15.01.2010

Der russische Freund

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Der russische Freund

Die Ukraine schaut nach Osten und geht nach Westen von Mathilde Goanec

Russlands Präsident Dmitri Medwedjew wandte sich im August 2009 in einer Rede an sein Volk und die ukrainischen Nachbarn. Vor zauberhafter Postkartenlandschaft verkündete er eine schlechte Botschaft: „Unsere bilateralen Beziehungen mit der Ukraine waren noch nie so schlecht. Seit dem Angriff Georgiens auf Südossetien, als mit ukrainischen Waffen russische Zivilisten und Soldaten getötet wurden, verfolgt die ukrainische Regierung eine offen antirussische Politik.“ Schuld daran sei in erster Linie der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko, weil er im August 2008 bei dem Konflikt zwischen Russland und Georgien seinen georgischen Amtskollegen Michail Saakaschwili unterstützt habe.

Die russische Staatsmacht kann noch so rücksichtslos auf Juschtschenko einprügeln, im Westen regt sich niemand mehr darüber auf. Der einstige Hoffnungsträger der Europäer und vieler Ukrainer gilt heute in der ukrainischen Politik als Paria, der den Osten verraten hat und den Westen nicht zu verführen vermochte. Deshalb steht er bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 17. Januar mit geringen Chancen da, ohne Geld und Unterstützung. „Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland haben sich seit der orangenen Revolution von 2004 verschlechtert“, sagt Anatoli Slenko, 1994 bis 2005 Außenminister unter Leonid Kutschma. „Juschtschenkos Mannschaft nahm gegenüber Russland eine Haltung ein, die auf Pragmatismus beruht und nicht auf enger Freundschaft.“

Seit 1997 verkehren Russland und die Ukraine auf der Basis eines „Big Treaty“. Dieses Geflecht aus bilateralen Verträgen deckt alle möglichen Gebiete ab (Energie, Wirtschaft, Militär, Kultur, Hilfsaktionen etc.). Gleichzeitig verfolgen beide Länder Interessen, die mit dem Geist des Vertrags unvereinbar sind. Seit dem Machtantritt von Wladimir Putin – 1999 als Ministerpräsident, von 2000 bis 2008 als Präsident – verfolgt Moskau das Ziel, seinen Einfluss in den postsowjetischen Staaten auszubauen. „Weder Polen noch die baltischen Länder, nicht einmal der Kaukasus sind den Russen so wichtig“, meinte Ende 2008 Miroslaw Popowitsch, Philosophieprofessor in Kiew. „Schon Zar Nikolaus I. verkündete, dass er die Ukraine niemals aufgeben werde. Das Land gehört zum traditionellen Einflussgebiet des Kremls, der darauf nicht verzichten wird.“ Von seinem Triumph im Jahr 2004 getragen, stellte Juschtschenko dieses Paradigma immer wieder infrage und packte heikle Themen an.

Besonders umstritten ist die Aufnahme der Ukraine in die Nato. Die Integration in das Bündnis steht schon seit Jahren auf der außenpolitischen Agenda des Landes – bereits am 9. Juli 1997 wurde mit der Nato-Ukraine-Charta ein Partnerschaftsvertrag unterzeichnet. Die Nato unterhält in Kiew ein Informationszentrum und die Ukraine eine militärisches Verbindungsbüro in Brüssel – ohne dass sich Moskau deshalb übermäßig darüber aufgeregt hätte. „2002 unterbreitete ich unser Konzept für die Beziehungen zur Nato, dessen Endziel im Beitritt bestand“, erinnert sich Slenko. „Ich habe mit dem russischen Präsidenten mehrfach darüber gesprochen. Er war einverstanden, er akzeptierte unsere Entscheidung. Aber Präsident Kutschma verstand sich auch ausgezeichnet mit Putin. Sie sahen sich mindestens einmal im Monat. Das ist jetzt ganz anders.“

Juschtschenkos hartnäckige Kritik an Moskau und seine guten Beziehungen zu den USA verhärteten die russische Position, weshalb für den Kreml ein Nato-Beitritt der Ukraine heute nicht mehr infrage kommt. In einer Erklärung Medwedjews vom Mai 2009 heißt es, es sei für Russland „inakzeptabel, dass die Nato ihre Militärpräsenz an seine Grenzen ausdehnt.“ Unausgesprochen stellt sich auch die Frage der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim. Der Vertrag, der die Stationierung in Sewastopol bis 2017 genehmigt, wurde von Juschtschenko im Kontext der Georgienkrise infrage gestellt.

Und dann ist da noch das Erdgas, Hauptsorge der Europäer und im Zentrum der wiederkehrenden Konflikte zwischen Kiew und Moskau. Auch da wurden die in den 1990er-Jahren zwischen den Staaten abgeschlossenen Verträge durch undurchsichtige Abkommen ersetzt, die direkt von Gazprom und Naftogas, den staatlichen Gasgesellschaften Russlands und der Ukraine, und einer Reihe von Vermittlern unterzeichnet wurden. Die Krisen von 2006 und 2008, die in einen Lieferstopp nach Europa mündeten, haben das ukrainische System anfälliger denn je gemacht. Das Kalkül ist klar: Die Ukraine schwächen, um ihre Transitleitungen zu übernehmen, ihre einzige strategische Waffe. Die chronische Unterfinanzierung von Naftogas und die Schwäche der ukrainischen Regierung spielen Gazprom dabei in die Hände.

Auch der vom Westen lange unterschätzte „Krieg der Erinnerungen“ hat zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern beigetragen. Getreu seinem Wahlversprechen setzte sich Juschtschenko für die Aufwertung der ukrainischen Nationalsprache und -kultur ein; dabei ging es vor allem um die Rekonstruktion der Geschichte des ukrainischen Volkes. Exemplarisch dafür ist das Ringen um die internationale Anerkennung des „Holodomor“, der großen Hungersnot von 1932/33.

Zwei Versionen der ukrainischen Geschichte

Für den Präsidenten waren die Millionen Bauern, die damals verhungerten, Opfer eines von Stalin angeordneten Völkermords, der damit dem ukrainischen Nationalismus ein Ende machen wollte. Für die Russen verbirgt sich hinter Juschtschenkos Initiative hingegen der Versuch, die gemeinsame Geschichte umzuschreiben. Der Streit um den Holodomor war auch einer der Gründe, warum Medwedjew im Mai 2009 die Bildung einer Kommission „zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ anordnete, der neben dem Leiter der russischen Archivverwaltung und vier Historikern vor allem hohe Beamte des Justizministeriums, der Auslandsaufklärung, des Generalstabs, des Außenministeriums, des Sicherheitsrats, des Inlandsgeheimdienstes und der Präsidialverwaltung angehören.

Viel problematischer ist jedoch die Kluft zwischen den Bewohnern auf beiden Seiten der kaum sichtbaren Grenze. Anfang 2009 stellte eine Studie des unabhängigen Rasumkow-Zentrums in Kiew fest, dass unter der russischen Bevölkerung vermehrt negative Meinungen über ihre ukrainischen Nachbarn vorherrschten. Dies sei vor allem auf die Propaganda der russischen Medien zurückzuführen.1

Am Vorabend der Präsidentenwahl sind die diplomatischen Beziehungen an einen toten Punkt gelangt: Russland lehnte es im letzten Sommer ab, einen Nachfolger für den früheren russischen Botschafter in der Ukraine, Wiktor Tschernomyrdin, zu entsenden. Seit Medwedjews Amtseinführung im Mai 2008 gab es keine offizielle Zusammenkunft der beiden Präsidenten, lediglich ein Gespräch zwischen Tür und Angel beim GUS-Gipfel in Sankt Petersburg 2008. Und beim nächsten Gipfel in Chisinau 2009 hat der russische Präsident seinen ukrainischen Amtskollegen sogar demonstrativ ignoriert.

Es stellt sich die Frage, ob sich das nach der Präsidentschaftswahl ändern wird. Die Kandidaten selbst stiften jedenfalls schon jetzt einige Verwirrung, indem sie Grenzen zwischen prorussischen und prowestlichen Kräften verwischen – die das entscheidende Merkmal der orangenen Revolution von 2004 waren. Wiktor Janukowitsch, der derzeit in den Umfragen an der Spitze liegt, war damals der Verlierer, als nach Wahlbetrugsvorwürfen und massiven Protesten eine erneute Stichwahl zwischen ihm und Juschtschenko angeordnet worden war. Fünf Jahre später nun versucht Janukowitsch, der unter Kutschma zwischen 2002 und 2004 Ministerpräsident war, über seine traditionelle russischsprachige, vor allem im Osten der Ukraine lebende Wählerschaft hinaus neue Anhänger zu gewinnen. Dafür muss er sein Image als Marionette Moskaus loswerden. „Natürlich argumentiert er heute anders“, meint Sascha Tessier-Stall vom Internationalen Zentrum für politische Studien in Kiew. „Janukowitsch ist nicht mehr so offen prorussisch. Auch wenn er die übertriebene Europabegeisterung kritisiert, hält er daran fest, dass die Zukunft der Ukraine in Europa liegt.“

Tatsächlich hat Janukowitsch nichts von einem Ideologen. Beobachter halten seinen Spielraum für beschränkt, da seine Politik gegenüber Russland von den widerstreitenden Interessen seiner Sponsoren und den Rivalitäten innerhalb seiner Partei der Regionen (PR) beeinflusst werde. Der von den Medien als „prorussisch“ bezeichneten Partei haben sich vor allem ukrainische Unternehmer angeschlossen, die nur ihre Interessen gewahrt sehen wollen. Janukowitsch vermeidet daher allzu gewagte Stellungnahmen: „Die meisten ukrainischen Bürger sind enger mit Russland verbunden als mit jedem anderen Land“, erklärt er. „Wenn ich Präsident werde, möchte ich die vorteilhaften Beziehungen zu Russland wieder aufnehmen und die negativen Entwicklungen der letzten fünf Jahre rückgängig machen.“

Auch seine Gegnerin, die derzeitige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, hat sich von ihren früheren außenpolitischen Positionen weit entfernt, die sie noch 2007, etwa in der Zeitschrift Foreign Affairs, vertreten hatte.2 Die einstige Muse der orangenen Revolution und Weggefährtin Juschtschenkos weiß, dass sie die Unterstützung Moskaus braucht, um zu gewinnen. Als raffinierte Taktikerin bewegt sie sich daher zwischen zwei Polen. „Timoschenkos Wähler leben eher im Westen der Ukraine als im Osten“, erklärt Sascha Tessier-Stall: „Sie kann also nicht von der Freundschaft zu Russland reden, sondern höchstens von Partnerschaft, selbst wenn sie eine prorussische Politik vertritt.“ Die demonstrative Vertrautheit zwischen Putin und Timoschenko bei einem Treffen in Jalta im November schien darauf hinzudeuten, dass man der ukrainischen Ministerpräsidentin zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen in Sachen Erdgas keine Hindernisse in den Weg legen würde.

Der Außenseiter in diesem Wahlkampf, der junge Arseni Jasenjuk, bei Umfragen an dritter Stelle, vertritt eine ganz neue Strategie: „Meine Botschaft ist klar: Wenn uns die Europäische Union aufnehmen will, sind wir sofort bereit. Aber ich kann nicht zwanzig Jahre auf die Aufnahme warten. Ich muss jetzt ein starkes Land aufbauen.“ Der Jurist war 2007 für einige Monate Außenminister. Er plädiert für eine Art neuer GUS, die sich klar dem Osten zuwendet. „Derzeit ist die GUS eher ein Teesalon für Präsidenten. Ich glaube, Kiew ist bereit für eine neue Integration mit Aserbaidschan, Moldawien, Weißrussland, Russland und Georgien. Mit einer gemeinsamen Energie-, Landwirtschafts- und Transportpolitik und einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Wir leiden alle unter der gleichen Krankheit, also können wir auch die gleichen Rezepte einsetzen.“

Hinter den Kulissen offenbaren sich die Ziele der Kandidaten. Oppositionsführer Janukowitsch hat sich mit amerikanischen Spin-Doctors umgeben, die den Republikanern nahestehen. Finanziert wird er von Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine. Der Milliardär und „König des Donbass“, einer Industrieregion in der Ostukraine, hat aus seinen Sympathien für Russland nie einen Hehl gemacht, auch wenn er dem russischen Einfluss auf die Wirtschaft misstraut. Dmitri Firtach, ein undurchsichtiger ukrainischer Geschäftsmann mit engen Verbindungen nach Russland, soll ebenfalls seine Hand im Spiel haben und Janukowitsch unterstützen – aber auch Jasenjuk.

Julia Timoschenko hat die PR-Agentur AKPD beauftragt, die auch Obamas Wahlkampf promotet hat. Timoschenkos Hauptsponsor soll der schwerreiche Wiktor Pinschuk sein, Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Kutschma und 2004 noch Janukowitschs Mentor. Die verschiedenen ukrainischen Oligarchenclans haben sich also die wichtigsten Kandidaten gefügig gemacht, um ihre guten Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden.

Weltweit, nicht nur im ukrainischen Präsidentschaftswahlkampf, richtet sich der Blick auf Russland und seine Führungsrolle im geografischen Raum der ehemaligen Sowjetunion. „Frankreich, Deutschland, Italien, die USA, alle erkennen jetzt die Bedeutung Russlands an“, sagt Anatoli Slenko. „Und unsere Außenpolitik hängt natürlich von den globalen Entwicklungen ab.“ Die ukrainischen Politiker machen sich keine Illusionen mehr über eine schnelle Integration in die Europäische Union, die angesichts ausbleibender Reformen im Land die Geduld verliert. Pierre Lellouche, der französische Staatssekretär für Europaangelegenheiten, hat es im November in Kiew ziemlich deutlich gesagt: Die Aufnahme in die EU steht weder kurz- noch mittelfristig auf der Tagesordnung.

Russland hält sich derweil zurück. 2004 hatte Putin den Zorn der Ukrainer auf Kutschmas autoritäres Regime unterschätzt, als er für seinen Favoriten Janukowitsch eintrat. Die Ukrainer waren empört über Putins Einmischung. Die Methode hat sich nun geändert, aber der Kreml verfolgt immer noch die gleiche Strategie. „Russland will eine stabile, gefestigte Ukraine unter seiner Vorherrschaft“, meint Petro Burkowsky vom Internationalen Zentrum für politische Studien. „Angesichts der aktuellen Schwäche des ukrainischen Staats versucht es die russische Regierung diesmal auf die sanfte Tour, zumal die Gefahr einer schnellen Integration in die westlichen Sicherheitsstrukturen in weite Ferne gerückt ist.“

Fußnoten: 1 Institut Razumkow, National Security & Defence, Kiew, Nr. 4 (108), 2009. 2 Foreign Affairs, New York, Mai/Juni 2007.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Mathilde Goanec ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Mathilde Goanec