09.12.2005

Die absurden Regeln des weltweiten Agrarhandels

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Die absurden Regeln des weltweiten Agrarhandels

von Jacques Berthelot

Zwischen 1995/1997 und 2000/2002 stieg die Zahl der Menschen, die an Unterernährung leiden, weltweit von 826 auf 852 Millionen Menschen. Drei von vier dieser Unterernährten leben auf dem Land, die meisten als Bauern, davon 204 Millionen allein im subsaharischen Afrika, wo die Lebenserwartung seit zwanzig Jahren kontinuierlich zurückgeht. Zwei Drittel der afrikanischen Erwerbsbevölkerung – bzw. ein Drittel der Gesamtbevölkerung – leben von der Landwirtschaft; das sind 110 Millionen Menschen mehr als 1969/1971.

Ab und zu kann man lesen, dass die Länder des subsaharischen Afrika nur deshalb nicht hinreichend in den Weltmarkt integriert seien, weil ihr Anteil am Welthandel zwischen 1990 und 2004 von 2 Prozent auf 1,6 Prozent gesunken ist. Doch diese These entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Täuschung: Die Außenhandelsquote dieser Länder, also der Anteil des Außenhandels am Sozialprodukt, belief sich 2003 auf 52,7 Prozent, im Weltdurchschnitt dagegen nur auf 41,5 Prozent, für die Vereinigten Staaten auf 19 Prozent, für Japan auf 19,9 Prozent und für die Eurozone auf ganze 16 Prozent.1

Sieht man von den asiatischen Schwellenländern mit ihren 70 Prozent einmal ab, drängt sich also eine Schlussfolgerung auf, die in der Öffentlichkeit nie gezogen wird: dass der Reichtum der Nationen nämlich keineswegs mit ihrer möglichst umfangreichen Integration in den Weltmarkt einhergeht.

Noch viel interessanter ist die statistische Auskunft, dass der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung in den Entwicklungsländern umso höher ist, je höher der Anteil der Agrarerzeugnisse am Gesamtexport der jeweiligen Länder ist.2 Auch ist in diesen Ländern die Lücke zwischen Nahrungsmittelerzeugung und -verbrauch gewachsen (wenn man die tropischen Früchte einmal beiseite lässt). Während die Agrarexporte zum Beispiel in den Ländern Westafrikas zwischen 1995 und 2003 um 50 Prozent von 4 auf 6,1 Milliarden Dollar anwuchsen, stieg das Agrarhandelsdefizit noch schneller, genauer: um 55 Prozent von 2,9 auf 4,3 Milliarden Dollar.

Die WTO-Ministerkonferenz in Hongkong müsste eigentlich Regeln für einen nachhaltigen Welthandel festschreiben und dabei berücksichtigen, dass die Weltbevölkerung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts um drei Milliarden Menschen zunehmen wird, davon eine Milliarde allein in Afrika. Diese Entwicklung wird durch die allgemeine Klimaerwärmung noch verschärft. Falls sich die globale Temperatur im Durchschnitt um 5,8 Grad erhöht, würden nach Berechnungen brasilianischer Wissenschaftler die Anbauflächen, die für Soja, Mais, Trockenreis, Bohnen und Kaffee geeignet sind, um die Hälfte abnehmen. Auch bei einem Temperaturanstieg um nur drei Grad würde diese Fläche noch um ein Drittel schrumpfen.3

In einem Land wie Brasilien, das zur Steigerung seiner Soja- und Rindfleischausfuhren die bewaldeten Regionen am Amazonas, bislang wichtige Kohlendioxidspeicher, abholzt und damit einen nicht unerheblichen Beitrag zum Treibhauseffekt leistet, sollten solche Zahlen eigentlich das Agrarexportfieber ein wenig dämpfen helfen.

Und wie wollen die Regierungen diese Probleme lösen? Indem sie die Doha-Verhandlungsrunde4 auf das Ziel allgemeiner „Marktöffnung“ einschwören. Die multi- und bilaterale Strategie der beiden Handelssupermächte USA und EU spricht in dieser Hinsicht Bände: Da die Landwirtschaft weniger als 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts ausmacht, der Dienstleistungssektor hingegen 75 Prozent, muss die Wachstums- und Beschäftigungspolitik auf eine beständige Steigerung des Exports von Dienstleistungen und Industriegütern hinwirken – erkauft mit dem Preis, immer mehr Lebensmittel einführen zu müssen. Dieses Ziel verfolgt die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) seit 1992 – ebenso wie das 1996 vom US-Kongress verabschiedete Landwirtschaftsgesetz und das WTO-Agrarabkommen von 1995.

Um die Reformen für die Landwirte politisch akzeptabel zu machen, musste man den Verfall der Agrarpreise durch Subventionen auffangen, die laut WTO-Agrarabkommen „keine oder höchstens geringe Handelsverzerrungen“ verursachen – in ersterem Fall landen sie laut WTO-Jargon in der „grünen Box“, in letzterem in der „blauen Box“ (siehe Glossar). Mit anderen Worten: Die Stützungszahlungen müssen partiell (blaue Box) oder völlig (grüne Box) vom Preis- oder Produktionsniveau des laufenden Jahres „entkoppelt“ sein. Dass diese Politik der produktionsunabhängigen Subventionen der Umwelt, der Landschaft, der Produktqualität und dem Wohlbefinden der Tiere zugute komme, ist dabei nur eine Alibibehauptung, mit der man die Steuerzahler bei Laune halten will.

Den Entwicklungsländern versuchte die Europäische Union ihre Reformen auf zweierlei Weise zu verkaufen. Zum einen schaffte sie den Terminus „Ausfuhrerstattung“ ab, der diejenigen Exportsubventionen bezeichnet, die zwischen 1992 und 2002 tatsächlich von 9,5 Milliarden Dollar Ecu auf 3,4 Milliarden Euro zurückgegangen sind. Wie die USA weigert sich aber auch die EU, der WTO die „blauen“ und „grünen“ Direktbeihilfen zu melden, die, wenn auch indirekt, dem Agrarexport zugute kommen. Ein Beispiel hierfür sind die Direktbeihilfen an Getreideproduzenten, die indirekt den Fleischpreis subventionieren.

Zum anderen machte die EU am 28. Oktober 2005 das Angebot, ihre internen gekoppelten Beihilfen um 70 Prozent und die durchschnittlichen Einfuhrzölle auf Agrarerzeugnisse (mit Ausnahme „sensibler“ Produkte) um 46 Prozent zu senken. Von den Entwicklungsländern erwartet die EU entsprechende Gegenleistungen bei der Öffnung ihrer Märkte. In dieselbe Richtung weist die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, ihre internen gekoppelten Beihilfen5 um 53 Prozent und die Einfuhrzölle um 55 bis 90 Prozent zu senken.

Seit der WTO-Ministerkonferenz im September 2003 in Cancún haben die Entwicklungsländer der Hegemonie der Quadrilateralen (USA, EU, Japan, Kanada) ein Ende gesetzt. Nach der Bildung von Staatengruppen wie der G 20, der G 33 und der G 90 (siehe Glossar) haben nun Brasilien und Indien in der für den Fortgang der Verhandlungen maßgeblichen G 4 die Stelle Japans und Kanadas eingenommen. Das birgt freilich die Gefahr, dass diese beiden wichtigen „Schwellenländer“ die Interessen der Mehrheit der Entwicklungsländer nicht in ausreichendem Maße vertreten und dazu beitragen, die ärmsten G-90-Mitglieder weiter zu marginalisieren.

Die Entwicklungsländer lassen sich durch die Tricks der EU und der USA immer weniger täuschen. Nach 1992 verschoben die beiden Handelsblöcke einen wachsenden Prozentsatz ihrer gekoppelten Beihilfen aus der orange (s. Glossar) zunächst in die blaue und anschließend in die grüne Box, in der durch die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik vom Juni 2003 und April 2004 auf einmal 90 Prozent der gekoppelten Beihilfen gelandet sind. In Wahrheit aber schummeln Washington und Brüssel bei der Benennung ihrer Beihilfen und Exportsubventionen seit 1995 in großem Maßstab. Und dass die Gemeinsame Agrarpolitik und die US-Landwirtschaftspolitik wie behauptet mit dem WTO-Agrarabkommen konform ginge, trifft längst nicht in allen Punkten zu.

Laut Artikel 6 Absatz 2 des WTO-Agrarabkommens zählen Beihilfen für Betriebsmittel, Rohstoffe und Zwischenerzeugnisse in den Industrieländern zu den „gekoppelten“ Beihilfen. Da 60 Prozent der Gesamtproduktion von Getreide, Ölsaaten und Eiweißpflanzen (GÖE) in der EU wie in den USA in der Viehzucht verfüttert werden, wären 60 Prozent der GÖE-Direktbeihilfen (jährlich 9 Milliarden Euro) eigentlich als „gekoppelte“ Beihilfen zu bewerten. Die EU hat die GÖE-Hilfen jedoch in die blaue Box eingeordnet, während die USA sie sogar in die grüne Box verschoben haben. Das WTO-Streitbeilegungsgremium gelangte allerdings in drei neueren Urteilen zu der Auffassung, dass sämtliche Subventionen, die dem Agrarexport zugute kommen – auch diejenigen in der grünen Box – unzulässig seien. Deshalb fordern die G 20, die G 33 und die G 90 von Brüssel und Washington, die Ausfuhrerstattungen gänzlich abzuschaffen und die „gekoppelten“ Beihilfen sowie die Einfuhrzölle drastisch zu senken. Keine dieser Gruppen stellt in dieser Angelegenheit die Legitimität der WTO in Frage, da bilaterale Freihandelsabkommen mit noch größeren Risiken verbunden wären. Das machen zwei besonders ungerechte Verträge deutlich, die die EU 2008 den AKP-Ländern (Afrika, Karibik, Pazifikregion) aufnötigen will.6 Alle drei Gruppierungen (G 20, G 33, G 90) wollen ihre Industrie- und Dienstleistungsmärkte so lange nicht öffnen, wie nicht gewährleistet ist, dass der Norden seine künstliche Verbilligung der Agrarproduktion einstellt und seine Agrarmärkte weiter öffnet.

Doch jenseits dieser Gemeinsamkeit sind die drei Gruppen in der Frage, inwieweit sie ihren Binnenmarkt nach außen schützen wollen, tief gespalten. Die neun wettbewerbsfähigsten Mitglieder der G 20, darunter die Mercosur-Staaten7 und Thailand, möchten ihre Zugangsmöglichkeiten zu den Märkten anderer, und das heißt auch der südlichen Länder möglichst erweitern. Schließlich gingen 2004 bereits 51 Prozent der Agrarausfuhren Brasiliens in andere Entwicklungsländer (1990 waren es erst 23 Prozent). Dagegen wollen zehn weitere G-20-Mitglieder, die zugleich der G 33 angehören, darunter China, Indien und Indonesien, auch gegenüber den anderen Entwicklungsländern einen starken Außenschutz beibehalten. Die G 90 wiederum fürchtet zu Recht, dass EU und USA bei weniger Waren ganz auf Importzölle verzichten werden, falls sie ihre bestehenden Zölle allzu weit absenken müssten.

Die derzeitig gültigen Regeln des WTO-Agrarabkommens sind ungerecht. Nur die reichen Länder dürfen ihre Landwirte mit internen Beihilfen unterstützen, die im Endeffekt auf eine Strategie des Dumpings und der Importsubstitution hinauslaufen. Die armen Länder dagegen sollen das einzige ihnen verbleibende Schutzinstrument aufgeben, nämlich Importbeschränkungen. Angesichts dessen wäre der am wenigsten protektionistische Schutz für die Landwirte aller Länder paradoxerweise das Prinzip der Ernährungssouveränität – das bedeutet: wirksame Importbeschränkungen und das Verbot, Agrargüter zu Preisen unterhalb der Gesamtgestehungskosten (und zwar ohne direkte und indirekte Beihilfen) zu exportieren.

Eine Umstellung der Gemeinsamen Agrarpolitik und des WTO-Agrarabkommens auf das Prinzip der Ernährungssouveränität läge offenkundig auch im Interesse der EU-Mitgliedstaaten, da der Anteil der Exporte in Drittländer im Vergleich zur Gesamterzeugung in den Jahren 2000 bis 2003 nur bei 10,7 Prozent für Getreide, 6,9 Prozent für Fleisch und 9,5 Prozent für Milcherzeugnisse lag. Im Moment benutzt die EU die Agrarproblematik nur als Manövriermasse in ihren Verhandlungen im Rahmen der WTO und mit den Mercosur-Staaten, um für die eigenen Exporte neue Märkte zu öffnen. Bei diesem Spiel droht sie jedoch weit mehr zu verlieren als die Jobs der elf Millionen Beschäftigten im landwirtschaftlichen Sektor. Denn jenseits der Nahrungsmittelproduktion hat die Landwirtschaft noch andere Aufgaben, wie den Erhalt der Umwelt und die Pflege der Landschaft.

Die Vereinigten Staaten befinden sich in einer ähnlichen Situation, da ihre Überschussproduktion im letzten Jahrzehnt kontinuierlich zurückgegangen ist. Hatte sie 1996 noch einen Wert von 26,8 Milliarden Dollar, so ist sie im laufenden Jahr auf etwa 4 Milliarden Dollar gesunken und dürfte mittelfristig sogar ganz verschwinden. Um Europa und die USA auf den Weg der Ernährungssouveränität zu bringen, bietet sich ein einfaches Mittel an: Mit den „Boxen-Tricksereien“ auf WTO-Ebene muss Schluss gemacht werden. Die Folge wäre, dass unter dem Druck der subventionsverwöhnten Landwirte die EU wie die USA sich entschließen müssten, die Gemeinsame Agrarpolitik beziehungsweise die US-Landwirtschaftspolitik so umzustellen, dass die Produzenten kostendeckende Preise erzielen könnten. Was zugleich einen wirksamen Schutz vor billigen Einfuhren erzwingen würde.

Da dieser Ansatz den Zielen der WTO widerspricht, sind im Grunde nur zwei Lösungen denkbar. Entweder man räumt der Landwirtschaft wieder einen Sonderstatus ein (wie zu Zeiten des Allgemeinen Freihandelsabkommens Gatt vor 1995, als de facto sämtliche Schutzmaßnahmen erlaubt waren), und verbietet zugleich jedwede Exportsubvention. Oder aber – und dies wäre vorzuziehen – man überträgt die Regulierung des Agrarhandels einer anderen Institution, und zwar entweder der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), oder der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz (Unctad) oder einer neuen Organisation der UN. Diese Institution müsste auch die Aufgabe übernehmen, das Nahrungsmittelangebot international zu koordinieren, um strukturelle Überschüsse zu vermeiden und Mindestpreise durchzusetzen, was vor allem bei tropischen Erzeugnissen nötig wäre.

Fußnoten: 1 In der Außenhandelsbilanz der Eurozone ist also der Handel zwischen den Euroländern nicht berücksichtigt. Siehe Weltbank, Country Data Profiles, www.worldbank.org/data/countrydata/coun trydata.html. 2 FAO, Review of the State of Food and Agriculture, November 2005, www.fao.org/docrep/meeting/010/j6091e/j6091e.htm. 3 www.unicamp.br/unicamp/unicamp_hoje/ju/fevereiro2005/ju278pag12.html. 4 In Doha, der Hauptstadt von Katar, begann 2001 die gleichnamige WTO-Verhandlungsrunde. 5 Jacques Berthelot, „The empty promise and perilous game of the European Commission to slash its agricultural supports“, www.ourworldisnotforsale .org/showarticle.asp?search=988; ders., „Le roi est nu : l’impossible promesse des États-Unis de charcuter leurs soutiens agricoles“, 10.11.05, www .tradeobservatory.org/library.cfm? refid=77468. 6 Dazu Raoul Marc Jennar, „Pflicht zum Freihandel“, Le Monde diplomatique, Februar 2005. 7 Dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) gehören Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay an. Venezuela will demnächst beitreten. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Jacques Berthelot ist Wirtschaftswissenschaftler, Autor von „L’Agriculture, talon d’Achille de la mondialisation“, Paris (L’Harmattan) 2001.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2005, von von Jacques Berthelot