12.04.2013

Es war einmal ein Staatsentwurf

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Es war einmal ein Staatsentwurf

Revolution und Kontinuität in Venezuela von Renaud Lambert

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Die wichtigsten Zeitungen in aller Welt meldeten den Tod des Hugo Chávez auf der Titelseite. Zum Begräbnis des venezolanischen Präsidenten reisten 55 Staats- und Regierungschefs nach Caracas. Vor fünfzehn Jahren hätte niemand gedacht, dass es Chávez einst zu solcher Bekanntheit bringen würde. Bei seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf 1998 hatte ein professioneller Wahlbeobachter noch versichert: „Bis zur nächsten Wahl ist er vergessen.“1

Damals hatte Venezuelas Wirtschaft über zwanzig Jahre die stärkste Rezession der Region erlebt. Die Armutsquote war von 17 auf nahezu 50 Prozent gestiegen. Angesichts dessen kam das Programm der konservativen Kandidatin Irene Sáez, die lediglich Kontinuität versprach, nicht besonders gut an. Die einstige Miss Universum illustrierte auf ihre Art, wie wenig sich die Elite des Landes um die Bedürfnisse der übrigen Einwohner scherte: Veränderung erwünscht? Sie bestand darin, dass sich Irene Sáez ihr Haar zu einem Chignon aufsteckte. Die neue Frisur brachte nicht den erhofften Erfolg. Die Wahl gewann Chávez.

Ende der 1990er Jahre wurde die politische Landkarte Lateinamerikas monochrom wie ein Bild von Yves Klein: In Mexiko hatte Carlos Salinas (1988–1994) mehr als hundert staatliche Unternehmen verschleudert. In Brasilien rollte Fernando Cardoso (1994–2002) ausländischem Kapital den roten Teppich aus. Und in Argentinien hatte der IWF mit Carlos Menem (1989–1999) einen willfährigen Musterschüler gefunden. Der venezolanische Wahlkampf hatte gerade begonnen, als im April 1998 unter Blitzlichtgewitter der Amerika-Gipfel von Santiago de Chile zusammentrat. Auf den Fotos sieht man die erwartungsfrohen Gesichter der lateinamerikanischen Staatschefs neben Präsident Clinton. Alle strahlten in Erwartung der geplanten Amerikanischen Freihandelszone (spanisch Alca, englisch FTAA), die sich von Alaska bis Feuerland erstrecken sollte.

In der EU hatten zu diesem Zeitpunkt 13 von 15 Staaten eine „linke“ Regierung. Die große Wende ließ jedoch auf sich warten. Der französische Sozialist Lionel Jospin bewies sich als Champion der Privatisierung, der deutsche Sozialdemokrat Gerhard Schröder stieß mit der Agenda 2010 „Reformen“ an, die ihn zum Idol der europäischen Rechten machten, und Tony Blair profilierte sich und seine „New Labour“ mit der Forderung nach einen „dritten Weg“ als „würdiger Erbe“ von Margaret Thatcher, wie es die konservative spanische Stiftung FAES formulierte.2

In Lateinamerika dagegen, wo die Chicago Boys, die Jünger der reinen Marktwirtschaft, schon lange zugange waren, roch es nach Revolte. 1989 löste ein vom IWF verordnetes Strukturanpassungsprogramm in der venezolanischen Hauptstadt einen Aufstand aus. Bei der Niederschlagung dieses mittlerweile legendären „Caracazo“ wurden mindestens 3 000 Menschen getötet. Anfang 1992 kam es in Venezuela zu zwei Putschversuchen, wobei der erste von Hugo Chávez angeführt wurde.

Diese Phase punktuell aufflackernder Unruhen kulminierte in Aufständen der indigenen Bevölkerung in Ecuador, Bolivien und im mexikanischen Chiapas. Diese Rebellen glaubten nicht daran, dass die Demokratie aus ihrer neoliberalen Kruste herauszubrechen sei, ihre Losung lautete vielmehr: „Die Welt ändern, ohne die Macht zu übernehmen.“3 Auch wenn man damit der Rechten das Feld überließ.

Allende, Chávez und die Fallen des Systems

Anfänglich teilte Chávez diese Zweifel an einem demokratischen Machtwechsel: „Wir wussten, dass die Strategie der Wahlbeteiligung in einer Katastrophe enden könnte und wir womöglich dem System in die Falle gehen würden.“4 In seiner Umgebung hatten noch nicht alle die Idee eines bewaffneten Staatsstreichs aufgegeben. Aber dann zeigte sich, dass die wachsende Empörung der Mittelschichten nicht nur Chávez an die Macht bringen, sondern auch eine Verfassungsreform ermöglichen konnte. Man konnte also „die Fallen des Systems“ vermeiden.

Zwanzig Jahre zuvor hatte Salvador Allendes „Unidad Popular“ die Wahlen in Chile gewonnen. Aber die Christdemokraten behielten großen Einfluss nicht nur in der Mittel- und Oberschicht, sondern auch bei den Arbeitern und Bauern. Dies erklärt für die Soziologin Marta Harnecker, „warum die Unidad Popular nie vorgeschlagen hat, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen“, und sich damit begnügte, „die geltenden Gesetze zu nutzen und Gesetzeslücken zu suchen“.5

In Venezuela wusste der frühere Oberstleutnant Chávez einen Großteil der Armee hinter sich, deren Offiziere nicht alle aus der Oberschicht stammten. Das war in Lateinamerika eine Ausnahme. Die nach seiner Wahl verkündete „Revolution“ war eher Resultat dieser Besonderheit als eines politischen Projekts, das ohnehin nur eine relativ zaghafte Kritik am „wilden Kapitalismus“ war, inspiriert von Blairs „drittem Weg“ (wie Chávez selbst bekannte).

Die erste Regierung Chávez beließ sogar die Finanzministerin der neoliberalen Vorgängerregierung für kurze Zeit im Amt. Und zunächst beschränkte sich ihr Programm auf Bildungsreformen und die Wiedereinführung einer kostenlosen Gesundheitsversorgung, die es bereits in den 1960er und 1770er Jahren gegeben hatte. Solche Reformen hatten linksgerichtete Staatschefs in Lateinamerika schon vorher eingeführt. Aber sie waren dabei, wie der Politologe Steve Ellner erläutert, stets darauf bedacht, „dem Volk nicht das Gefühl zu geben, selbst zum politischen Akteur zu werden, denn das hätte zu einer für die herrschenden Klassen bedrohlichen Radikalisierung führen können“.6 Chávez wählte die entgegengesetzte Strategie.

Die neue Verfassung von 1999 bestimmte, dass die Sozialprogramme nicht mehr von der Ministerialbürokratie, sondern unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung umgesetzt werden. Das verstimmte die alte Elite womöglich noch mehr als die ideologische Haltung des Präsidenten. Denn sie begriff sofort, dass jede Repolitisierung der demokratischen Idee ihre eigene Kontrolle über den Staat und ihren Zugriff auf die Erdöleinnahmen beeinträchtigen würde.

Die weitere Entwicklung ist bekannt: Staatsstreich gegen Chávez, Lahmlegung der staatlichen Erdölindustrie durch Manager und Techniker, Wahlboykott und so weiter. Die unnachgiebige Haltung der Opposition, die zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, hatte die paradoxe Folge, dass der Chavismus gestärkt wurde. Der Journalist Gregory Wilpert schreibt: „Jeder neue – gescheiterte – Versuch der Opposition, Chávez zu stürzen, erweiterte am Ende seinen Handlungsspielraum und gab ihm die Möglichkeit, noch weiter gehende Maßnahmen umzusetzen.“7

Beim ersten Wahlsieg stiegen die Börsenkurse

Diese Entwicklung führte dazu, dass die Medien Chávez als Herz und Kopf radikaler linker Strömungen wahrnahmen, die in Lateinamerika neue Regierungen an die Macht brachten.8 Für Julio Maria Sanguinetti, den konservativen Expräsidenten von Uruguay, war dieser politische Umschwung allerdings eher „rosa“ als „rot“ gefärbt: weniger ein revolutionärer Umbruch als eine „mühsame, widersprüchliche, zähe Verschiebung zur politischen Mitte“.9 Die subversive Einfärbung von Begriffen wie „Verstaatlichung“, „Souveränität“ oder „Antiimperialismus“, die Chávez wieder in Mode gebracht hat, bezeugt deshalb nicht nur dessen persönliche Ambitionen, sondern auch das langsame ideologische Abdriften der Linken.

Die Wandlung des bolivarischen Staatschefs war dennoch eindrucksvoll. Als Kandidat bei den Wahlen von 1998 hatte sich Chávez noch mit Vertretern von Citibank, J. P. Morgan und Morgan Stanley getroffen, um deren Befürchtungen auszuräumen. Am Tag nach der Wahl ließ sich der neue Präsident im Studio der Fernsehkette des reichsten Mannes im Lande, Gustavo Cisneros, interviewen und inspirierte mit seinen Äußerungen die Fantasie der Investoren. An der Börse von Caracas stiegen die Kurse binnen zwei Tagen um 40 Prozent. Zehn Jahre später, am 30. November 2008, erklärte er: „Unsere Schlacht ist ein Ausdruck des Klassenkampfs.“ Im Juni 2011 meldete das Wall Street Journal, dass die Gesundheitsprobleme des Präsidenten die Börse beleben.

Die 2001 verabschiedeten „Grundzüge des Programms der Wirtschafts- und Sozialentwicklung der Nation für 2001–2007“ sahen noch die Bildung einer „aufsteigenden Herrschaftsklasse“ vor und versprachen „ein Klima des Vertrauens für ausländische Investoren“. Vier Jahre später war das Dokument vergessen, und Chávez verkündete, sein Land werde einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ anstreben.

Die meisten Politiker gehen, kaum an der Macht, den umgekehrten Weg. Zu gleichen Zeit, als Lionel Jospin in Frankreich erklärte, der Staat könne „nicht alles“, forderte Chávez eine staatliche Kontrolle über die Rohstoffunternehmen und übernahm wieder die Aufsicht über die Zentralbank und die Geldpolitik. Und während auf Kuba Golfplätze gebaut wurden, um Touristen anzulocken, wurden sie in Venezuela konfisziert, um Obdachlose unterzubringen.

Chávez hat es geschafft, den Anteil der Armen (seit 2003) zu halbieren, womit Venezuela zum Land mit dem geringsten Wohlstandsgefälle in der Region wurde (siehe Kasten). Auf internationaler Ebene erreichte er mit seinen diplomatischen Aktivitäten das Scheitern des Alca-Projekts und den Aufbau des regionalen, auf solidarischen Prinzipien beruhenden Bündnisses Alba (Bolivarische Allianz für Amerika). Auch an der Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) und der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (Celac) war Chávez maßgeblich beteiligt.

Die spanischsprachige US-Tageszeitung El Nuevo Herald prophezeite schon am 1. März 2007, Venezuela werde bald den IWF als wichtigste Finanzquelle in der Region ablösen, und verwies dabei auf die Hilfen für das bolivianische Gesundheitssystem oder für das verschuldete Argentinien. Das brachte Les Echos am 7. März 2013 zu der Aussage, Chávez habe „seine Erdöleinnahmen verschwendet“. Doch ist das richtig? Schließlich hat Venezuela den Geldsegen aus dem Ölexport nicht einfach mitgenommen, sondern auch dazu beigetragen, in der Opec höhere Ölpreise durchzusetzen.

Kein Wunder, dass viele Beobachter sich auch kritisch mit den Problemen der Regierung in Caracas befassen.

An solchen Problemen ist kein Mangel. Das größte besteht darin, dass auf den vom alten Regime übernommen Staatsapparat kein Verlass war, und dass es nicht genug loyale Kader gab, um die alten Beamten zu ersetzen. Der britische Soziologe Ralph Miliband stellte schon 1969 fest: „Regierungen, die einen revolutionären Umbruch anstreben, können kaum erwarten, von der viel gerühmten ‚Neutralität‘ traditioneller Verwaltungseliten profitieren zu können, und erst recht nicht, eine so loyale und begeisterte Unterstützung zu genießen, wie sie für die Unterstützung ihrer Politik erforderlich wäre.“10

Angesichts dessen kam man auf die Strategie, parallel zum vorhandenen Staat einen neuen zu schaffen, der den alten eines Tages ablösen sollte. Der Chávez-Berater Michael Lebowitz spricht deshalb von zwei Staaten: dem alten Staat, „dessen Kontrolle die Arbeiter übernehmen und aus dem heraus sie die ersten zwingenden Maßnahmen gegen das Kapital ergreifen“ sollen; und dem neu entstehenden Staat, „dessen Basiszellen die Arbeiterkomitees und Gemeinderäte sind“. Der Übergang zum Sozialismus vollzieht sich somit als „Prozess des Übergangs zum neuen Staat“. Das setzt allerdings voraus, „dass die beiden koexistieren und interagieren müssen, solange dieser Prozess andauert.“11

Auf diese Weise konnten die berühmten „bolivarischen Missionen“ entstehen, womit sich zugleich die Bürokratie verdoppelt und die Korruption noch weiter ausgebreitet hat. Denn die neue bolivarische Elite, „Bolibourgeoisie“ genannt, ist wahrscheinlich ebenso käuflich, wie es die alte war.

Zu den Problemen gehörte auch der Autoritarismus eines Präsidenten, der jeden Kritiker mit dem Spruch zurechtzuweisen pflegte, dass er „nicht mit irgendwem, sondern mit dem Präsidenten“ spreche. Damit wurde die Personalisierung der Macht gestärkt, abgesehen davon, dass es dem proklamierten Ideal der „Partizipation“ zuwiderlief. Nach dem Tod von Chávez wird sich das von selbst ändern. Aber gilt das auch für andere Probleme? Etwa für die extreme Unsicherheit im Lande? Oder für die zweifelhafte Bündnispolitik mit Staaten wie Weißrussland, Iran oder Syrien, die erkennen lässt, dass man es keinesfalls als paradox ansieht, das Unrecht auf internationaler Ebene im Verein mit Staaten zu bekämpfen, die im eigenen Lande das Unrecht perpetuieren?

Die größten Probleme sind jedoch ökonomischer Art. Die Hauptfrage lautet, wie man eine Wirtschaft diversifizieren soll, die gänzlich am Tropf der Erdöleinnahmen hängt. Ein venezolanischer Ölarbeiter hat dieses Kunststück mit dem Versuch verglichen, „während der Fahrt den Reifen zu wechseln“.12

1973 hat US-Außenminister Henry Kissinger den Putsch gegen Allende mit den Worten gerechtfertigt: „Wenn wir zwischen Wirtschaft und Demokratie wählen müssen, ist es unsere Pflicht, die Wirtschaft zu retten.“ Chávez hat sich mitunter umgekehrt entschieden. Kann man ihm das zum Vorwurf machen?

Fußnoten: 1 Bart Jones, „¡Hugo! The Hugo Chávez Story from Mud Hut to Perpetual Revolution“, Hanover, New Hampshire (Steerforth Press) 2007. 2 Tom Burns Marañón, „Thatcher: consensus and circumstances“: www.fundacionfaes.org/record_file/filename/2413/papel_99_ingles.pdf. Vorsitzender der PP-nahen Stiftung ist heute der spanische Exregierungschef José Maria Aznar. 3 Siehe John Holloway, „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2010. 4 Zitiert nach Bart Jones, siehe Anmerkung 1. 5 Marta Harnecker, „América latina y el socialismo del siglo XXI“, www.rebelion.org/docs/102813.pdf. 6 Steve Ellner, „Rethinking Venezuelan Politics“, Boulder (Lynne Rienner Publishers) 2008. 7 Gregory Wilpert, „Changing Venezuela by Taking Power“, London (Verso) 2007. 8 Siehe William I. Robinson, „Rosarotes Südamerika“, Le Monde diplomatique, November 2011. 9 Zitiert nach: Franck Gaudichaud, „Le Volcan latino-américain“, Paris (Textuel) 2008. 10 Ralph Miliband, „Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft“, Frankfurt (Suhrkamp) 1975, S. 163. 11 Michael Lebowitz, „Socialist Alternative“, New York (Monthly Review Press) 2010. 12 Zitiert aus einem Bericht von Gary Marx in: Chicago Tribune, 15. Juli 2005 Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Eine Epoche in Zahlen

Durchschnittliches Wirtschaftswachstum im Zeitraum 1999 bis 2012: 3,2 Prozent

Jahr des Ölstreiks 2003: –10 Prozent

Zeitraum 2004 bis 2012: 4,3 Prozent

Staatsverschuldung (2012): 7 Prozent

Kapitalflucht im Zeitraum 2003 bis 2012: 150 Milliarden Dollar

Abnahme der Ungleichheit (Gini-Koeffizient): 1999 bis 2008 von 46,93 auf 40,99 Prozent

Rückgang der Armutsquote: 1999 bis 2010 von 49,4 auf 27,28 Prozent

Rückgang der extremen Armut: 1999 bis 2010 von 21,7 auf 10,7 Prozent

Zunahme der höheren Schulbildung: 2000 bis 2011 von 53,6 auf 71,1 Prozent

Gesundheitsausgaben: Anstieg von 2000 bis 2010 um 61 Prozent

Empfänger von Altersrenten: Zunahme von 1998 bis 2011 um 472 Prozent

Ölproduktion pro Tag: Rückgang 1998 bis 2012 von 3,5 Millionen Barrel auf 2,5 Millionen Barrel

Anteil der importierten Grundnahrungsmittel: Rückgang 1998 bis 2012 von 90 auf 13 Prozent

Geldzuwendungen aus den USA an oppositionelle Gruppen: Steigerung von 230 000 Dollar (2000) auf 10 Millionen Dollar (2010) und 20 Millionen Dollar (2012)

Anzahl der Ärzte pro 10 000 Einwohner: Steigerung von 1996 bis 2012 um mehr als das Dreifache (von 18 auf 58)

Quellen: Cepal, Banco Central de Venezuela, CEPR

Le Monde diplomatique vom 12.04.2013, von Renaud Lambert