09.12.2005

100 Tage Arbeit für alle Inder

zurück

100 Tage Arbeit für alle Inder

von Jyotsna Saksena

Indiens Ministerpräsident Manmohan Singh hat Ende Oktober auf das Vorhaben verzichtet, 10 Prozent der Aktien der staatseigenen Industriegruppe Bharat Heavy Electricals Limited (Bhel) zu verkaufen. Ursache dafür sind vehemente Proteste der Linksparteien, die seine seit Mai 2004 amtierende Minderheitskoalition unter Leitung der Kongresspartei unterstützen, ihr aber nicht angehören.1 Auch die Teilprivatisierungen hochrentabler öffentlicher Unternehmen, der so genannten Navratnas, so Singh gegenüber der Linksfront, solle nun doch nicht stattfinden.

Damit vermeidet die Regierung einen klaren Verstoß gegen das Gemeinsame Nationale Minimalprogramm (NCMP). Diese Vereinbarung hatten die Regierungskoalition United Progressive Alliance (UPA) und die Linksfront nach den Wahlen unterzeichnet. Ein solches Bündnis ist ein Novum für Indien und die Kongresspartei, die das Land jahrzehntelang allein regieren konnte. Politisch haben Premierminister Singh, der schon von 1991 bis 1996 Finanzminister war, und die Kommunisten wenig gemeinsam. Singh will den immer noch riesigen staatlichen Sektor schrumpfen lassen. Beide wissen, dass die alte Regierung abgewählt wurde, weil ihre Wirtschaftspolitik zu wenig den Bedürfnissen der sozial schwächeren Schichten entgegenkam. Für Singh kam es als Warnung, dass die Linksparteien im Juni nach Bekanntwerden der Privatisierungspläne den gemeinsamen Koordinationsausschuss verließen. Nach Singhs erneutem Schwenk traten sie ihm wieder bei.

Das Gemeinsame Programm setzt sich sechs Ziele: Bekämpfung von Fundamentalismus und Förderung des gesellschaftlichen Friedens durch die Bekräftigung des laizistischen Charakters des indischen Staats; eine Wachstumsrate von mindestens 7 bis 8 Prozent, um Arbeitsplätze zu schaffen; mehr Wohlstand für Bauern und Arbeitnehmer insbesondere im informellen Sektor; die Stärkung der Rechte der Frauen; gleiche Bildungs- und Beschäftigungschancen für die „unteren Kasten“ , die „anderen rückständigen Klassen“, die Stämme und die religiösen Minderheiten; die Förderung aller produktiven Kräfte des Landes und Good Governance sowie zahlreiche Einzelmaßnahmen.

Die Regierung hält sich zugute, dass das Wirtschaftswachstum trotz der Tsunami-Katastrophe von Ende 2004 und der gestiegenen Ölpreise aktuell bei 6,9 Prozent liegt. Sie habe zusätzlich 250 Milliarden Rupien – rund 4,6 Milliarden Euro2 – zur Erfüllung ihrer Wahlversprechen bereitgestellt und die Budgets für ländliche Entwicklung und Soziales im Vergleich zum Haushaltsentwurf 2004/2005 um 47 bzw. 49 Prozent aufgestockt.

Zum ersten Jahrestag seiner Amtseinführung hatte Ministerpräsident Singh Ende Mai ein „gigantisches Projekt zur ländlichen Entwicklung“ angekündigt, das mit schätzungsweise 32 Milliarden Euro ausgestattet sein soll. Kritiker bemängeln nun, dass die bereitgestellte Summe weit hinter dem Bedarf und der in Aussicht gestellten Höhe zurückbleibt.

Ein Paradebeispiel hierfür sei die Zusage, jeder ländlichen Familie jährlich an mindestens 100 Tagen Beschäftigung zu garantieren. Schon der Entwurf des Employment Guarantee Act (EGA) wich jedoch deutlich von den ursprünglichen Zusagen ab: Demnach soll das Recht auf Arbeit solchen Familien vorbehalten bleiben, die unter der Armutsgrenze leben; für den Lohn wurde keine Untergrenze festgelegt, und die Regierung soll das Programm in einzelnen Regionen außer Kraft setzen dürfen. Das neue Gesetz, das schließlich im August verabschiedet wurde, stattet jeden ländlichen Haushalt mit einer Einkommensgarantie aus, sieht einen regional differenzierten Mindestlohn von 60 Rupien (1,11 Euro) am Tag vor und verpflichtet die Regierung, das Programm binnen fünf Jahren auf ganz Indien auszuweiten. Grundsätzlich sollen 30 Prozent der Hilfsempfänger Frauen sein. Die Durchführung des Programms liegt ausschließlich in den Händen der örtlichen Volksvertreter. Die Einkommensgarantie gilt nur für ein Mitglied jedes Haushalts.

Nach wie vor ungeklärt ist die Finanzierungsfrage: Nach Schätzungen von Experten liegen die jährlichen Kosten des Programms zwischen 4,65 und 8,36 Milliarden Euro. Das Gesamtbudget zur Förderung der ländlichen Beschäftigung soll sich im Haushaltsjahr 2005/2006 jedoch nur auf 1,67 Milliarden Euro belaufen.3

Finanzierungsprobleme gibt es auch bezüglich anderer als prioritär eingestufter Haushaltsposten. Beispielsweise im Gesundheitssektor, für den der Staat im laufenden Jahr 1,89 Milliarden Euro bereitstellt. Laut NCMP-Plan sollen die Gesundheitsausgaben bis Ende der Legislaturperiode aber auf 2 bis 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen, also auf 13 bis 19,5 Milliarden Euro. Auch der derzeitige Grundschuletat in Höhe von etwas über 2 Milliarden Euro liegt weit unter dem anvisierten Ziel von 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts: Das wären 39 Milliarden Euro!

Selbst diese unzureichenden Summen konnten nur mittels Haushaltstricks eingeplant werden. In diese Finanzklemme ist die Regierung geraten, weil sie im Rahmen ihrer ausgesprochen liberalen Wirtschaftspolitik gleichzeitig Steuern senken und Staatsschulden abbauen will. Das Haushaltsgesetz sieht eine Unternehmensteuersenkung von 35 auf 30 Prozent vor, befreit viele Dienstleistungsanbieter von der Dienstleistungsteuer und reduziert die Einkommensteuer. Ebenfalls gesenkt wurden die Mehrwertsteuer auf Güter, die in Indien als Luxusartikel gelten (Klimaanlagen, Autoreifen u. Ä.) – sie sank von 24 auf 16 Prozent –, sowie die Zölle auf viele Investitionsgüter (der Höchstsatz fiel von 20 auf 15 Prozent, für manche Produkte von 15 Prozent auf 10 Prozent, zum Teil sogar auf 5 Prozent).4 Dabei liegt der Anteil der Steuern und Abgaben am Bruttoinlandsprodukt schon heute bei nur 9,8 Prozent.

Das im Juli 2004 in Kraft getretene Haushaltsgesetz der Vorgängerregierung sieht bis 2008/2009 einen ausgeglichenen Haushalt und die Verringerung der öffentlichen Schuldenlast auf weniger als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor.

Die Frage ist, wie man die Zusagen des NMCP dann auch nur teilweise erfüllen will: eben durch Haushaltstricks, indem man die Defizite auf verschiedene Weise versteckt. Oft erprobt ist das Verfahren der Regierung, viel zu optimistische Einnahmeprognosen zu verkünden, in der Hoffnung, die Ausgaben bis zum Ende des Haushaltsjahres an die unweigerlich geringer ausgefallenen Einnahmen anpassen zu können.

Ein weiterer Teil des Defizits wird auf die Bundesstaaten umgeschichtet, von deren Finanzierungskapazität künftig die Höhe der Investitionen vor allem im wichtigen Agrarbereich abhängt.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Regierung und ihren Kritikern nehmen zu. Umstritten ist dabei nicht nur die Privatisierung staatseigener Unternehmen, sondern auch die Zulassung ausländischer Direktinvestitionen. Der Finanzminister empfiehlt, potenziellen Investoren stärkere Anreize zu bieten. Die Linke war nicht von vornherein dagegen, doch will sie durch entsprechende Regulierung sicherstellen, dass ausländische Investitionen Arbeitsplätze schaffen und einen Beitrag zum technologischen Fortschritt leisten. Dies ist in Frage gestellt, wenn sich, wie es diskutiert wird, ausländische Investoren an Versicherungsgesellschaften oder Banken beteiligen. Heftige Kritik zieht sich die Regierung auch mit ihren Plänen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts zu, wo es schon bislang keine soziale Mindestabsicherung gibt.

Für die Agrarproduktion, die im Vorjahr nur um 1,1 Prozent wuchs, empfiehlt die Regierung ganz nach den Vorstellungen der Welthandelsorganisation die Deregulierung des Markts, den Abbau von Subventionen und den Übergang zu einer „international wettbewerbsfähigen Landwirtschaft“.

Auch einige Maßnahmen mit hoher politischer Symbolik lassen weiter auf sich warten. So sollte ein Drittel der Sitze im nationalen Parlament und in den Parlamenten der Bundesstaaten mit Frauen besetzt sein; die „positive Diskriminierung“ bei der Einstellung von Angehörigen benachteiligter Kasten sollte auch in der Privatwirtschaft gelten; das Recht der Stämme, im Wald zu leben, sollte gesetzlich festgeschrieben werden.

Das Bemühen Ministerpräsident Singhs, einen Konsens über seine Politik zu erzielen, ist nicht immer von Erfolg gekrönt, vor allem was die Deregulierung des Arbeitsmarkts anbelangt. Dies hemme, so Singh, den Reformprozess, bremse das Wachstum und behindere die Umsetzung von Entwicklungsprojekten.5 Prakash Karat, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens, ist da anderer Meinung: Wenn die derzeitige Politik fortgesetzt werde, könnte sich die Linksfront genötigt sehen, gegen die Regierung zu votieren, sagte er in einem Interview, namentlich im Fall einer Privatisierung der Pensionsfonds und der beabsichtigten Neufassung des Bankengesetzes.6

Das heißt jedoch nicht, dass die Linke entschlossen wäre, die Regierung zu Fall zu bringen. Denn erstens gibt es keine dritte Kraft, die einen antiliberalen Politikwechsel herbeiführen könnte, sodass ein Misstrauensvotum zwangsläufig der BJP in die Hände spielen würde.

Zweitens fällt die Bilanz der Regierung bei der Einhaltung der Grundrechte und des Laizismus nach wie vor positiv aus, wie die Novellierung des Antiterrorgesetzes (Pota) und die Rücknahme von stark hinduistisch-nationalistisch gefärbten Schulbüchern deutlich macht. Auch die Außenpolitik gegenüber Pakistan und China findet weitgehend Zustimmung. Vor allem aber stellt die wie immer partielle und unzureichende Umsetzung des Gemeinsamen Minimalprogramms gegenüber der Politik der Vorgängerregierung nach Ansicht der Linken einen nicht unerheblichen Fortschritt dar.

Fußnoten: 1 217 der 543 Parlamentssitze entfielen auf das Bündnis unter Führung der Kongresspartei, 185 auf das Bündnis der Bharatiya Janata Party (BJP), 59 auf die Linksfront. 2 1 Rupie entspricht 0,0186 Euro. 3 Sämtliche Budgetzahlen stammen aus der Parlamentsrede von Palaniappan Chidambaram am 28. Februar, siehe www.finmin.nic.in. 4 Dazu Christophe Jaffrelot, „Indien: Armes Bihar, reiches Gujarat“, Le Monde diplomatique, Januar 2004. 5 Im Gespräch mit dem McKinsey Quarterly, in Auszügen veröffentlicht in The Hindu, Neu-Delhi, 26. August 2005. 6 Frontline 22 (6), Chennai, 4.–17. Juni 2005. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Jyotsna Saksena lehrt am Institut National des Langues et Civilisations Orientales (Inalco) Paris.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2005, von Jyotsna Saksena