15.01.2010

Die Macht des freundlichen Riesen

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Die Macht des freundlichen Riesen

Brasilien wächst in seine globale Rolle von Lamia Oualalou

Die neue Außenpolitik ist neben den Sozialprogrammen die wichtigste Veränderung, die der Präsident von Brasilien, Inácio Lula da Silva, in seiner Regierungszeit durchgesetzt hat. Dem Chef der Arbeiterpartei (PT) gelang es, mit einer Elite zu brechen, die im 19. Jahrhundert der Lehre des englischen Imperiums gefolgt war und sich später der „Freien Welt“ unter US-amerikanischer Führung angeschlossen hatte.

„Es ist schon peinlich, dass Brasilien den Führer eines diktatorischen Unterdrückerregimes empfängt. Diplomatische Beziehungen zu Diktaturen zu unterhalten, ist eine Sache, deren Regierungschefs bei uns zu empfangen, eine andere“, kommentierte José Serra, Gouverneur von São Paulo und einer der wichtigsten Oppositionspolitiker des Landes, den Staatsbesuch des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad am 23. November letzten Jahres in Brasilien.1 Selten hat Serra den äußerst populären Präsidenten so scharf angegriffen.

Doch man sollte da Silvas Außenpolitik nicht als eindeutige ideologische Parteinahme werten – auch wenn seine beiden wichtigsten Unterstützer, Außenminister Celso Amorim und der außenpolitische Berater Marco Aurélio Garcia, sich klar links positioniert haben. Sie zeugt höchstens von einem soliden Pragmatismus in Wirtschaftsfragen, verbunden mit dem Gedanken, Brasilien habe aufgrund seiner Sklavenhaltervergangenheit Afrika gegenüber eine historische Schuld zu begleichen. Zudem ist er fest überzeugt, das Land müsse sich endlich von seinem „Bastardkomplex“ befreien, einer Haltung von jemandem, der kein Anrecht auf Führerschaft zu haben glaubt.

Bei seiner Amtseinführung am 1. Januar 2003 bereitete Lula da Silva dem kubanischen Präsidenten Fidel Castro von allen den herzlichsten Empfang. In den folgenden Monaten demonstrierte er zur Verzweiflung seiner Parteigenossen Übereinstimmung mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen George W. Bush. Denn der Präsident ist vor allem ein Gewerkschafter, der überzeugt ist, man müsse mit allen sprechen, und ein gutes Abkommen solle beiden Seiten gerecht werden, auch wenn es erst nach einer Kraftprobe zustande kommt. Und wie in den guten alten Streikzeiten der 1970er-Jahre gibt es für ihn keinen Grund, zwischen zwei Arbeitskämpfen nicht mit dem Boss einen Whisky zu trinken.

Für die übrige Welt begann Brasiliens außenpolitischer Aufstieg, als es im September 2003 die verschnarchte Tagesordnung des WTO-Gipfels in Cancún als Sprecher von 22 aufstrebenden Schwellenländern kräftig aufmischte. Zum ersten Mal stellten diese konkrete Forderungen an die reichen G-8-Länder zum Ausgleich für die Öffnung ihrer Märkte. „Dort, wo jemand etwas kaufen will, muss Brasilien da sein, um es ihm zu verkaufen“, das ist da Silvas Motto.

Seit Beginn seiner ersten Amtszeit verbrachte er 399 Tage im Ausland,2 meist in Begleitung einer Horde von Unternehmern. Seine oberste Priorität war Lateinamerika, dem folgten die großen Aufsteiger des Südens, Südafrika und Indien, dann China und Russland, aber auch traditionell von den Eliten vernachlässigte Regionen wie Mittelamerika, Afrika und der Nahe Osten. Im Mai 2005 fand in Brasília zum ersten Mal ein Gipfeltreffen südamerikanischer und arabischer Länder statt – unter Ausschluss der USA, die einen Beobachterstatus gefordert hatten –, und im folgenden Jahr traf man sich mit 54 afrikanischen Staaten im nigerianischen Abuja.

Im Itamaraty-Palast, dem Sitz des brasilianischen Außenministeriums, hatte man mit dieser neuen Politik zunächst große Schwierigkeiten. Die konservativen, größtenteils aus der Oberschicht stammenden Diplomaten pflegten eine deutliche Vorliebe für die sogenannte Elizabeth-Arden-Tour, die die Glamourmetropolen Rom, Paris, London und Washington umfasst.

Applaus kam dagegen von den Arbeitgebern, denn die Außenpolitik hielt mit der Expansion der brasilianischen Multis Schritt. Der Energieriese Petrobras, der Bergbaukonzern Vale, die führenden Bauunternehmer Odebrecht und Camargo Correa, der Fleischgigant JBS Fribol und der größte Hühnerzüchter BRF, der Flugzeughersteller Embraer, die Itaú-Bank – ganz zu schweigen von den Ethanol- und Sojaproduzenten – konnten ihre Exporte und Auslandsinvestitionen explosionsartig vergrößern. Mit der Entdeckung bedeutender Ölvorkommen wuchsen die Exporte Brasiliens noch weiter. China lieh Petrobras 10 Milliarden Dollar, um sich den Zugang zu den brasilianischen Ölreserven zu sichern. Im Jahr 2009 überholte China die USA als Hauptabnehmer brasilianischer Produkte.

Politik und Geschäft harmonieren jedoch am allerbesten in Lateinamerika selbst. Die Brasilianer profitierten als Erste von der stark wachsenden Nachfrage im benachbarten Venezuela. Als dort auch die Ärmsten den Konsum entdeckten, sah sich Caracas gezwungen, in Ermangelung eigener Landwirtschaft und Industrie Fleisch, Milch, Haushaltsgeräte und Ähnliches zunächst aus Kolumbien zu importieren, dann – infolge der immer schlechteren Beziehungen zu Bogotá – aus Brasilien.

Wirtschaft und Diplomatie

In Argentinien trägt der brasilianische Brauereikonzern Ambev Sorge, dass die Bevölkerung nichts von seiner Übernahme der traditionellen Biermarke Quilmes erfährt. Die wichtigsten argentinischen Fleischhersteller gehören mittlerweile Brasilianern, und genauso ist es in Uruguay, wo auch der zentrale Nahrungssektor Reis in brasilianischen Händen ist. In Bolivien sind es der Soja- und Gasmarkt, mehr als ein Fünftel der Wirtschaft des Landes. In Paraguay wächst auf den fruchtbaren Böden der Bezirke Alto Paraná, San Pedro, Concepción, Amambay und Canindeyú vor allem brasilianische Soja.

Die brasilianischen Unternehmer werden darin von der Nationalen Entwicklungsbank (BNDES) unterstützt.3 Für Matias Spektor, Professor für Internationale Beziehungen in Rio de Janeiro, „besteht das Ziel der brasilianischen Handelspolitik nicht nur darin, das Land reicher zu machen, sondern auch mächtiger“. Das führt zu Spannungen. Brasilien, das sich bislang gern als „freundlicher Riese“ präsentiert, wird jetzt manchmal des Imperialismus bezichtigt. Argentinien beklagt die Überschwemmung seines Markts mit brasilianischen Industrieprodukten, Ecuador wirft Odebrecht Pfusch bei einem Dammbau vor, in Bolivien unterstützen brasilianische Großgrundbesitzer, die sich im reichen westlichen Tiefland eingekauft haben, die Opposition gegen die Regierung von Evo Morales. Lula da Silva, der gute Geschäfte mit guter Nachbarschaft verbinden will, sah sich schon häufig gezwungen, energisch einzugreifen.

Denn seit dem Ende von Washingtons Lieblingsprojekt, der Amerikanischen Freihandelszone (FTAA, spanisch Alca), ist die regionale Zusammenarbeit zur wichtigsten Richtschnur für die brasilianische Politik geworden. „Brasiliens Interesse ist es, stabile Nachbarn zu haben und keine verarmten, von sozialen und politischen Krisen geschüttelten Länder“, erklärte Lula da Silva wiederholt. Im Mai 2006 stellte er diese Haltung erstmals unter Beweis, als er die Entscheidung von Evo Morales, die von Petrobras ausgebeuteten bolivianischen Gasfelder zu verstaatlichen, „souverän“ nannte, während die Presse schon den Einsatz der brasilianischen Armee gegen „die Albernheiten der bolivianischen Regierung“4 forderte.

Brasilien beendete auch den ewigen Streit mit Paraguay, dem anderen Nachbarn: Die für Asunción sehr ungünstigen Vertragsbedingungen zur Nutzung des riesigen binationalen Wasserkraftwerks am Itaipú auf der Grenze zwischen beiden Ländern wurden im Juli letzten Jahres geändert – eine wichtige Geste zur Stabilisierung der Regierung von Fernando Lugo, die sich so eines Sieges über den mächtigen Nachbarn rühmen konnte.

Für Washington und ebenso für die brasilianische Oberschicht sind die Präsidenten Fernando Lugo und Evo Morales Reizfiguren, doch lange nicht so sehr wie der Venezolaner Hugo Chávez, mit dem Lula da Silva ein festes Bündnis eingegangen ist. Beide haben sie sich geweigert, die Rede von den „zwei Linken“ zu bestätigen – auf der einen Seite die moderne, verantwortungsbewusste Linke, die sich um die finanzpolitische Stabilität sorgt, angeführt von Brasilien mit Chile und Uruguay; auf der anderen Seite die radikale, populistische und Anti-USA-Linke, zu der unter der Ägide von Venezuela und Kuba auch Bolivien, Ecuador und Nicaragua gezählt werden.

Sobald die Presse die Widersprüche zwischen beiden Ländern hervorhebt, organisieren Lula da Silva und Chávez rasch ein Gipfeltreffen, bei dem sie eine Brücke einweihen oder den Grundstein für eine Fabrik legen, um ihre Umarmungen von Kameras aus aller Welt filmen zu lassen. Bezichtigt man Chávez des Autoritarismus, dann unterstützt Brasília prompt den Beitritt Venezuelas zur südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur.

Das Bündnis zwischen den beiden Ländern ist der Schlüssel für die wichtigsten lateinamerikanischen Institutionen, die in den letzten Jahren entstanden. Die bedeutendste ist die Union Südamerikanischer Nationen (Unasur), die im Mai 2008 in Brasília gegründet wurde und der zwölf Länder der Region angehören. Sie soll die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ersetzen, deren Sitz in Washington schon ihre Abhängigkeit vom Weißen Haus bezeugt. Die Unasur besitzt einen gemeinsamen Verteidigungsrat, und es ist es ihr trotz anfänglicher Schwäche gelungen, die Spannungen zwischen Ecuador und Kolumbien5 zu befrieden und den konzertierten Umsturzversuch der bolivianischen Opposition im September 2008 zu vereiteln, indem sie die Legitimität der Regierung Morales stützte – beide Male ohne Intervention Washingtons.

Über die Unasur erhob Brasilien auch heftigen Einspruch gegen die Errichtung von sieben US-Militärbasen in Kolumbien. Konflikte in der Region sollen ohne Eingriffe von außen geregelt werden. Deshalb prangerte Lula da Silva auch die Reaktivierung der 4. US-Flotte im April 2008 an, die in den südamerikanischen und karibischen Gewässern patrouillieren sollte.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Brasilien und den USA zeigten sich jedoch am deutlichsten im Fall Honduras. Seit dem Staatsstreich vom 28. Juni 2009 forderte die Unasur die Wiedereinsetzung des Präsidenten Manuel Zelaya bis zum Ende seiner Amtszeit. Mit der Aufnahme des gestürzten Staatschefs in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa am 21. September 2009 trat Lula da Silva an vorderste Front. Aurélio Garcia schimpft: „Brasilien hat alle Sanktionen und Druckmittel eingesetzt, die ihm zur Verfügung stehen, aber das ist sehr wenig gegen das, was die USA hätten ausrichten können. Wenn wir deren Möglichkeiten besäßen, hätten wir sie auch genutzt.“

Die Gereiztheit verschärfte sich Ende November, als Barack Obama in einem Brief an seinen brasilianischen Amtskollegen seine Entscheidung verteidigte, die von der Putschregierung organisierte Wahl vom 29. November anzuerkennen (siehe nebenstehenden Artikel), und seine Positionen für die WTO-Verhandlungen und den Klimagipfel von Kopenhagen darlegte, die Brasilien offen kritisiert hatte. Der Brief traf am Vorabend des Ahmadinedschad-Besuchs in Brasilien ein und rief dem brasilianischen Präsidenten auch die im Iran begangenen Menschenrechtsverletzungen sowie die mit dem iranischen Atomprogramm verbundenen Risiken ins Gedächtnis.

Lula ist verärgert über die – wie er sagt – „Heuchelei“ der Staaten, die Nuklearwaffen besitzen. „Um die moralische Autorität zu haben, andere zum Verzicht aufzufordern, müssten diese Länder erst einmal selbst verzichten“, verkündete er Anfang Dezember und erinnerte daran, dass die brasilianische Verfassung ausdrücklich die Entwicklung einer Atombombe untersagt. Seine Vertrauten lassen durchblicken, es sei für ihn keine Frage, dass der Iran ein ziviles Atomprogramm aufbauen dürfe. Ein Verbot könne für Brasilien einen gefährlichen Präzedenzfall darstellen.

Für Lula da Silva ist die Aufnahme seines Landes in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) ein Ziel, das er obsessiv verfolgt, ebenso die Reform des Weltwährungsfonds (IWF), bei dem die großen Schwellenländer zwar einen bedeutenden Beitrag leisten, aber nur einen lächerlichen Stimmenanteil besitzen. Um bei den Großen mitzuspielen, übernahm er 2004 die militärische Leitung der UN-Friedensmission in Haiti, nachdem Präsident Aristide das Land verlassen musste.

Die UNO drängt Lula da Silva, weitere Truppen für Friedenseinsätze zu entsenden. Doch ohne eine UNO-Reform, mit der ihr Land wirkliches Gewicht bekäme, wollen sich die brasilianischen Militärs nicht in Einsätze verstricken, über die sie keinerlei Kontrolle haben – wie in Darfur oder im Kongo.

Der letzte Trumpf des brasilianischen Präsidenten ist der Einstieg seines Landes in die Friedensverhandlungen im Nahen Osten. Ende November empfing da Silva nicht nur Ahmadinedschad, sondern auch den israelischen Präsidenten Schimon Perez und den Chef der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas. „Nachdem Brasilien gezeigt hat, dass es nicht vollkommen auf der US-amerikanischen Linie liegt, könnte das Land als ehrlicher Vermittler anerkannt werden“, schätzt Thomas Trebat, Leiter des Instituts für Lateinamerikastudien an der Columbia University in New York.

Einmal mehr hofft Lula, der Verführer, seine Talente als Vermittler mögen ihm neue Türen öffnen, um Brasilien zu einer Weltmacht im eigentlichen Sinne zu machen.

Fußnoten: 1 Folha de São Paulo, 23. November 2009. 2 Zero Hora, Porto Alegre, 11.Oktober 2009. 3 Diese Bank unterhält Verbindungen zum Entwicklungs-, Industrie- und Außenhandelsministerium. 4 Estado de São Paulo, 16. Mai 2006. 5 Im März 2008 brach Kolumbien mit den elementaren Regeln der Souveränität, indem es ein Guerilla-Camp auf ecuadorianischem Gebiet bombardierte. Siehe auch Adriana Rossi, „Ecuador: Angriff und Verteidigung. Der Konflikt mit Kolumbien als Testfall für regionale Selbstbestimmung“, in: Le Monde diplomatique, April 2008.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Lamia Oualalou ist Journalistin in Rio de Janeiro, www.mediapart.fr/club/blog/lamia-oualalou.

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Lamia Oualalou