Mit Bolívar, ohne Chávez
Für viele kam der Tod von Hugo Chávez nicht überraschend. Doch für seine Anhänger, die ihn aufrichtig liebten und die Hoffnung nicht aufgeben wollten, war der 5. März ein schwerer Schock. Weil so viele Venezolaner ihren toten Präsidenten noch einmal sehen wollten, verlängerte die Regierung die dreitägige Aufbahrung um sieben Tage. Dennoch harrten die Menschen oft mehr als 24 Stunden in der Warteschlange aus.
Sofort nach Bekanntgabe von Chávez’ Tod wurde Vizepräsident Nicolás Maduro als amtierender Präsident vereidigt. Die Neuwahlen wurden für den 14. April angesetzt. Binnen Wochenfrist beschloss dann die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV), dass Maduro als ihr Präsidentschaftskandidat antritt. Dagegen ließ sich Henrique Capriles eher widerwillig erneut als Kandidat des oppositionellen Bündnisses MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) aufstellen.
Die für den Wahlausgang entscheidende Frage lautet, ob die bolivarische Bewegung als wichtigste Stütze der bisherigen Regierung ihre Einheit auch nach dem Tod von Chávez bewahren wird. Schon im vergangenen Dezember, während Chávez nach seiner vierten Krebsoperation in Kuba blieb, spekulierten der Opposition nahestehende Medien über einen Machtkampf zwischen Vizepräsident Maduro und dem Präsidenten der Nationalversammlung, Diosdado Cabello. Solche Meldungen sind durchaus glaubwürdig. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass die Linke in Venezuela tendenziell zersplittert.
Cabello und Maduro versicherten zwar eilends, als „Söhne von Chávez“ seien sie gleichsam Brüder und würden künftig „mehr denn je zusammenstehen“. Dennoch stellt sich die Frage, warum trotz der beschworenen Einigkeit so viele glauben, dass die bolivarische Bewegung in mehrere Fraktionen zerbricht. Die Gerüchte wirken deshalb so glaubhaft, weil der Zusammenhalt der PSUV vor allem dem Charisma des Präsidenten zu verdanken war, der unbestrittener Anführer der von ihm gegründeten Bewegung blieb. Dieses Charisma geht Maduro ab, und er genießt auch nicht so große Sympathien. Ein Blick in die venezolanische Geschichte zeigt, dass auch die sozial- wie die christdemokratische Partei, die während der sogenannten Vierten Republik von 1958 bis 1988 jeweils abwechselnd die Regierung stellten, einen starken Zusammenhalt besaßen – und zwar ohne charismatische Führungsfigur.
Für Einigkeit sorgte nicht nur die eiserne Parteidisziplin, sondern auch die Tatsache, dass die gesamte venezolanische Gesellschaft auf die Verteilung der Öleinnahmen ausgerichtet war. Wer einer der beiden Parteien angehörte oder nahestand, konnte ein Stück des Kuchens beanspruchen. Zu dieser Klientel gehörte auch die Führung der etablierten Gewerkschaften, die Kirche, die Unternehmerklasse und die großen Medienkonzerne – sprich die gesamte heutige Opposition. Der große Rest der Gesellschaft ging dagegen leer aus.
Die drei Fraktionen der Bewegung
Der Niedergang dieses Systems begann 1989 mit der „Caracazo“: einer Serie von Rebellionen gegen das neoliberale Wirtschaftsprogramm, das eine drastische Verteuerung von Waren des täglichen Bedarfs brachte. Dahinter stand eine längerfristige Entwicklung: Die Pro-Kopf-Einkommen waren (inflationsbereinigt) zwischen 1979 und 1999 um 27 Prozent geschrumpft – stärker als in jedem anderen Land Lateinamerikas. Das klientelistische System funktionierte nicht mehr. Der Zusammenbruch wurde durch die neoliberale Politik nur noch beschleunigt.
Chávez gewann die Wahlen von 1998 vor allem deshalb, weil er eine Umwälzung der Gesellschaft versprach. In den 14 Jahren seiner Präsidentschaft wuchs seine Popularität bei den bisher marginalisierten Gesellschaftsschichten sogar noch, weil sie erstmals ein Mitspracherecht in der Kommunalpolitik und am Arbeitsplatz erhielten – und einen Teil der wachsenden Erdöleinnahmen des Landes.
Die Schlüsselindustrien wurden verstaatlicht, eine Mitbestimmung in staatlichen Betrieben eingeführt, ebenso Gemeinderäte. Diese Reformen und eine Reihe von Sozialprogrammen für die Armen sicherten der Regierung die Unterstützung derer, die bislang ausgegrenzt waren. Die Loyalität gegenüber Chávez ist also keineswegs nur mit seinem Charisma zu erklären.
Kritiker behaupten allerdings, damit sei lediglich ein klientelistisches System durch ein anderes ersetzt worden. Dem ist entgegenzuhalten, dass unter Chávez die allermeisten davon profitiert haben. Umfragen belegen im übrigen, dass die Venezolaner mit ihrer Demokratie sehr zufrieden sind. Sie scheinen sogar das glücklichste Volk Südamerikas zu sein1 – trotz der hohen Kriminalitätsrate, die das Leben jedes Einzelnen vergiftet und die von der Regierung nicht wirksam bekämpft wurde.
Diese Zufriedenheit rührt auch von der Umverteilung der Erdöleinnahmen, die zudem die Einigkeit des PSUV-Anhangs garantiert. Die zerstrittene Opposition dagegen droht sich aufzuspalten.
Wie wird der designierte Chávez-Nachfolger Maduro, der ein alter Gewerkschaftsführer ist, im Fall seines Wahlsiegs mit den diversen Interessengruppen umgehen? Die Anhänger der bolivarischen Regierung lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: Zivilgesellschaft, Militär und Unternehmen.
Die Zivilgesellschaft, die in der Regierung vor allem durch Maduro und den früheren Vizepräsidenten Elías Jaua vertreten ist, differenziert sich nach Gewerkschaftern und kommunalpolitischen Aktivisten sowie kleineren Gruppen, etwa Kleinbauern, Indigenen und Studenten. Im Militär gibt es eine moderatere Strömung, als deren Vertreter Diosdado Cabello gilt, und eine weiter links stehende Fraktion, repräsentiert durch Ramón Rodriguez Chacín.
Der PSUV-nahe Unternehmenssektor umfasst die Ölbranche mit dem Chef der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA, Rafael Ramírez, an der Spitze, die Kleinunternehmen unter Führung des Präsidenten der Handelskammer Fedeindustria, Miguel Pérez Abad, sowie einzelne Großunternehmen, die von staatlichen Aufträgen profitieren. Dagegen steht der Industrieverband Fedecámaras ganz aufseiten der Opposition.
Als Präsident hat es Chávez meisterhaft verstanden, sich die Loyalität all dieser Gruppen zu sichern. Das lag weniger an seinem Charisma als vielmehr daran, dass er die ihnen gemachten Versprechen auch einhielt. Das gilt für die Umverteilung der Öleinnahmen wie für eine stärkere politische Partizipation, aber auch für die Vergabe einflussreicher öffentlicher Posten an pensionierte Militärs.
Maduro dürfte als Präsident diesen Kurs fortsetzen. Da er jedoch seine Basis hauptsächlich im zivilgesellschaftlichen Lager hat, braucht er auch die Unterstützung durch Repräsentanten der anderen Gruppen, vor allem durch Jaua, Cabello und Ramírez. Während Chávez seine Entscheidungen weitgehend allein treffen konnte, muss sich Maduro auf interne Diskussionen, Kompromisse und Kuhhandel einstellen. Aber weil sich alle Beteiligten darüber im Klaren sind, dass interne Machtkämpfe den Fortbestand der Bolivarischen Revolution gefährden würden, dürften sie Chávez’ designierten Nachfolger unterstützen.
Die entscheidende Frage lautet, inwieweit die neue Führung der bolivarischen Bewegung einen neuen politischen Kurs einschlagen wird. Es lässt sich darüber spekulieren, dass Maduro sich stärker am zivilgesellschaftlichen Sektor orientieren wird. Dagegen sprechen jedoch zwei Argumente: Zum einen griff Chávez zwar bei der Besetzung von Minister- oder Gouverneursposten bevorzugt auf Militärs zurück, doch in politischen Fragen stand er häufig aufseiten der zivilgesellschaftlichen Gruppen. Zum andern weiß Maduro genau, dass es bei den linken Gruppen an qualifiziertem Personal für hohe Verwaltungsposten mangelt, auch er muss sich also in personeller Hinsicht stark auf das Militär stützen.
Ein weiterer Faktor wird den Zusammenhalt der Regierungsmannschaft garantieren: die Vereinigten Staaten. Die meisten führenden Chavisten, und zumal die ehemals linken Aktivisten, gehen davon aus, dass man in Washington vor keiner Option zurückschreckt – bis hin zur militärischen Intervention –, um die chavistische Regierung zu stürzen. Solange die einzelnen Gruppen diese Bedrohung für real halten, werden sie zur Verteidigung der Regierung zusammenstehen.
Als Chávez bei seinem letzten öffentlichen Auftritt seine Anhänger zu „Einheit, Einheit, Einheit!“ aufrief, machte er klar, dass für ihn sein politisches Projekt noch längst nicht vollendet war. „Für Chávez liegt die politische Tragödie in der – implizit selbstkritischen – Erkenntnis, dass die Regierung von ihrer revolutionären Orientierung abweichen könnte“, schrieb der venezolanische Soziologe Javier Biardeau unlängst in seinem Blog.2
Diese Sorge artikulierte Chávez selbst in einer seiner letzten großen Reden nach seiner Wiederwahl im Oktober 2012: „Wir haben ein neues Rechtssystem, das mit der Verfassung [von 1999] seinen Anfang nahm. Wir haben Gesetze über Gemeinderäte, Gesetze über die kommunale Verwaltung, über die lokale Wirtschaft, Gesetze über die ländliche Entwicklung. Aber wir, die wir für ihre Umsetzung verantwortlich sind, schenken all diesen Gesetzen nicht die geringste Beachtung.“
Ob die bolivarische Bewegung die Vision eines von Teilhabe geprägten demokratischen Sozialismus für das 21. Jahrhundert ohne Chávez umsetzen wird, lässt sich heute noch nicht voraussehen. Alles wird davon abhängen, ob die unterschiedlichen Fraktionen ihre Interessen zu einem konsistenten Entwurf verbinden können, wie es in den 14 Jahren unter Chávez gelungen ist.
Gregory Wilpert