdurchschnitt bei 17,7 Prozent.
Außerdem führte die Stadtplanung in den Randbezirken dazu, dass sich hier in den letzten zwanzig Jahren vor allem kinderreiche und kulturell entwurzelte Familien ansiedelten, ohne dass es zu einer sozialen Durchmischung kam.2
In polizeistrategischen Überlegungen wurden gesellschaftliche Probleme auf die Sicherheitsfrage reduziert. Seit Beginn der Neunzigerjahre betraute man die Polizei primär mit Intervention und weniger mit Aufgaben, die eine „bürgernahe Polizei“ wahrnehmen würde. Bezeichnend für diese Entwicklung war die Aufstellung der „Brigaden zur Verbrechensbekämpfung“ (BAC), die manche Polizisten als Militarisierung ihres Berufs kritisieren.
Mehr Festnahmen als Ermittlungen
Die hochgerüsteten Einheiten setzen Gummigeschosse und neuerdings auch die nichttödliche Elektroschockwaffe Taser ein. In einem politischen Umfeld, das sich die „Rückeroberung der Stadtviertel“ auf die Fahne schreibt, reduzieren sich die meisten BAC-Aktionen auf Strafverfolgung – Anzeigen wegen „Beleidigung“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ – und Kontrollen, ohne dass diesen eine Ordnungswidrigkeit vorangegangen wäre. So etwas verschärft natürlich die Spannungen.
Dass mehr interveniert als ermittelt wird, belegen die Polizeistatistiken. Während sich die Zahl der erfassten Straftaten zwischen 1974 und 2004 verdoppelt hat, ist die Zahl der vorübergehenden Festnahmen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz auf das 39fache, die der Festnahmen wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz3 auf das 8,5fache gestiegen. Die Aufklärungsquote hingegen sank im selben Zeitraum von 43,3 auf 31,8 Prozent. Was ja nichts anderes heißt, als dass sich die Ordnungskräfte auf Kleindelikte konzentrieren, die sie nur deshalb erfassen, weil sie auf den Straßen verstärkte Präsenz zeigen und bestimmte Gruppen intensiver kontrollieren.4 Es ist also kein Wunder, dass sich das Verhältnis zwischen den Ordnungskräften und ihrer „Kundschaft“ zusehends verschlechtert und zu dem führt, was man allgemein als „städtische Gewalt“ bezeichnet.
In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Ereignisse in Clichy-sous-Bois nicht von anderen tragischen Präzedenzfällen. Aber dass sie so auf weitere Städte ausstrahlen konnten, bedarf der Erklärung. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Krawalle im Zuge ihrer Ausweitung ihren Charakter veränderten. Der stellvertretende Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Alliance, Jean-Claude Delage, erklärt: „Am Anfang hatten sie die Polizei im Visier. Heute bilden diese Leute eher Kleingruppen und machen ein bisschen Stadtguerilla, ohne die Ordnungskräfte frontal anzugreifen.“5
Auch die Aktionsformen sind andere, etwa das Abfackeln von Autos. Gerade Letzteres ist freilich keine Erfindung dieses Herbstes. Allein im Jahr 2003 gingen 21 500 Autos in Flammen auf (60 pro Nacht). In manchen Stadtteilen sind brennende Autos inzwischen nichts Besonderes mehr. Mit wenig Aufwand lässt sich eine große Wirkung erzielen, weshalb sich das Anzünden von Autos und erst recht von Mülltonnen allmählich zu einer ganz normalen Form des Protests entwickelt.
In den Medien, zumal im Fernsehen, fanden die Krawalle große Resonanz. Nicht dass die Berichterstattung zur Nachahmung animiert hätte, aber sie trug zur Vereinheitlichung der gewaltsamen Aktionen bei und schuf die Fiktion einer nationalen Bewegung. Sarkozys öffentliche Äußerungen konnten die Unruhen nur anheizen. Der Innenminister wurde zum Kristallisationspunkt vieler Demütigungserfahrungen und Rachebedürfnisse. Sarkozy kalkulierte mit dem politischen Nutzen, den er aus seiner Unnachgiebigkeit würde ziehen können. Er war überzeugt, den Widerstand gegen seine Law-and-Order-Politik zerschlagen zu können. Das Kalkül mag kurzfristig aufgehen, führte aber zu einer Intensivierung der Gewalt und wird im kollektiven Gedächtnis der Franzosen unauslöschliche Spuren hinterlassen.