Patentrechte und Gemeingüter
Neue Regeln für Big Pharma von Germán Velásquez
Die Pharmaindustrie blickt auf eine „große Vergangenheit“ zurück. Aber das war einmal. Heute sei die Branche von drei Übeln befallen: „Verschwendung, Lügen und Korruption“, schreiben Philippe Even und Bernard Debré in ihrem Arzneimittel-„Leitfaden“, der in Frankreich großes Aufsehen erregt hat.1 Die beiden Ärzte, der eine Lungenspezialist, der andere Urologe und vor allem als Politiker der Sarkozy-Partei UMP bekannt, behaupten, dass von den 4 000 Medikamenten, die in Frankreich vertrieben werden, die Hälfte wirkungslos seien, 20 Prozent erhebliche Nebenwirkungen hätten und 5 Prozent geradezu gesundheitsschädigend seien.
Während die Pharmaindustrie „zwischen 1950 und 1990 noch Medikamente auf den Markt brachte, die unser Leben verändert haben: Antibiotika, Entzündungshemmer, Impfstoffe, Präparate gegen Krebserkrankungen, Herzleiden oder Diabetes“, so habe sich die Branche seit den 1990er Jahren zunehmend an die Vorgaben des Finanzkapitalismus angepasst. Pharmaunternehmen peilten heute jährliche Renditeziele in der Größenordnung von 20 Prozent an, ohne dass die staatlichen Gesundheitsbehörden daran Anstoß nehmen würden.
Früher seien Patente noch für echte Erfindungen vergeben worden. Heute verwendet „Big Pharma“ unter dem Druck der Aktionäre seine ganze Energie darauf, neue Krankheitsbilder und passende Behandlungen zu erfinden – nicht selten auf Kosten der Gesundheit. „Die klinischen Versuche der Pharmafirmen (die der Überprüfung durch die Gesundheitsbehörden unterliegen) sind unzuverlässig, werden in betrügerischer Absicht manipuliert, verschleiern die Gefahren und übertreiben die positiven Wirkungen“, konstatieren Even und Debré.2
Die Logik des Marktes treibt die Pharmaindustrie dazu, immer mehr Medikamente zu entwickeln, die Krankheiten zwar lindern, aber nicht heilen können. So sichern viele chronische Krankheiten, von Bluthochdruck über Diabetes bis Aids, der Branche zuverlässige Gewinne. Außerdem sinken bei diesen Präparaten mithilfe des berühmten „Evergreening“, der Verlängerung des zehn bis fünfzehn Jahre währenden Patentschutzes durch minimale Veränderungen am Wirkstoff, die Kosten für Forschung und Entwicklung.
Da die Politik in vielen Ländern nicht eingegriffen hat – Indien, das seit Jahren vielen Pharmariesen Patente aberkennt, bildet hier die große Ausnahme3 –, konnte die Pharmabranche unbehelligt die Bedürfnisse der ärmsten Patienten ignorieren. Doch es gibt bereits Gegenbewegungen: Vor zehn Jahren gründeten fünf internationale Forschungs- und Gesundheitseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Ärzte ohne Grenzen die Nonprofitorganisation „Medikamente gegen vernachlässigte Krankheiten“ (Drugs for Neglected Diseases Initiative, DNDi).4 Laut DNDi wird weltweit nur 10 Prozent der Forschung für Krankheiten aufgewandt, die mehr als 90 Prozent der globalen Krankheitslast ausmachen.
Um bereits kurz- und mittelfristige Erfolge im Kampf gegen die vor allem in armen Ländern verbreiteten Krankheiten (Schlafkrankheit, Chagas und Leishmaniose) zu erzielen, will DNDi bereits existierende chemische Verbindungen nutzen als auch in die Erforschung neuer Wirkstoffe investieren. Doch das Schicksal solcher Projekte hängt von Entwicklungshilfeleistungen ab und der Bereitschaft der Pharmafirmen, „sozial verantwortlich“ zu handeln.
Forschungsergebnisse, die allen gehören
Angesichts der Forschungskrise in der Pharmaindustrie verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung (WHA), das gesetzgebende Organ der WHO, auf ihrem 65. Treffen in Genf im Mai 2012 eine Resolution, die langfristig die Spielregeln in der Branche ändern soll. Auf der Basis des Berichts einer Expertengruppe5 sollen Mittel bereitgestellt werden, um Krankheiten, die vorwiegend in den armen Ländern des Südens auftreten, zu erforschen und zu bekämpfen. Die Gruppe empfiehlt, eine internationale Konvention auszuhandeln, die alle Länder zur Beteiligung verpflichtet, da der Markt als treibende Kraft nicht ausreicht.
Sollte diese Konvention in einen Vertrag münden, so könnte auf dessen Grundlage ein internationaler öffentlicher Fonds eingerichtet werden, der durch einen Pflichtbeitrag finanziell gesichert wäre. Die Höhe des Pflichtbeitrags – und das ist eine wichtige Neuerung – würde nach dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau jedes Landes festgesetzt. Die (vollkommen transparent) aus Mitteln dieses Fonds finanzierten Forschungen würden als Gemeingüter gelten, die allen zugutekommen.
Die Expertengruppe stellt in ihrem Bericht fest, dass es mit dem bisherigen Anreizsystem – den Patenten – nicht gelungen sei, sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor ausreichend Mittel für Forschung und Entwicklung zu mobilisieren. Sie schlägt daher unter anderem vor, verstärkt mit „offenen“ Formen von Innovation zu experimentieren, die nicht auf dem Urheberrecht, sondern auf Forschungsaktivitäten beruhen, deren Ergebnisse frei verwendet werden können, ohne rechtliche oder vertragliche Einschränkung und Exklusivität.
Das wären in erster Linie die zahlreichen, zum Teil bereits bereits existierenden Plattformen für präkompetitive Forschung, mit freiem Zugang und Open-Source-Lizenzen. Forschungsteams an Universitäten, in öffentlichen Einrichtungen und privaten Labors, die mit öffentlichen Geldern unterstützt werden, könnten ihre Entdeckungen so gemeinsam auswerten.
Heute sind wir davon noch weit entfernt: Denn die Forschungen vieler Institute werden an Privatunternehmen verkauft. Die erwerben nicht selten Patente für Produkte, die mit öffentlichen Geldern entwickelt wurden. Auf diese Weise bezahlt die Allgemeinheit solche Forschungen gleich doppelt.
Auch die Pharmaindustrie, deren Reserven an neuen Wirkstoffen kontinuierlich schmelzen, könnte von den neuen Impulsen durchaus profitieren. Überdies würde die uneingeschränkte Veröffentlichung der Forschungsergebnisse den Transfer in die Entwicklungsländer erleichtern. Indien bietet ein Beispiel dafür mit seinem Open-Source-Modell für die Medikamentenentwicklung, das der indische Rat für Forschung und Industrie angeregt hat. Dabei geht es in erster Linie um neue Wirkstoffe gegen Malaria, Tuberkulose und Leishmaniose.6
Eine andere gemeinschaftliche Finanzierungsmöglichkeit bieten die weltweit bereits rund fünfzig existierenden Public-Private-Partnerships (PPP) oder Produktentwicklungspartnerschaften (Product Development Partnership, PDP). Im Gegensatz zum Patent, das dem Erfinder (oder vielmehr dem Inhaber der Lizenz zur Verwertung) ein Monopol auf dem Markt garantiert, schlägt die WHO-Expertengruppe vor, mit finanziellen Anreizen in Form von Preisverleihungen zu arbeiten, die sowohl für Zwischenergebnisse („milestone prizes“) als auch das Endprodukt („end prizes“) verliehen werden. Auf diese Weise könnte das Team, das als Erstes einen bestimmten Wirkstoff oder eine neue Behandlungsmethode entwickelt, deutlich entlastet werden.
Darüber hinaus sollen sogenannte Patentpools („patent pools“) gefördert werden, die allen Beteiligten in einem bestimmten Bereich, etwa in der HIV/Aids-Forschung, einen gleichberechtigten Zugang zu allen Produkten verschaffen. Gerade bei den Multitherapeutika kann das äußerst hilfreich sein, die mehrere Wirkstoffe von möglicherweise unterschiedlichen Patentinhabern kombinieren. Sie können dadurch viel schneller auf den Markt kommen. Und weil den Patienten durch die Monodosierung die Einnahme erleichtert wird, fördern Patentpools letztendlich die für eine erfolgreiche Behandlung gar nicht hoch genug einzuschätzende Therapietreue.
Bestimmte Patente können auch ohne Einwilligung der Inhaber in derartige Pools aufgenommen werden, sobald ein Land im Rahmen bestehender Handelsvereinbarungen (Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, Trips) eine obligatorische Lizenz verlangt. Manche Pharmafirmen übertragen den Pools sogar freiwillig Patente, weil sie sich dadurch Steuervorteile sichern können, oder sie geben politischem Druck nach. So war es beispielsweise beim Medicines Patent Pool, der auf Initiative Frankreichs und Brasiliens im Rahmen von Unitaid7 (einer Einrichtung zum Erwerb und zur Verteilung von Medikamenten gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose) ins Leben gerufen wurde.
Zwar haben manche NGOs dieses Vorgehen als „naiv“ und „nicht praktikabel“ kritisiert. Doch – wie schrieb Martin Luther King in seinem „Brief aus dem Gefängnis von Birmingham“: „Die Geschichte hat auf lange und tragische Weise bewiesen, dass Privilegierte ihre Privilegien selten freiwillig aufgeben.“