15.01.2010

Enttäuschung wie erwartet

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Enttäuschung wie erwartet

Warum Präsident Obama die Welt noch nicht gerettet hat von Serge Halimi

In der Politik wird die Konfrontation zuweilen sehr persönlich. Da wird aus Opposition verbissene Gegnerschaft, es kommt zu bizarren Bündnissen mit dem einzigen Ziel, den Widersacher zu vernichten. Wenn der geschlagen ist, beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Mit der Frage: Was nun? Die zweideutigen Aussagen, mit denen der Kandidat das oppositionelle Lager zusammengehalten hat, sind in der politischen Praxis nicht zu halten. Ernüchterung setzt ein. Und früher oder später ist der Gegner zurück an der Macht.

Pragmatische Wahlkampfbündnisse, nebulöse Aussagen, die programmierte Enttäuschung – all das wiederholt sich jetzt in den USA. Ein Jahr ist es her, seit die Niederlage der Republikaner einen Freudentaumel auslöste. Zwar genießt Obama bei einem Teil seiner Wähler nach wie vor Vertrauen, aber die alte Begeisterung ist offenbar verflogen. Die Truppenverstärkung in Afghanistan schockiert die Kriegsgegner, die Umweltpolitik und die Gesundheitsreform bleiben hinter allen vernünftigen Erwartungen zurück. Die vom Obama-Lager ausgegebene Parole „Besser als nichts“ verbreitet nichts als Trostlosigkeit. Und das leidenschaftliche Engagement sucht wieder einmal eine andere Heimat.

Bei dieser Entwicklung, die den Lobbyisten noch mehr Macht verleiht, stellt sich zwingend die Frage, wie viel Macht der US-Präsident tatsächlich hat. Natürlich ist Obama nicht Bush. Aber das reicht nicht, um zu wissen, welche Richtung Obama einschlägt und ob man ihm dabei folgen will. Die Zahl der Arbeitslosen geht steil in die Höhe, ganze Wohnviertel kommen unter den Hammer, das Land leidet – und der Präsident hält unentwegt eloquente Reden, erklärt seine Politik, versucht zu überzeugen. Aber was kommt dabei heraus?

In Kairo verurteilt er die israelischen Siedlungen, kurz darauf werden neue gebaut – er nimmt es hin. Er verspricht eine ehrgeizige Gesundheitsreform, die wird vom Kongress entschärft – er gibt klein bei.

Das grenzt manchmal an Schizophrenie. Doch alle Widersprüche verkleistert der Präsident mit einer Flut von Worten, wobei jeder Aussage ein Gegenvorschlag entgegensteht. Und das letzte Argument ist immer: Die eigenen Parteifreunde fordern zu viel, die republikanischen Freunde geben zu wenig nach, es bleibt also nur der Mittelweg.

In der Marineakademie West Point mahnte er die Kadetten, bei der Ausübung militärischer Gewalt „Zurückhaltung zu üben“; bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo begründete er die Unvermeidlichkeit von Gewalt mit „den Unzulänglichkeiten des Menschen und den Grenzen der Vernunft“. Und die Preisrichter mussten sich ausgerechnet den Hinweis auf Richard Nixon anhören, der sich 1972 trotz der „Schrecken der Kulturrevolution“ mit Mao Tse-tung in Peking traf. Das fiel Obamas republikanischem Vorgänger nicht leicht, aber bald darauf tröstete er sich mit dem Befehl, vietnamesische Großstädte zu bombardieren und in Chile den Putsch des Generals Augusto Pinochet zu unterstützen. Beides fand in Obamas Osloer Rede keine Erwähnung. In untadelig „zentristischer“ Weise erwies er stattdessen sowohl Martin Luther King als auch Ronald Reagan die Ehre.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Im November 2008 gingen zwei Drittel der wahlberechtigten Amerikanerinnen und Amerikaner (und 89,7 Prozent der eingetragenen Wähler) zur Wahl. 52,9 Prozent von ihnen wählten einen ungewöhnlichen Präsidenten ins Weiße Haus, dessen Lebenslauf bereits den Wandel verhieß: „Ich habe nicht den üblichen Stammbaum vorzuweisen und meine Karriere nicht in den Fluren von Washington gemacht“, hatte Obama bei seiner Nominierung erklärt. Genau deshalb schaffte er es, junge Leute, Schwarze, Hispanoamerikaner, aber auch unverhoffte 43 Prozent der weißen Wählerschaft zu mobilisieren. Auch in beiden Häusern des Kongresses konnten sich die Demokraten eine breite Mehrheit sichern. Die Republikaner dagegen waren vernichtend geschlagen. Der neue Präsident zitierte ihre verschlissene Philosophie nur noch in der spöttisch aufklärenden Version als das Prinzip, „denen noch mehr zu geben, die schon am meisten haben, in der Hoffnung, dass ihr Wohlstand auf die anderen abfärben möge“.

Drei Monate vor seiner Wahl hatte Obama gewarnt: „Es wäre ein großer Fehler, dieselben politischen Techniken und dieselben Spieler einzusetzen und davon ein anderes Ergebnis zu erwarten.“ Ein Jahr später ist von einer Volksbewegung nichts mehr zu spüren. Und alle Reformvorhaben sind blockiert, aufgeweicht, zusammengeschnurrt – durch den Einsatz derselben Techniken und derselben Spieler.

Obamas Angst vor Experimenten

Auch bei der Zusammenstellung seines Kabinetts wagte Obama weniger Experimente, als es zunächst den Anschein hatte. Von Ausnahmen wie der gewerkschaftsnahen Arbeitsministerin Hilda Solis abgesehen, trifft das auf Außenministerin Hillary Clinton ebenso zu wie auf Verteidigungsminister Robert Gates, der direkt von Bush übernommen wurde. Das gilt auch für Finanzminister Timothy Geithner, der zu stark mit der Wall Street verbandelt ist, als dass von ihm ernsthaft eine Bankenreform zu erwarten wäre, und Obamas Wirtschaftsberater Lawrence Summers, der in der Clinton-Regierung eine zentrale Rolle bei der desaströsen Deregulierung des Finanzsektors gespielt hat.

Im Übrigen gilt die „Diversität“, die Obamas Mannschaft widerspiegeln soll, auf keinen Fall für die soziale Herkunft ihrer Mitglieder: 22 von 35 seiner engsten Mitarbeiter haben ihren Abschluss an einer US-Elitehochschule oder einer britischen Nobeluniversität gemacht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich die Demokraten immer wieder von der technokratischen Illusion leiten, wonach Kompetenz, Pragmatismus, Herrschaft der Besten („the best and the brightest“), Exzellenz und Expertentum das politische Leben zu bestimmen hätten.

Diese Philosophie, die sich der Präsident – seinem eigenen Werdegang zum Trotz – zu eigen macht, betrachtet die Aktivierung der Massen verächtlich als bloßen „Populismus“. Anfangs hoffte Obama auf ein Bündnis mit den vernünftigsten Kräften der Republikaner, um den Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen. Sein Angebot wurde ausgeschlagen. Die Republikaner können ihn einfach nicht ertragen, und haben ihre heftige Opposition erklärt.

Das Ganze erinnert an die frühen 1950er-Jahre, als Harry Truman im Weißen Haus residierte. Obwohl sich der Demokrat dem entschiedenen Kampf gegen den Kommunismus und die Sowjetunion verschrieb und das Land und die Profite von General Electric verteidigte, war er in den Augen eines Großteils der republikanischen Wähler ein Verräter. Senator Joseph McCarthy aus Wisconsin sprach von einer gigantischen „Verschwörung“, die alle Errungenschaften der Nation „zu Staub“ mache. Vier Jahre lang zog McCarthy gegen linke Politiker, Künstler und Gewerkschafter zu Felde, aber auch gegen Mitglieder der Regierung und der militärischen Führung.

Damals herrschte ein Klima der Angst. Davon kann heute keine Rede sein. Dennoch ist die Atmosphäre vergiftet: durch den in Talkshow-Auftritten artikulierten Hass und Verfolgungswahn der rechten Aktivisten, durch „Informationen“ des Fernsehsenders Fox-News, durch die Leitartikel des Wall Street Journal, fundamentalistische Kirchen und all die irren Gerüchte, die im Internet herumgeistern. Dieses mediale Getöse vernebelt die Köpfe und hindert die Leute am Nachdenken.

So sind heute Millionen Amerikaner der Überzeugung, dass ihr Präsident, weil im Ausland geboren, gar nicht hätte kandidieren dürfen. Der Sieg Obamas ist für sie nur durch Betrug, eine „riesige Verschwörung“, zustande gekommen. Die Vorstellung, dass ein Präsident das Land regiert, der zwei Jahre in einer muslimischen Schule in Indonesien zubrachte, der ein linker Bürgerrechtler war, ein Kosmopolit und Intellektueller, bringt sie in Rage. Sie behaupten felsenfest, dass die Gesundheitsreform nur der erste Schritt zu künftigen „Todestribunalen“ ist – zwecks Selektion von Kranken, denen eine medizinische Behandlung zuteil werden darf. Der harte Kern der Republikaner besteht aus solchen aufgehetzten Fußtruppen. Ausgerechnet solche Leute haben die Abgeordneten unter ihrer Fuchtel, mit denen der gemäßigte Zentrist Obama seine Politik des Neubeginns, seine Gesundheitsreform und die Regulierung der Finanzmärkte aushandeln wollte.

Diese Hoffnung erwies sich rasch als Illusion. Schon im Februar 2009 stimmte im Repräsentantenhaus nicht einer der 177 republikanischen Abgeordneten für Obamas Vorschlag, die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen. Bei der entscheidenden Abstimmung über die Gesundheitsreform im letzten November ging nur ein einziger Oppositionspolitiker mit der demokratischen Mehrheit. Im Dezember verabschiedete das Repräsentantenhaus das Gesetz zum Verbraucherschutz in der Kreditkartenbranche gegen die Stimmen aller Republikaner. Bei all diesen Gesetzesvorlagen wurden Änderungswünsche der Opposition eingearbeitet. Jedes Mal war die Hoffnung auf eine parteiübergreifende Mehrheit vergebens.

Bei der Finanzreform weiß heute noch niemand, wie das Gesetz aussehen wird, das der Präsident am Ende unterzeichnen wird. Im Senat reichen vierzig der hundert Mitglieder aus, um eine Abstimmung zu verhindern. Dann droht ein endloses Filibuster. Damit kann sich jeder der vierzig republikanischen Senatoren, aber auch jeder abtrünnige Demokrat, seine Stimme teuer bezahlen lassen. So hielt es der demokratische Abweichler Joseph Lieberman1 , der mit seinem Widerstand die Schaffung einer gesetzlichen Versicherung für Bürger ohne Versicherungsschutz verhindert hat. Was Wunder, dass die privaten Krankenversicherer zu den wichtigsten Sponsoren des Senators gehören.

Am 28. September 2008, als ein 700 Milliarden Dollar schwerer Bankenrettungsplan mit Hilfe des Präsidentschaftskandidaten Obama zustande kam, empörte sich der linke Abgeordnete Dennis Kucinich: „Sind wir der Kongress der Vereinigten Staaten oder der Verwaltungsrat von Goldman Sachs?“ Obama hielt die Frage offenbar für durchaus berechtigt, denn vor kurzem betonte er: „Ich habe keinen Wahlkampf geführt, um den Wall-Street-Bonzen zu helfen.“ Doch zu den zwanzig größten Geldgebern für seinen Wahlkampf von 2008 gehörten Goldman Sachs, Citigroup, J. P. Morgan, UBS und Morgan Stanley.2 William Greider hat das Dilemma der Demokraten in The Nation mit einer Frage benannt: „Können sie dem öffentlichen Interesse dienen, ohne die Banker zu vergrätzen, die ihre Kampagnen finanziert haben?“3

Sind die USA reformierbar? Das Regierungssystem zeichnet sich angeblich durch das Prinzip der „checks and balances“ aus. In Wahrheit handelt es sich um ein vielschichtiges System, das von der Macht des Dollar dominiert wird. Millionen junger Menschen engagierten sich 2008 im Wahlkampf, weil sie hofften, dass mit Obama nichts so bleiben würde, wie es war. Aber auch der neue Präsident betreibt immer wieder politischen Kuhhandel, kauft sich fehlende Stimmen, hofiert Abgeordnete, die er eigentlich verachtet.

Aber kann es anders sein? Auch die stärkste Persönlichkeit kann sich letztlich nicht gegen die Tyrannei der Strukturen behaupten. Schon gar nicht, wenn die Opposition so hysterisch agiert und die „Volksbewegung“ aus desorientierten Gewerkschaften und von der Regierung kooptierten schwarzen Aktivisten besteht, und aus größenwahnsinnigen Bloggern, die glauben, politischen Aktivismus am PC betreiben zu können.

Stochern in den Eingeweiden der Gesetze

Ein radikaler politischer Wandel in den USA ist so wahrscheinlich wie die Möglichkeit, alle Planeten auf dieselbe Umlaufbahn zu bringen. Ronald Reagan dagegen brauchte im Kongress nicht einmal alle republikanischen Stimmen, um seine Steuersenkungen für die Reichen durchzubringen.

Mit seiner Biografie hat Obama ein Missverständnis genährt. Zum einen, weil er viele feindliche Angriffe, aber auch hohe Erwartungen auf sich gezogen hat. Zum andern weil der US-Präsident schon lange nicht mehr der radikale Jugendliche ist, den er in seinen Memoiren beschreibt. Also der junge Mann, der zu sozialistischen Konferenzen fuhr, sich über den antikommunistischen Staatsstreich in Indonesien 1965 erregte, in Harlem für einen Verein arbeitete, der dem Verbraucherschutzanwalt Ralph Nader nahestand. Und nichts erinnert mehr an den afroamerikanischen Aktivisten, der sich seine Freunde sehr genau aussuchte, „um nicht in den Ruf eines Verräters zu kommen“. Das waren damals die aktivsten schwarzen Studenten, Ausländer, Chicanos, marxistische Professoren, Feministinnen und Punkrock-Poeten.4

Für die Republikaner beweist eine solche Vergangenheit nur, dass der Mann gefährlich ist: einer, der die individualistische Kultur Amerikas nicht verinnerlicht hat, der mit den „Feinden der Freiheit“ sympathisiert und sich als Erstes daranmacht, „das amerikanische Gesundheitswesen zu sozialisieren“. Viele progressiven Demokraten wiederum hoffen, dass ihr – vorerst enttäuschend agierender – Präsident eine fortschrittlichere Politik umsetzen wird, sobald es die Umstände erlauben. Und dass er das auch will.

Die Linke wiederum, schreibt der Journalist Alexander Cockburn, „stochert in den Eingeweiden jedes einzelnen Gesetzentwurfs herum, um noch die kleinsten Spuren eines demokratischen Siegs aufzuspüren“. Und ist sich dabei bewusst, dass die Zeit verrinnt: Bei den Zwischenwahlen im November 2010 dürfte die Wirtschaftsflaute noch nicht vorbei sein. Deshalb werden sich im Kongress die Reihen der Demokraten wohl lichten.

Über Obama wird letzten Endes zu viel gesprochen. Der Mann hat die Züge eines Übermenschen angenommen, dem man zutraut, alle gesellschaftlichen Mächte, Institutionen und Interessen zu bändigen. Wahrnehmungen dieser Art hat der US-Historiker Richard Hofstadter 1966 einem „paranoiden Stil“ zugeordnet. Damals dachte er vor allem an McCarthy und die zweite Garnitur der politischen Rechten, aber er rechnete damit, dass sich dieser Idealtypus irgendwann auch in anderen Erscheinungsformen ausprägen würde.

Heute ist es so weit. Die zunehmende Individuierung, die intellektuelle Trägheit, die ziellosen hysterischen Debatten, die Manipulation durch die Medien – aber auch der Niedergang des Marxismus – haben zu der allgemeinen Illusion geführt, der Feind sei – in den Worten Hofstadters – „im Gegensatz zu uns selbst nicht im Räderwerk der Geschichte, in seiner Vergangenheit, seinen Sehnsüchten und Grenzen gefangen, vielmehr sei er als Handelnder frei, aktiv und diabolisch“. Der Feind könne also „Krisen auslösen, Banken in den Konkurs stürzen, eine Depression herbeiführen, Katastrophen fabrizieren, um sich an ihnen zu ergötzen und das Elend seiner Opfer auszubeuten“.5

Der ultrakonservative Radiomoderator Rush Limbaugh wirft den Obama-Anhängern vor, sie hielten den Präsidenten für den Messias. Damit hat er nicht unrecht. Aber derselbe Limbaugh warnt Tag für Tag vor dem Antichrist.

Das eigentliche „Wunder“ der Wahlen vom November 2008 liegt womöglich in der Erkenntnis, dass es keine Wunder gibt. Das politische Geschehen ist in den USA – wie anderswo auch – nicht identisch mit der Persönlichkeit eines Mannes und auch nicht mit dem Willen eines Präsidenten.

Fußnoten: 1 Lieberman unterstützte im Präsidentenwahlkampf 2008 Obamas republikanischen Rivalen John McCain. 2 Vgl. die Liste des Center for Responsive Politics: www.opensecrets.org/pres08/contrib.php?cycle=2008&cid=N00009638. 3 William Greider, „The Money Man’s Best Friend“, The Nation, New York, 30. November 2009. 4 Barack Obama, „Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie“, München (Hanser Verlag) 2008, S. 115. 5 Richard Hofstadter, „The Paranoid Style in American Politics“, New York (Alfred Knopf) 1966, S. 32.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Serge Halimi