09.12.2005

Lob des Romans oder Die Rettung der Wahrheit durch die Lüge

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Lob des Romans oder Die Rettung der Wahrheit durch die Lüge

von Carlos Fuentes

Unlängst wandte sich die Norwegische Akademie an hundert Schriftsteller aus aller Welt mit der einzigen Frage: Welchen Roman halten Sie für den besten, der je geschrieben wurde?

Von den hundert Befragten antworteten fünfzig: „Don Quijote de la Mancha“ von Miguel de Cervantes Saavedra. Geradezu ein Erdrutschsieg in Anbetracht der Folgenden: Dostojewski, Faulkner und García Márquez, in dieser Reihenfolge.

Dieses Ergebnis wirft die interessante Frage Longseller kontra Bestseller auf: Warum verkauft sich ein Bestseller, warum hält sich ein Longseller? Es gibt natürlich keine Antwort, die in allen Fällen zutrifft.

„Don Quijote“ war bei seinem Erscheinen 1605 ein Bestseller und verkaufte sich seitdem stetig, während William Faulkner entschieden schlecht ging, vergleicht man den dürftigen Verkauf von „Absalom, Absalom!“ 1936 mit dem wirklichen Renner des Jahres, Hervey Allens „Antonio Adverso“ – einer napoleonischen Saga von Liebe, Krieg und Geschäft. Was bedeutet, dass es für diese Dingen kein gültiges Thermometer gibt – nur die Zeit wird es weisen: Kommt Zeit, kommt Absatz.

Einige Schriftsteller erlangen große Beliebtheit und verschwinden dann für immer. Die Bestsellerlisten der letzten fünfzig Jahre sind, mit ein paar lebenden Ausnahmen, ein düsterer Friedhof toter Bücher. Doch Dauerhaftigkeit ist kein absichtliches Unternehmen. Niemand kann ein Buch mit dem Anspruch auf Unsterblichkeit schreiben, ohne Spott und sichere Sterblichkeit zu ernten.

Plato rückt Unsterblichkeit in die richtige Perspektive, indem er behauptet, dass Ewigkeit, wenn sie sich bewegt, zur Zeitlichkeit wird und Ewigkeit stillstehende Zeit ist. Und William Blake bringt die Dinge auf die Erde herab: „Die Ewigkeit ist verliebt in die Geschöpfe der Zeit.“

Wir könnten bei allen bisher erwähnten Schriftstellern ergiebige Exkurse unternehmen über ihre Beziehung zu den Zeiten, in denen sie lebten. Wie faszinierend das auch sein kann und sein sollte – ich frage mich doch, wie viel es uns über die von ihnen geschriebenen Bücher erzählt, über die Imagination, die sie zum Schreiben bewegte, über ihren Gebrauch der Sprache, ihr kritisches Herangehen an die Kunst der Literatur, ihr Bewusstsein, einer größeren Tradition anzugehören, auf die sich Milan Kundera in seinem Buch „Der Vorhang“ beruft: die Tatsache, dass ein Romancier, mehr als seinem Land oder gar seiner Muttersprache, einer Tradition angehört, in der Rabelais, Cervantes, Sterne und Diderot Teil derselben Familie sind, die im Haus der Weltliteratur lebt; und diese fördert auch ein jeder Schriftsteller, wie Goethe meint, unabhängig von der jeweiligen Nationalliteratur, die ohnehin immer weniger Bedeutung habe.

Wenn dies stimmt, dann umfassen alle großen Werke der Literatur sowohl das Element der Tradition, der sie entstammen und zu der sie beitragen, als auch das Element der Neuschöpfung, die ebenso auf der vorangegangenen Tradition beruht, wie die Tradition ihrerseits darauf angewiesen ist, sich von Neuschöpfungen zu nähren, um bei guter Gesundheit zu bleiben.

Da dies das Jahr des vierhundertjährigen Jubiläums des Don Quijote ist, und da ich Cervantes’ Buch für den Grundstein des Romans, wie er sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt hat, halte, gestatten Sie mir, das von mir bis jetzt verwendete Vokabular weiterhin zu verwenden.

Cervantes gehört einer Tradition an, über die er nicht sprechen kann. Es ist dies die Tradition des Erasmus von Rotterdam, der der Leitstern der frühen spanischen Renaissance am Hofe des jungen Karl V. war, ein Licht, das bald durch die kalten dogmatischen Winde der Gegenreformation ausgelöscht wurde.

Nach dem Konzil von Trient1 wurden Erasmus und seine Werke von der Inquisition mit dem Bann belegt, sein Vermächtnis wurde zum Geheimnis. Cervantes war von dieser verbotenen Philosophie durchdrungen. Erasmus suchte nach einem Ausgleich zwischen Glauben und Vernunft, wobei er nicht nur die Glaubensdogmen ablehnte, sondern auch die Dogmen der Vernunft. Daher musste Cervantes, der ein Schüler der spanischen Erasmusjünger war, seine intellektuelle Heimat verbergen.

„Das Lob der Torheit“2 ist das Lob Don Quijotes, der durch ein erasmisches Universum wandert, in dem alle Wahrheiten zweifelhaft sind, wo alles in Ungewissheit getaucht ist. So erwirbt der moderne Roman sein Geburtsrecht.

Da Cervantes den befreienden Einfluss des erasmischen Denkens nicht eingestehen darf, geht er einen Schritt über Erasmus hinaus: Die Weisheit von Rotterdam wird zur Torheit von La Mancha, und die Vermählung der sagesse (Weisheit) mit der incertitude (Ungewissheit) bringt den Roman hervor, wie wir ihn verstehen. Ein bevorzugter Raum der Ungewissheit.

Ungewisser Ort: ein vergessenes Dorf in einer unzugänglichen Provinz Spaniens. Ein unnennbarer Ort: En un lugar de la Mancha de cuyo nombre no quiero acordarme („An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will“).

Ungewisser Autor: Wer schrieb dieses Buch? Cervantes? De Saavedra? Cide Hamete Benengeli3 ? Ein anonymer maurischer Schreiber? Der maskierte Seiltänzer Ginés de Pasamonte, verkleidet als der Puppenspieler Meister Pedro4 ? Das Fehlen des Autors bedeutet die kaum verhohlene Verweigerung von Autorität.

Ungewisse Namen: Ist Don Quijote wirklich ein verarmter Hidalgo namens Alonso Quijano – oder ist es Quijada? oder vielleicht Quesada? Oder ist es umgekehrt: Ist der verarmte Landedelmann in Wirklichkeit der wackere irrende Ritter, ein heruntergekommener Cid, ein verkleinerter Cortez? Was also bedeutet ein Name? Die Unbeständigkeit des Romans „Don Quijote“ bezüglich der Namen untergräbt alle Sicherheit linearen Lesens. Dulcinea ist Aldonza, junge Damen in Bedrängnis verwandeln sich in Königinnen und Prinzessinnen, abgehalfterte Klepper werden zu heldenhaften Rössern, analphabetische Landjunker zu Gouverneuren. Don Quijotes eingebildete Widersacher haben ausgefallene Namen – zum Beispiel der riesenhafte Pentapolín mit dem aufgekrempelten Ärmel –, daher müssen seine wirklichen Feinde auch solche haben: Der Baccalaureus Sansón Carrasco muss der Spiegelritter genannt werden, um in Quijotes Namensuniversum zugelassen zu werden. Und Don Quijote selbst, was der Kampfname des Landjunkers Quijada … oder Quijano … oder Quesada … ist, betritt in voller Kampfmontur diesen Karneval der Benennungen, wird zum Ritter von der Traurigen Gestalt oder zum Löwenritter; zum Quijotiz bei seinem Erscheinen im Schäferspiel, zum lächerlichen Don Azote, das ist der Herr Züchtiger in der Schenke, oder, im Herzogspalast, zum verspotteten Don Jigote, dem Herrn Prügelknaben.

Orte, Namen, Autorschaft, alles ist ungewiss im „Quijote“. Und die Ungewissheit wird noch verstärkt durch Cervantes’ demokratische Revolution: Die Schöpfung des Romans als öffentlicher Raum, als lieu commun, lugar común, das heißt als städtischer Treffpunkt, als Marktplatz, polyforum, plaza, wo jeder das Recht hat, gehört zu werden, doch keiner das Recht zu ausschließlicher Rede.

Dieses Prinzip der Romanschöpfung wird bei Cervantes zu einem Dialog der Genres. Im offenen Raum des „Don Quijote“ reichen sich der Schelmenroman – Sancho Pansa – und das Epos – Don Quijote – die Hand. Lazarillo de Tormes5 wird Amadís von Gallien6 vorgestellt.

Die Linearität der Erzählung ist gebrochen, umzingelt, durch Geschichten-in-der-Geschichte in schnellen Vorlauf oder Rücklauf gebracht, unterbrochen durch das pastorale Zwischenspiel und die höfische Romanze sowie die maurischen und byzantinischen Erzählstränge, die eingeflochten sind in das Gewebe eines Romans, der sich schließlich als sowohl identisch mit seinem sprachlichen Universum als auch als dessen Differenz vorstellt.

Cervantes macht aus dem Roman einen kritischen Prozess, der zunächst nahe legt, dass wir ein Buch über einen Mann lesen, der Bücher liest, woraus dann aber ein Buch wird über einen Mann, der weiß, dass er gelesen wird. Als Don Quijote die Buchdruckerei in Barcelona betritt und entdeckt, dass das, was dort gedruckt wird, sein eigenes Buch ist, „El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha“ („Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha“), tauchen wir plötzlich in eine wahrhaft neue Welt von Lesern ein: Lektüre, die für alle zugänglich ist und nicht nur für den kleinen Kreis der religiösen, politischen oder gesellschaftlichen Machthaber. Indem der Roman, von den Zeiten des Cervantes bis heute, Autorschaft wie Leserschaft vervielfältigt, wird er ein demokratisches Medium, ein Raum der Wahlfreiheit, der alternativen Deutungen des Selbst, der Welt und der Beziehung zwischen dem eigenen Ich und anderen, zwischen dir und mir, zwischen wir und sie.

Religion ist dogmatisch. Politik ist ideologisch. Vernunft muss logisch sein. Aber Literatur hat das Vorrecht, mehrdeutig zu sein. Das Zweifelnde in einem Roman ist vielleicht eine Art, uns zu sagen, dass, wenn Autorschaft (und damit Autorität) ungewiss ist und viele Erklärungen möglich sind, es mit der Welt ebenso bestellt ist. Die Wirklichkeit steht nicht fest, sie ist veränderlich.

Wir können uns der Wirklichkeit nur annähern, wenn wir nicht vorgeben, sie ein für alle Mal zu definieren. Die von einem Roman vorgeschlagenen Teilwahrheiten sind eine Schutzwehr gegen dogmatische Zumutungen.

Schriftsteller gelten als politisch unbedeutend. Warum werden sie dann von totalitären Regimen verfolgt, als ob sie wirklich von Belang wären? Dieser Widerspruch enthüllt die tiefere Natur des Politischen in der Literatur. Der Bezugspunkt ist die polis, die Stadt, die sich entwickelnde, aber dauerhafte Gemeinschaft der Bürger, nicht die autoritas, die wechselnde Macht, die naturgemäß zeitlich ist, sich aber voller Stolz für ewig hält.

Kafkas Fiktionen beschreiben eine Macht, die durch ihre eigene Fiktion mächtig wird. Macht ist eine Repräsentation, die, wie die Autoritäten im „Schloss“, ihre Stärke aus der Imagination derer außerhalb des Schlosses zieht. Wenn diese Imagination aufhört, der Macht weitere Macht zu verleihen, steht der Kaiser nackt da, und der ohnmächtige Schriftsteller, der darauf hinweist, wird ins Exil, ins Konzentrationslager oder auf den Scheiterhaufen geschickt, während des Kaisers Schneider an dessen neuen Kleidern nähen.

Dass Schreiben politische Macht besitzt, ist eher die Ausnahme. Unter so genannten normalen Umständen hat der Schriftsteller so gut wie keine politische Bedeutung. Er oder sie kann natürlich als Bürger politisch relevant werden. Er oder sie hat aber auch die grundlegende politische Aufgabe, der polis – wie unauffällig und unmittelbar auch immer – die unverzichtbaren Werte anzubieten, durch die sich das Persönliche und das Kollektive vereinen: Wörter und Imagination. Sprache und Gedächtnis. Rede und Absicht. So ist Fiktion, von Rabelais und Cervantes bis Grass und Goytisolo und Gordimer, eine Art, mit dem Paradoxon einer Lüge nach der Wahrheit zu fragen.

Diese Lüge kann Imagination genannt werden. Sie kann auch als Parallelwirklichkeit betrachtet werden. Sie kann als kritisches Spiegelbild dessen gesehen werden, was in der Welt der Konvention als Wahrheit gilt. Auf jeden Fall bedeutet sie ein zweites Universum des Seins, in dem Don Quijote und Heathcliff7 und Emma Bovary eine größere Wirklichkeit haben als die Schar schnell kennen gelernter und wieder vergessener Mitbürger, mit denen wir alltäglich zu tun haben. In der Tat heben Don Quijote oder Emma Bovary die Tugenden und Laster unserer Alltagsbekanntschaften ins helle Licht, geben ihnen Gewicht und Gegenwart.

In „Don Quijote“, schrieb Dostojewski, werde die Wahrheit durch eine Lüge gerettet. Mit Cervantes begründet der Roman sein Geburtsrecht als eine Lüge, die als Fundament der Wahrheit dient. Denn durch das Medium der Fiktion stellt der Romancier die Vernunft auf die Probe. Die Fiktion erfindet, was der Welt fehlt, was die Welt vergessen hat, was sie zu erlangen hofft und vielleicht nie erreichen kann. Fiktion ist also eine Methode der Aneignung der Welt, indem sie der Welt die Farbe, den Geschmack, die Empfindung, die Träume, die durchwachten Nächte, die Beharrlichkeit und sogar die träge Ruhe gibt, die sie braucht, um im Sein fortzufahren. Dringe in dein eigenes Selbst ein und entdecke die Welt, das sagt uns der Romancier. Aber er sagt auch, gehe hinaus in die Welt und entdecke dich selbst.

In den Schatten des Ersten Weltkriegs hat Franz Kafka herausgefunden, dass Don Quijote eine großartige Erfindung des Sancho Pansa war, der auf diese Weise den Abenteuern des irrenden Ritters als freier Mann folgen konnte, ohne irgendjemanden zu verletzen. Und Jorge Luis Borges erzählt uns in seinem Buch „Pierre Menard, Autor des Quijote“, dass es genügt, Cervantes’ Roman Wort für Wort abzuschreiben, nur in einer anderen Zeit und mit einer anderen Absicht, um ihn neu zu erschaffen.

Eine andere Zeit. Cervantes lebte in seiner Zeit: das dekadenten Spanien der letzten Habsburger, Philip III. und die Geldentwertung, der Niedergang der Wirtschaft infolge der Vertreibung zunächst der jüdischen, dann der arabischen Bevölkerung, der Zwang, hebräische oder maurische Ursprünge zu verhehlen, was zu einer Gesellschaft brüchiger Masken führte, das Fehlen einer effektiven Verwaltung für das ausgedehnte Reich, die Flucht des südamerikanischen Goldes und Silbers zu den mächtigen Kaufmannshäusern des nördlichen Europa. Ein Spanien der Straßenjungen und Bettler, der leeren Gesten, grausamen Aristokraten, kaputten Straßen, schäbigen Gasthöfe und verkommenen Herren, die, in einer anderen, kraftvolleren Zeit, Mexiko erobert und die Karibik durchsegelt und der Neuen Welt die ersten Universitäten und Druckerpressen gebracht hätten: die sagenhafte Tatkraft Spaniens bei der Entdeckung Amerikas.

Cervantes und die anderen großen Schriftsteller des spanischen goldenen Zeitalters führen vor, dass die Literatur der Gesellschaft das geben kann, was die Geschichte der Gesellschaft entzogen hat. „Wo sind die Vögel vom vorigen Jahr?“, seufzt Don Quijote, als er im Sterben liegt. Sie sind tot und ausgestopft, daher muss Don Quijote seinem Roman den wiederbelebten Flug des Adlers, die Flügelspanne des Albatros geben.

Wie Cervantes der entwürdigten Gesellschaft seiner Zeit mit dem Triumph der kritischen Imagination antwortete, sehen auch wir uns einer entwürdigten Gesellschaft gegenüber und müssen reflektieren, wie sie unser Leben durchdringt, uns umgibt und uns eine Situation aufzwingt, in der wir auf das Passieren der Geschichte mit der Passion der Literatur antworten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden humane Projekte gefährlich verzögert. Militärausgaben überschreiten bei weitem die Investitionen in Gesundheit, Erziehung und Entwicklung. Die vordringlichen Bedürfnisse der Frauen, der Alten, der Jugend bleiben dem Zufall überlassen. Vergehen gegen die Natur häufen sich. Im Himmel, schrieb Borges, sind Bewahren und Erschaffen synonym. Auf der Erde sind sie Feinde geworden. Um die grundlegenden Ursachen des Terrors kümmert man sich nicht.

Manchmal ist unsere Antwort auf diese Wirklichkeiten passive Glückseligkeit. Es gibt Leute, die glauben, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, weil man ihnen gesagt hat, dass das Selbstverständliche unmöglich zu erreichen sei. Doch andererseits befällt uns die aufgeregte, obgleich passive Angst vor der im Verborgenen lauernden Apokalypse, die dann eintritt, wenn, wie Goethe es sinngemäß sagte, Gott aufhöre, seine Geschöpfe zu lieben, und alles zerstören und wieder ganz von vorn anfangen müsse.

Der Raum hat kapituliert. Dank des Bildes können wir auf der Stelle überall sein. Die Zeit ist in Bilder zerstoben, die uns sowohl die Imagination der Vergangenheit als auch das Gedächtnis der Zukunft zu verwehren drohen. Wir können die Sklaven hypnotischer Bilder werden, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir können vergnügte Roboter werden und uns zu Tode amüsieren.

Ich meine, dass diese Wirklichkeiten uns dazu bewegen sollten, die Sprache als Fundament der Kultur zu bekräftigen, als die Tür zur Erfahrung, als Dach der Vorstellungskraft, als Keller des Gedächtnisses, als Zimmer der Liebe und, vor allem, als Fenster, das der Luft des Zweifels, der Ungewissheit und des Fragens offen steht.

In allen großen Romanen entdecke ich ein menschliches Vorhaben – gleich ob man es Leidenschaft, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit nennt –, das uns zu seiner Verwirklichung einlädt, selbst wenn wir wissen, dass es zum Scheitern verurteilt ist. Quijote weiß, dass er scheitert, wie es Père Goriot und Anna Karenina und Fürst Myschkin tun. Doch nur durch das implizite oder explizite Bewusstsein solchen Scheiterns bewahren sie die Natur des Lebens selbst – und helfen auch uns, das zu tun –, bewahren sie die menschliche Existenz und ihre Werte, die quer durch alle Zeitalter, alle Rassen, alle Familien der Menschheit hindurch gelebt und gewollt und erinnert werden, ohne zur entfremdeten Illusion von endlosem, sicherem Fortschritt und Glück zu werden.

In „Licht im August“ stellt Faulkner zwei unterschiedliche Charaktere einander gegenüber und bringt sie zusammen, die erwachsene, mannstolle Joanna Burden und ihren jungen schwarzen Liebhaber Joe Christmas. Chirstmas steht für die Freiheit. Aber er weiß, dass seine Freiheit begrenzt ist. Er fühlt sich wie ein Adler, hart, kraftvoll, unbarmherzig, fähig. Aber diese Empfindung geht vorüber, und dann begreift er, dass seine Haut sein Gefängnis ist. Joanna Burden wünscht sich, wenn sie Joes Körper besitzt, sich selbst zu verdammen.

Das sind nur zwei der Faulkner’schen Charaktere, die in der Liebe die tragische Natur von Freiheit und Schicksal zugleich entdecken. Bei Faulkner bedeutet das Wissen, zum Widerstand fähig zu sein, dass wir ebenso in manchen Augenblicken zum Sieg fähig sind. Ich hebe diese tragische und zeitlose Wahrheit bei Faulkner hervor, weil ich sie für unentbehrlich für den Herzschlag des Romans selbst halte: Freiheit ist tragisch, weil sie sich sowohl ihrer Notwendigkeit als auch ihrer Grenzen bewusst ist.

„Ich hoffe nicht auf Sieg“, schreibt Kafka, „und mich freut nicht der Kampf als Kampf, mich freut er nur als das Einzige, was zu tun ist. […] Als solcher freut er mich allerdings mehr, als ich in Wirklichkeit genießen kann […]. Vielleicht werde ich nicht am Kampf, sondern an dieser Freude zugrunde gehen.“

„Zwischen Schmerz und Nichts wähle ich den Schmerz“, so der berühmte Ausspruch Faulkners; und er fügte hinzu: „Der Mensch wird sich behaupten.“

Und ist nicht vielleicht dies die Wahrheit des Romans?

Die Menschheit wird sich behaupten, und sie wird sich behaupten, weil uns der Roman, trotz der Wechselfälle der Geschichte, sagt, dass die Kunst das Leben in uns wiederherstellt, das von der Hast der Geschichte missachtet wurde. Die Literatur macht wirklich, was die Geschichte vergessen hat. Und weil die Geschichte das ist, was war, wird die Literatur bieten, was die Geschichte nicht immer war. Wir werden also niemals Augenzeugen des Endes der Geschichte sein – außer es käme die Weltkatastrophe. Man vergleiche also die Worte von Franz Kafka und William Faulkner mit den unausgegorenen Vorstellungen vom Ende der Geschichte und dem Zusammenstoß der Kulturen.

Ich spreche als ein Schriftsteller der spanischen Sprache aus einem Kontinent, der iberisch, indianisch und mestizisch ist, der schwarz und mulattisch ist, atlantisch und pazifisch, mediterran und karibisch, christlich, arabisch und jüdisch, griechisch und lateinisch. Wenn ich den vollbrachten Leistungen, aber vor allem den Zielsetzungen, den erreichten Zielen ebenso wie den Möglichkeiten, meiner eigenen Kultur treu bin, kann ich nicht gelten lassen, dass wir in einem Zusammenstoß der Kulturen leben, weil all diejenigen, von denen ich gesprochen habe, die Meinen sind und nicht zusammenstoßen, sondern reden, miteinander sprechen, disputieren, um zu verstehen, und, in meiner Seele, die Relativität von triumphaler Haltung und Niedergeschlagenheit teilen, die Notwendigkeit, das zu wagen, was nie untergehen wird, selbst wenn es zurückgefallen ist – meine alten indianischen und islamischen Kulturen –, und die Notwendigkeit, das zu erwerben, was sich selbst als dauerhaft denkt – die westlichen, christlichen Züge meines Seins, jenseits ihrer gegenwärtigen Befähigung – und den gemeinsamen Ort von ihnen allen zu feiern, den Ort des Sprechens und Denkens und des Gedächtnisses und der Imagination, den jeder von uns, ob Mann oder Frau, mit sich trägt und der uns bittet, an einem Dialog der Kulturen teilzuhaben und das Ende der Geschichte abzustreiten. Denn wie kann Geschichte enden, solange wir nicht unser letztes Wort gesprochen haben?

© Carlos Fuentes/Internationales Literaturfestival, Berlin

Fußnoten: 1 Es fand zwischen 1545 und 1563 statt. 2 Erasmus von Rotterdam: „Das Lob der Torheit“, 1509; ironische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Vernunft in der Neuzeit; deutsch in der Übersetzung von Anton J. Gail, Stuttgart (Reclam Verlag) 1992. 3 Fiktiver Verfasser des Don Quijote. 4 Romanfiguren, die als Autoren auftreten. 5 Schelmenroman (anonym) von 1554. 6 Ritterroman aus dem 14. Jahrhundert. 7 Figur aus Emily Brontës „Sturmhöhe“. (Alle Anmerkungen von der Redaktion.) Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt Carlos Fuentes (geb. 1928) ist einer der prominentesten Schriftsteller Mexikos, Autor u. a. von „Terra Nostra“ (1977). Träger des Cervantes-Preises. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Woran ich glaube. Alphabet des Lebens“, München (DVA) 2004. Der Text dokumentiert (leicht gekürzt) die Eröffnungsrede zum Internationalen Literaturfestival in Berlin im September 2005.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2005, von Carlos Fuentes