Dreieck des Misstrauens
Afghanistan als Schauplatz des indisch-pakistanischen Konflikts von Isabelle Saint-Mézard
Die historische Rivalität zwischen Indien und Pakistan – bislang auf Kaschmir konzentriert – hat sich seit einiger Zeit auf Afghanistan ausgeweitet und scheint inzwischen auf ein Nullsummenspiel hinauszulaufen, bei dem ein Sieg der einen Seite automatisch eine Niederlage für die andere bedeutet.
Der ohnehin harzige Friedensdialog, der 2004 begann, wurde durch die Terroranschläge von Mumbai am 26. November 2008 jäh beendet, als die Inder herausfanden, dass sie das Werk der Lashkar-e-Taiba (LET) waren, einer in Kaschmir aktiven pakistanischen Extremistengruppe, der enge Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst (ISI) nachgesagt werden. Die Regierung in Delhi verzichtete zwar auf die zunächst angedrohten „chirurgischen“ Luftschläge gegen die pakistanischen Lager der LeT, forderte aber – als Vorbedingung für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche – die Verhaftung und Aburteilung der langjährigen Anführer der Organisation. Am 27. November 2009 wurde in Pakistan Anklage gegen sieben LeT-Führer erhoben, allerdings befindet sich Hafiz Mohammed Saeed, den Washington wie Neu-Delhi für den Drahtzieher der Anschläge halten, nach wie vor auf freiem Fuß.
Die Politik Pakistans gegenüber Afghanistan hat sich im Grunde nie verändert. Für die Sicherheit des Landes war immer entscheidend gewesen, dass in Kabul eine loyale Regierung saß, und nichts fürchtete Islamabad so sehr wie die Ausdehnung des indischen Einflussbereichs auf den afghanischen Nachbarn. Denn damit wäre Pakistan von Osten wie von Westen bedroht.
In einer Art Abwehrreflex mischte sich die pakistanische Führung daher immer wieder in die afghanische Politik ein: Während der sowjetischen Besetzung (1979 bis 1989) unterstützten sie den Widerstand inklusive einiger radikaler Mudschaheddin-Gruppen, und anschließend die Taliban-Regierung bis zu deren Sturz im Jahre 2001. Nach wie vor unterhält Islamabad Beziehungen zu allen Konfliktparteien – auch zu den Taliban, in denen die Pakistaner noch immer ihre höchste Trumpfkarte sehen. Zumal sie stur an der Überzeugung festhalten, dass ihr Horrorszenario von der wachsenden Macht Indiens immer realistischer wird.
Es stimmt zwar, dass der Sturz des Taliban-Regimes es Indien tatsächlich ermöglicht hat, in Afghanistan Fuß zu fassen. Zumal Präsident Karsai in den 1970er-Jahren unter anderem in Indien studiert hat. Aber in Delhi herrschte schon immer eine tiefe Feindseligkeit gegen die Taliban, die man für eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes hält. Darum hat man schon in den 1990er-Jahren die Nordallianz von Ahmad Schah Massud unterstützt. Aus indischer Sicht war die Taliban-Herrschaft eine historische Anomalie. Immer wieder wurde die traditionelle Verbindung zwischen Indern und Afghanen beschworen und das buddhistische Erbe gepriesen, um die kulturellen und geschichtlichen Affinitäten zu belegen. In Delhi sah man Afghanistan offensichtlich stets als direktes Nachbarland, obwohl es keine gemeinsame Grenze gibt. Und nach 2001 hat sich die Dynamik der Beziehungen innerhalb des Dreiecks Afghanistan/Indien/Pakistan tatsächlich radikal verändert.
Seit 2002 beteiligt sich Neu-Delhi aktiv am internationalen Aufbau Afghanistans: Der Regierung Karsai wurden 1,2 Milliarden Dollar zugesagt, die vor allem für Infrastrukturprojekte und das Gesundheits- und Bildungswesen bestimmt sind. Mit dieser Summe liegt Indien in der Rangliste der Geberländer an sechster Stelle.2 Zudem wurden inzwischen neben der indischen Botschaft in Kabul Konsulate in Herat, Masar-i-Scharif, Jalalabad und Kandahar eröffnet, die Pakistan wiederum für logistische Stützpunkte des indischen Geheimdienstes hält, von denen aus die Destabilisierung pakistanischer Gebiete und besonders Belutschistans betrieben wird.
Der Machtwechsel von 2008, als das Regime von General Pervez Musharraf durch eine zivile Regierung abgelöst wurde, änderte kaum etwas an den Beziehungen zwischen den drei Ländern. Pakistans neuer Präsident Asif Ali Zardari zeigte sich willens, das Verhältnis zu Afghanistan zu verbessern, ihm fehlte jedoch die Macht, sich gegen die Militärs durchzusetzen, die in der Afghanistanpolitik das Sagen haben. Und die sehen nach wie vor eine indische Gefahr aus dem Westen.
Als sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechterte, wurden ab 2006 auch indische Staatsbürger, von denen drei bis viertausend in Afghanistan leben, zum Ziel terroristischer Angriffe. Insbesondere gab es zwei massive Attentate auf die indische Botschaft in Kabul. Bei dem ersten vom Juli 2008 hatte nach Angaben indischer und amerikanischer Geheimdienste der pakistanische Staat seine Finger im Spiel. Daraufhin entsandte Delhi zum Schutz seiner Staatsbürger paramilitärisches Personal nach Kabul, was das Misstrauen der Pakistaner nur noch weiter verstärkte.
Indien ärgert sich über die USA
Den USA war seit Beginn ihrer Intervention in Afghanistan klar, dass Pakistan bei der Lösung des Konflikts eine Schlüsselrolle zufiel. Tatsächlich machte Islamabad erhebliche Anstrengungen, das Al-Qaida-Netzwerk zu schwächen, widerstand aber zugleich allen Forderungen, Stützpunkte der afghanischen Taliban anzugreifen. Mit zunehmender Instabilität in Afghanistan wurde das Verhältnis zwischen den USA und Pakistan auf eine immer härtere Probe gestellt, wobei Washington abwechselnd mit großzügigen Finanzhilfen lockte oder Druck ausübte. Das kam bei den Pakistanern nicht besonders gut an, die nicht ohne Grund glaubten, dass sie im Krieg gegen den Terror schon genug Opfer gebracht hatten. Tatsächlich hat die Armee in den letzten Jahren mehrere Feldzüge gegen die Extremisten in den unübersichtlichen Stammesgebieten unternommen, zuletzt die Großoffensive vom vergangenen Oktober in Süd-Waziristan, auf die eine Welle von Anschlägen folgte.
Um das von Misstrauen geprägte Verhältnis zwischen Indien und Pakistan zu verbessern, boten die USA ihre Dienste als Vermittler im Kaschmirkonflikt an, auch um eine bessere Zusammenarbeit in der Afghanistanfrage zu fördern.3 Vor seiner Ernennung zum US-Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan (Problemzone „Af-Pak“) hatte Richard Holbrooke die Hoffnung geäußert, sein Mandat könnte auch auf Indien und Kaschmir ausgeweitet werden. Delhi war empört und setzte alle diplomatischen Hebel in Bewegung, die ihr im Rahmen der „strategischen Partnerschaft“ mit den USA zur Verfügung stehen. Denn die Kaschmir-Verhandlungen sind und bleiben für Indien nur auf bilateraler Ebene vorstellbar. Am Ende musste sich Richard Holbrooke mit einem Mandat für Afghanistan und Pakistan begnügen.
In Delhi kam gar nicht gut an, was über einen vertraulichen Bericht von General Stanley McChrystal kolportiert wurde, den der Oberkommandierende der amerikanischen Truppen und der Nato-Streitkräfte in Afghanistan am 24. September an Verteidigungsminister Robert Gates geschickt hat: „Der politische und wirtschaftliche Einfluss Indiens in Afghanistan nimmt ständig zu. Zudem wird die aktuelle afghanische Regierung von Islamabad als pro-indisch wahrgenommen. … Zwar kommen die indischen Aktivitäten vorwiegend dem afghanischen Volk zugute, aber dieser Einfluss verschärft wahrscheinlich die Spannungen in der Region und erhöht die Bereitschaft Pakistans zu Gegenschlägen in Afghanistan oder in Indien.“4
Letztlich haben die Inder nie verstanden und erst recht nicht gebilligt, dass Washington dem pakistanischen Kontrahenten die Rolle eines „wichtigen Partners“ im Kampf gegen den Terrorismus zuerkannt hatte. In Delhi glaubte man, dass die USA in Afghanistan nicht entschlossen genug vorgehen. Und vor allem, dass sie ihre Ziele deshalb nicht erreichen würden, weil sie das Problem nicht bei der Wurzel packen – also in Pakistan.
Nach dem Besuch des indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh in Washington schien das Missverständnis schon wieder ausgeräumt. In der abschließenden Erklärung vom 24. November „bekräftigen beide Seiten ihr gemeinsames Interesse an der Stabilität, Entwicklung und Unabhängigkeit Afghanistans, wie auch ihre Absicht, die Stützpunkte der Terroristen in Pakistan und Afghanistan zu zerstören. Präsident Obama begrüßt die Anstrengungen Indiens beim Wiederaufbau und bei der Stabilisierung Afghanistans.“5
Danach sah man in Indien die Lage wieder entspannter, zumal Präsident Obama auch eine klare Botschaft an den pakistanischen Präsidenten Zardari geschickt hatte. Sie enthielt die Forderung, dass „Pakistan mehr Anstrengungen im Kampf gegen alle terroristischen Gruppen unternimmt – gegen al-Qaida, das Haqqani-Netzwerk, die afghanischen Taliban, die pakistanischen Taliban und die Lashkar-e-Taiba“.6 Dies ist auch eine Bedingung dafür, dass Pakistan die stattlichen Finanzhilfen von über einer Milliarde Dollar erhält, die das Kerry-Lugar-Gesetz für die nächsten fünf Jahre vorsieht.
Präsident Zardari dürfte allerdings Probleme haben, den Forderungen Washingtons nachzukommen, denn seine Machtbasis schwindet. Am 18. Dezember 2009 hat der Oberste Gerichtshof eine 2007 erlassene Generalamnestie aufgehoben, die all jenen Straffreiheit zusichert, gegen die Korruptionsverfahren liefen, darunter auch der heutige Präsident. Der genießt jetzt zwar Immunität, aber einige seiner Minister – darunter der Innenminister und der Verteidigungsminister – müssen sich der Anklage stellen. Der Handlungsspielraum Zardaris schrumpft also immer weiter. In der Praxis dürfte die Armeeführung entscheiden, ob Pakistan die Forderungen aus Washington erfüllen wird.
Mindestens in einem sind sich die Regierungen in Islamabad und Delhi allerdings einig: in ihrer Skepsis über die Erfolgsaussichten der internationalen Allianz in Afghanistan. Aber die feindlichen Nachbarn ziehen daraus völlig unterschiedliche Konsequenzen. In Islamabad geht man davon aus, dass sich die westliche Allianz früher oder später zurückziehen wird – also hat man kein Interesse daran, die Gruppierungen der Taliban zu bekämpfen, die in Afghanistan vielleicht in absehbarer Zeit wieder das Sagen haben werden. Folglich plädiert Pakistan entschieden für Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und diesen Talibangruppen. Islamabad will sich damit als unentbehrlicher Vermittler ins Spiel bringen, mit dem Ziel, in einem möglichst frühen Stadium Einfluss auf den Verhandlungsprozess zu gewinnen.
Indien dagegen muss sich vor den Folgen eines allmählichen Rückzugs der Alliierten fürchten. Denn der würde ein noch immer fragmentiertes Afghanistan zurücklassen, das Einflüssen von außen schutzlos ausgeliefert ist – etwa durch Pakistan. Bei einem solchen Szenario gehen die Inder davon aus, dass der pakistanische Geheimdienst die chaotischen Bedingungen ausnutzen könnte. Dann würden womöglich wieder die alten Ausbildungslager für Terroristen entstehen, die ihre Attentate erneut auf Ziele in Indien richten könnten.7 Entsprechend betrachtet Delhi eine Versöhnung der afghanischen Konfliktparteien mit Vorbehalt, weil dies Verhandlungen mit militanten Taliban-Fraktionen bedeuten könnte.
Die größte Sorge bereitet den Indern die zunehmend instabile Lage in Pakistan.8 In Delhi herrscht der Eindruck vor, dass der pakistanische Geheimdienst mehr und mehr die Kontrolle über seinen Zauberlehrling verliert – jene Hydra aus fundamentalistischen Gruppierungen, die er über lange Zeit gefördert, manipuliert und bewaffnet hat. Dass die pakistanischen Machthaber hier noch das Steuer herumreißen könnten, wird in Indien weithin bezweifelt. Die größten Pessimisten befürchten eine Verschärfung des Konflikts in Afghanistan bei gleichzeitiger Destabilisierung Pakistans: Damit würde in unmittelbarer Nähe Indiens eine unkontrollierbare Krisenlage entstehen.
Dieses düstere Szenario hält die indische Regierung nicht davon ab, ihre Interessen in Afghanistan zu verteidigen. Wobei sie auf eine mittelfristige Strategie setzt, um über den Hindukusch einen privilegierten Zugang zu Zentralasien zu erlangen, vor allem zu Kasachstan und Turkmenien mit ihren großen Energieressourcen. Wenn dies gelingt, wird Pakistan für Indien kein geopolitisches Hindernis mehr darstellen. Ein für allemal.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Isabelle Saint-Mézard lehrt am Institut d’études politiques de Paris und am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco), ihr Spezialgebiet sind Sicherheitsfragen in Südasien. Zuletzt veröffentlichte sie (mit Jean-Luc Racine) L’Inde et l’Asie, Paris (CNRS Édition) 2009.