15.01.2010

Organisierte Verwirrung

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Organisierte Verwirrung

Der EU-Vertrag und die europäische Außenpolitik von Federico Santopinto

Gut acht Jahre Verhandlungen, etliche Konferenzen und EU-Gipfel, Gefeilsche und Verfassungsreferenden, Krisen und Kompromisse: Es war eine schwere Geburt, bis der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft treten konnte. Die EU-Verfassung blieb dabei allerdings auf der Strecke.

Und der Hürdenlauf geht weiter. Die institutionellen Reformen etwa, die eine einheitliche Außenvertretung der EU bringen sollten, leiden unter vagen Formulierungen, die sogar teilweise unverständlich sind, sodass schwierige Nachverhandlungen absehbar sind.

Zu den wichtigsten Neuerungen gehören der Präsident des Europäischen Rats – der 30 Monate amtiert und einmal wiedergewählt werden kann – und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, der zugleich Vizepräsident der EU-Kommission ist. In diese Ämter wählte der Rat am 23. November 2009 den Belgier Herman Van Rompuy und die Britin Catherine Ashton. Außerdem wurde der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) geschaffen, der dem Hohen Vertreter untersteht. Diese neue Architektur ergänzt die bestehenden Institutionen, was die Koordination des Ganzen nicht eben leichter macht.

Das inkohärente außenpolitische Agieren der EU rührt von einem Widerspruch, der sich durch die gesamte Geschichte der EU zieht. Einerseits wissen die Mitgliedstaaten, dass sie international immer weniger Einfluss haben, wenn sie nicht mit einer Stimme sprechen. Andererseits schrecken sie vor einer gemeinsamen Außenpolitik zurück, die sie dann nicht mehr kontrollieren könnten. Sie wollen ein stärkeres Europa, ohne souveräne Rechte abzutreten. Und so schaffen sie seit Jahren extrem komplizierte Institutionen und Verfahren und hoffen auf eine Zauberformel, die ihre verschiedenen Interessen versöhnen soll. Der Vertrag von Lissabon sollte diese Widersprüche endlich entwirren, scheiterte aber wieder an denselben Klippen.

Ein Ausflug in die Geschichte mag die Situation erhellen: Die Kompetenzen der EU beschränkten sich zunächst auf die Wirtschaft (Montanunion, EWG). Über die ökonomische Dimension mischte sie dann immer mehr auf der internationalen Ebene mit. Jenseits ihrer Zuständigkeit für Handelsfragen (die sie etwa im Rahmen der WTO wahrnimmt) zeigt sie inzwischen auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik ein eindrucksvolles Engagement.1 Als eines der Gebiete, auf dem die EU auf Dauer ein eigenes Profil entwickeln will, sind für die Entwicklungspolitik sowohl die Kommission als auch das Europäische Parlament zuständig.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) wurde 1993 im Rahmen des Maastricht-Vertrags etabliert – vor dem Hintergrund der Kriege in Exjugoslawien, die aller Welt die Ohnmacht der EU offenbarten. Die Gasp wurde 1999 durch die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ergänzt. Das zeugte einerseits vom Willen der Europäer, nach dem Ende der bipolaren Weltordnung über die rein wirtschaftliche Dimension hinauszugelangen; andererseits vom Willen der einzelnen Mitgliedstaaten, die Kontrolle über diese Ausweitung der Zuständigkeiten zu behalten.

Und so haben EU-Kommission, Parlament und Europäischer Gerichtshof in der Gasp und der ESVP auch nichts zu sagen. Das hat nur der Rat, der die Mitgliedstaaten repräsentiert und in Fragen der Außenpolitik einstimmig entscheidet. Dieser Logik unterlag auch das 1999 geschaffene Amt des „Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“. Der erste Amtsinhaber Javier Solana war lediglich eine Art Superbotschafter ohne echte politische Entscheidungskompetenz. Für Entwicklungszusammenarbeit und Handelsfragen blieb die Kommission zuständig.

Die globalen Entwicklungen seit der Jahrtausendwende machte Reformen unumgänglich. Durch das Auftreten neuer „Bedrohungen“ wie Terrorismus, „failed states“, internationale organisierte Kriminalität und Migrationsströme wurde die Entwicklungszusammenarbeit zu einem wichtigen strategischen Instrument der Außenpolitik, zumal die Kriege im Irak und in Afghanistan die Grenzen militärischer Macht aufzeigten. Damit offenbarte sich auch die inkohärente Funktionsweise der EU-Organe, insofern die Zuständigkeiten für Entwicklungszusammenarbeit sowie für Gasp und ESVP auf unterschiedliche Organe verteilt waren; wobei auch noch Erstere dem Bereich der Gemeinschaftspolitik zugehört, Gasp und ESVP dagegen dem Bereich der zwischenstaatlichen Kooperation.

Außerdem war jede der Institutionen für sich schon ein komplexes Gebilde. So verteilen sich etwa die außenpolitischen Aktivitäten der EU-Kommission auf sechs Generaldirektionen, die vier verschiedenen Kommissaren unterste-hen2 , und natürlich mischt auch noch der Kommissionspräsident mit. Den Rat wiederum repräsentierte nicht nur der Hohe Vertreter für die Gasp, sondern auch der Mitgliedstaat, der gerade die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft innehat.

Regelungen voller Rätsel und Widersprüche

Vor dem Hintergrund dieser institutionellen Aufsplitterung tritt nun der Vertrag von Lissabon in Kraft. Nach der neuen Konstruktion fällt die wichtigste und heikelste Aufgabe dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu: Er vereinigt jetzt die Kompetenzen des früheren Hohen Vertreters und die der Kommission, deren Vizepräsident er gleichzeitig ist. Diese Lösung ist kaum dazu angetan, ein kohärentes Auftreten der EU nach außen zu gewährleisten, denn an dem Dualismus zwischen Kommission und Rat ändert sich damit gar nichts. Wenn der Hohe Vertreter zum Beispiel bei der Entwicklungspolitik mitreden will, tut er das im Rahmen der traditionellen, quasi supranationalen Befugnisse der Kommission. Auf diplomatisch-militärischem Feld dagegen agiert er nur – wie schon vor Lissabon – als Beauftragter der Mitgliedstaaten, der selber nichts entscheiden kann. Die neuen Regelungen schaffen also nur eine Brücke zwischen beiden Bereichen, ohne das Grundproblem zu lösen.

Das durch den Lissabon-Vertrag geschaffene Institutionengefüge steckt also voller Rätsel und Widersprüche, die das Durcheinander nur noch größer machen. Die Belgier, die im Juli 2010 den EU-Ratsvorsitz übernehmen werden, haben bereits verkündet, dass die jeweilige Ratspräsidentschaft in die Gasp eingebunden bleiben muss, obwohl der Vorsitz im Rat der Außenminister auf den Hohen Vertreter übergegangen ist. Die Spanier als aktuelle Ratsvorsitzende scheinen derselben Meinung zu sein. Wenn das Schule macht, werden in der EU-Außenpolitik nach Lissabon statt drei nunmehr vier Köche am Werk sein.

Noch komplizierter wird es durch die jüngste Reform der EU-Kommission: Ab Februar werden drei Kommissare und fünf Generaldirektionen für die Außenbeziehungen zuständig sein – zusätzlich zum Hohen Vertreter und dem neuen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Dieser EAD soll verschiedene Funktionen übernehmen, die aktuell noch auf Rat und Kommission verteilt sind. Wo genau er zwischen beiden Institutionen angesiedelt sein soll, ist noch unklar. Ebenso wenig geklärt ist das Verhältnis des EAD zum Parlament – das zwar die Kommission, nicht aber die Gasp kontrollieren darf.

Zudem bleibt im Vertrag von Lissabon unklar, wo der Hohe Vertreter und Vizepräsident der Kommission in der EU-Hierarchie angesiedelt ist. Die Kommissare sind grundsätzlich dem Kommissionspräsidenten rechenschaftspflichtig – der sie auch entlassen kann. Aber gilt das auch für Catherine Ashton, die ja in erster Linie durch den Rat benannt und legitimiert ist? Wie steht es also um deren Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten? Jenseits der europäischen Grenzen agiert die Kommission künftig mit zwei Köpfen. Aber jetzt wird der Dualismus der EU-Außenpolitik womöglich auch innerhalb der Kommission verankert.

All diese offenen Fragen sollen nach der Ratifikation noch weiter geklärt werden. Die Lebensfähigkeit der neuen Institutionen wird aber auch von ihrer personellen Besetzung abhängen. Van Rompuy und Ashton gelten als profillos. Ihre Wahl ist ein erneuter Beweis dafür, dass die EU-Regierungen die gemeinsame Außenpolitik keineswegs aus der Hand geben wollten.

Weder die Überkomplexität noch die administrative Schwerfälligkeit der Union werden durch den Vertrag von Lissabon beseitigt. Wobei ohnehin fraglich ist, ob das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik durch institutionelle Regelungen zu kompensieren ist. Schließlich verfolgen die Mitgliedstaaten in der Außenpolitik nur allzu oft ganz eigene Interessen gemäß ihrer strategischen Prioritäten.

Das zeigt sich am schlagendsten bei der Energiepolitik. Eine gemeinsame Linie in diesem Bereich wäre für den europäischen Einigungsprozess bedeutsamer als jede institutionelle Reform. Woran es hier fehlt, zeigt sich etwa in der EU-Politik gegenüber Russland.3 Da betreibt der europäische Energiegigant British Petroleum gemeinsam mit dem US-Konzern Chevron die Ölpipeline Baku–Tiflis–Ceyhan, die durch Georgien verläuft, während Deutschland auf die Nordstream-Pipeline durch die Ostsee setzt, die russisches Gas an halb Europa vorbei nach Westen bringen soll. Ist es daher verwunderlich, dass sich London und Berlin in der Georgienkrise und gegenüber Moskau unterschiedlich verhalten haben?4

In Vorträgen und Vorlesungen zum Aufbau Europas wird immer wieder auf das „Prinzip der kleinen Schritte“ verwiesen, womit die – gerechtfertigten – Grenzen wie die Mängel der europäischen Integration erklärt werden sollen. Heute werden mit diesem Argument allerdings eher die Kompromisse legitimiert, die das System immer unübersichtlicher und vertrackter machen. Das aber läuft auf die Weigerung hinaus, über die Inhalte künftiger Politik gründlich nachzudenken.

Fußnoten: 1 Für Entwicklungshilfe sind in der laufenden Haushaltsperiode 5 Prozent des EU-Haushalts (mehr als 7 Milliarden Euro) vorgesehen. Für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) sind bis 2013 jährlich 250 Millionen Euro bereitgestellt. 2 Dies waren von 2004 bis 2009: Außenpolitik (Catherine Ashton), Entwicklung und humanitäre Hilfe (Karel de Gucht), Erweiterung (Olli Rehn), Handel, Europäische Nachbarschaftspolitik, EuropeAid (Benita Ferrero-Waldner). 3 Vgl. Mathias Reymond, „Energiemarkt mit beschränkter Regulierung“, Le Monde diplomatique, Dezember 2008. 4 Vgl. Michel Foucher, „Quelles frontières et quel projet pour l’Union?“, Le Monde diplomatique, Mai 2007.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis

Federico Santopinto ist Forscher bei der Groupe de Recherche et d’information sur la Paix et la Sécurité (Grip) in Brüssel.

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Federico Santopinto