Jenseits von Schengen
Die Ungarn in Transkarpatien leben nach Budapester Zeit von Laurent Geslin und Sébastien Gobert
Mein Großvater hat sein Leben lang in demselben Dorf gewohnt und dabei in fünf verschiedenen Ländern gelebt.“ Tjatschiw liegt an der Theiß im westlichen Karpatenvorland. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte der heutige ukrainische Oblast1 Transkarpatien zur Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Im Friedensvertrag von Trianon, der die faktische Auflösung des Vielvölkerstaats am 4. Juni 1920 besiegelte, wurde die Region der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik zugesprochen. Der ehemalige Zöllner Sandor Igyarto, ukrainischer Staatsbürger ungarischer Herkunft, zieht an seiner amerikanischen Zigarette. „1938 kehrten die Ungarn zurück. Im Krieg wurde mein Großvater zur ungarischen Armee eingezogen und an die Ostfront geschickt. Ende 1944, als wir sowjetisch wurden, hat man ihn nach Sibirien deportiert. Er kam erst nach Stalins Tod zurück.“
In Tjatschiw gibt es eine calvinistische, eine katholische, eine griechisch-katholische und eine orthodoxe Gemeinde. Auf dem Hauptplatz stehen Kriegerdenkmäler für die Gefallenen: die österreichisch-ungarischen Soldaten des Ersten Weltkriegs, die Partisanen des Zweiten Weltkriegs und die Sowjetsoldaten des Afghanistankriegs. Willkommen im Herzen Europas: So errechneten es die k. u. k. Landvermesser und errichteten dem geografischen Mittelpunkt Europas im Jahr 1887 ein paar Kilometer weiter östlich, im Dorf Rachiw, ein Denkmal. Heute ist Transkarpatien eine vergessene Randregion an der Ostgrenze der Europäischen Union, abgehängt hinter der „Schengen-Linie“, die Ungarn, die Slowakei und Polen von Rumänien und der Ukraine trennt. Für die Transkarpatier liegt „Europa“ nur einen Steinwurf entfernt, und ist doch unerreichbar – jenseits der letzten „Mauer“ des Kontinents hinter einer Grenze, die trennt und nährt zugleich.
Wie ganz Mitteleuropa war auch Transkarpatien lange Zeit ein multikulturell geprägter Landstrich. Hier lebten Ungarn, Ruthenen, Ukrainer, Deutsche, Roma und Juden zusammen. Anfang des 20. Jahrhunderts begann ein Prozess der Homogenisierung, der sich vor allem seit 1991, mit der Unabhängigkeit der Ukraine, beschleunigt hat. Laut der letzten Volkszählung von 2001 leben nur noch 150 000 Ungarn in Transkarpatien, das sind 12 Prozent der Gesamtbevölkerung der Region – 1921 waren es noch 17 Prozent.2 „Jedes Jahr wandern fünf- bis sechstausend Menschen nach Ungarn aus“, erzählt Igyarto, „weil sie hier keine Perspektive haben. Die wirtschaftliche Lage ist dramatisch.“
Dennoch sind in der Grenzstadt Tschop, dem für die Sowjetunion einst wichtigen Eisenbahnknoten im ungarisch-slowakisch-ukrainischen Dreiländereck, in den letzten Jahren viele neue Villen gebaut worden. „Es ist kein Geheimnis: Wer hier ein schönes Haus hat, ist mit krummen Geschäften reich geworden“, erzählt ein Lokalreporter. „In erster Linie durch Zigaretten- und Menschenschmuggel.“ Von Kiew durch die Karpaten und mehr als 800 Kilometer schlechte Straßen getrennt, wenden sich die transkarpatischen Ungarn konsequent Richtung Westen: Sie sehen ungarisches Fernsehen und leben nach Budapester Zeit, eine Stunde vor Kiew.
Das einstige Niemandsland zwischen der früheren Sowjetunion und der Volksrepublik Ungarn wird heute von Polizisten mit Hunden und Wärmesuchgeräten bewacht. Jedes Jahr versuchen Hunderte Migranten aus Pakistan, Afghanistan und Somalia die Barriere zu überwinden. „Um über die Grenze zu kommen, muss man etwa 5 000 Euro Schmiergeld für die Grenzbeamten einkalkulieren. Anders kommt man praktisch nicht rüber“, erklärt Haruni, ein Somalier, der seit zwei Jahren in Uschhorod, der Hauptstadt des Oblasts, festsitzt.
Im Sommer 2012 wurden zwei Schmugglertunnel in die Slowakei entdeckt und 13 000 Zigarettenstangen beschlagnahmt – eine Beute im Wert von rund 130 000 Euro. „Ohne den kleinen Grenzschmuggel würden die meisten nicht überleben“, erklärt der Soziologe Antal Örkeny. „Durch die Schengengrenze sind die Menschen hier noch stärker von der Union abgeschnitten als früher.“
Rund fünfzig Kilometer weiter südlich scheint das Städtchen Berehowe schon lange in einer Art Dornröschenschlaf zu liegen. Berehowe hat rund 25 000 Einwohner, die Hälfte bezeichnet sich als Ungarn. Ein Rudel Hunde streift durch die Gassen der Altstadt, deren pastellfarbene Fassaden verwittern. Auch hier gibt es kaum Jobs; Arbeit gibt es nur in den wenigen italienischen Textilfabriken – für maximal 250 Euro im Monat. „Natürlich versuchen wir die Jungen zu halten, aber viele wandern nach Ungarn aus, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben“, erzählt Ildiko Orosz, die Leiterin des Ungarischen Hochschulinstituts in Transkarpatien „Ferenc II. Rakoczi“. „Die Kinder der ungarischen Minderheit gehen auf ukrainische Schulen und assimilieren sich. Früher hat hier niemand Ukrainisch gesprochen.“ In dieser lange umkämpften Grenzregion war die Verkehrssprache Ruthenisch, das von den ukrainischen Nationalisten nicht anerkannt wird (siehe Text rechts). „Wir haben im 20. Jahrhundert viel gelitten und einen Großteil unserer intellektuellen Elite verloren. Doch seit 1996 können an unserem Institut die jungen transkarpatischen Ungarn wieder ein komplettes Studium in ihrer Muttersprache abschließen. Das wäre an einer ukrainischen Universität nicht möglich.“
An der Straße zwischen Berehowe und Uschhorod steht die Burg Palanok des Fürsten Ferenc II. Rakoczi, der von 1703 bis 1711 einen Aufstand gegen die Habsburger Zentralmacht anführte. „Hier haben schon immer Ungarn gelebt – während die Ukraine gerade mal zwanzig Jahre alt ist“, erklärt Betty Henkel, die seit ihrem Hochschulabschluss noch keine Arbeit gefunden hat. „Heute stellt man uns ja gern als Ausnahmefall dar, dabei haben wir unsere eigenen Schulen und eigene Vereine und Parteien. Natürlich leben wir hier alle zusammen, und wir arrangieren uns mit der gegenwärtigen Regierung auch so gut es geht. Aber wir erwarten nichts vom ukrainischen Staat.“
Roman Ofizynskij, der stellvertretende Rektor der Nationaluniversität Uschhorod, hält nicht viel von der autonomen ungarischen Universität: „Der Studiengang am Institut in Berehowe bietet keinerlei berufliche Perspektive. Nicht nur nützt das Ungarische gar nichts, um in der Ukraine eine Stelle zu finden, dazu kommt noch, dass sie den Schwerpunkt dort auf Philologie und Geschichte legen und die praktischen Fächer vernachlässigen. Wie viele Geschichtsprofessoren braucht man denn? An unserer Uni haben wir einen Lehrstuhl für Ungaristik, und es gibt eigene Stipendien für ungarischsprachige Studenten. Sie beklagen sich andauernd über Diskriminierung, dabei sind sie sehr privilegiert.“
Die seit 1991 unabhängige Ukraine ist immer noch ein Land auf der Suche nach sich selbst. Zwischen dem mehrheitlich russischsprachigen Osten und dem Westen, wo neben dem Ukrainischen zahlreiche Minderheitensprachen gesprochen werden, liegt eine Art linguistischer Graben, den die verschiedenen Regime stets zu nivellieren versuchten. „Während der Sowjetzeit wurden russische Beamte und Soldaten in Transkarpatien angesiedelt, was eine massive Russifizierung zur Folge hatte. Deshalb unterstützten die ukrainischen Ungarn 2004 die Orangene Revolution von Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko“, sagt Istvan Csernicsko, stellvertretender Rektor des Ungarischen Instituts Berehowe. „Aber die neue Regierung hatte nicht das geringste Interesse daran, den Regionalismus in Transkarpatien zu fördern, weil sie fürchtete, dass dies wiederum den Osten autonomer machen würde. Deshalb wurde überall, wo es ging, das Ukrainische zur Pflichtsprache erhoben – zum Leidwesen der Minderheiten.“
Wiktor Janukowitsch, Juschtschenkos alter Rivale, gegen den sich 2004 die „Orangene Revolution“ gerichtet hatte, ist nach Timoschenkos Wahlniederlage seit 2010 Präsident der Ukraine.3 Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen vom 28. Oktober 2012 unterzeichnete er im August ein Gesetz, das Minderheitensprachen, die von mehr als 10 Prozent der Bevölkerung eines Oblasts gesprochen werden, einen offiziellen Status einräumt. Das war keine ungeschickte Strategie, um sich die Stimmen der Minderheiten zu sichern und gleichzeitig die russischsprachigen Wähler zu mobilisieren. Am 24. Dezember 2012 wurde das Gesetz vom transkarpatischen Regionalparlament ratifiziert.
Slowakische Volksmusik im Festsaal von Bükkszentkereszt
Istvan Gajdos ist Präsident der Ungarisch-Demokratischen Föderation in der Ukraine (UMDSZ), einer der beiden politischen Parteien, die die Ungarn in Transkarpatien repräsentieren,4 und Bürgermeister von Berehowe; er wurde auf der Liste von Janukowitsch’ Partei der Regionen (PR) in die Werchowna Rada gewählt, das ukrainische Parlament. „Ungarisch ist jetzt die offizielle Sprache des Oblast und der Gemeinde. Es war uns sehr wichtig, dass wir in unserer Stadt unsere Muttersprache verwenden dürfen. Verkehrsschilder und amtliche Mitteilungen können nun offiziell in zwei Sprachen verfasst sein. Natürlich können nicht alle Verwaltungsangestellte Ungarisch, aber in Zukunft wird die Kenntnis des Ungarischen ein Einstellungskriterium sein.“
Die rechtsextreme Allukrainische Vereinigung „Swoboda“, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober erstmals 10 Prozent der Wählerstimmen bekommen hat und 38 Abgeordnete ins Parlament schicken konnte, will das Gesetz bekämpfen. Oleh Kuzin, der Chef der Regionalsektion der Partei, sieht in der „Remagyarisierung“ („Re-Ungarisierung“) von Berehowe einen Beweis für die separatistischen Bestrebungen der transkarpatischen Ungarn und den Budapester Imperialismus. „Der ungarische Staat gibt jährlich eine Million US-Dollar für die Unterstützung der ukrainischen Ungarn aus, und das Konsulat verteilt großzügig ungarische Pässe, was wirklich ein Unding ist – ein ukrainischer Staatsbürger darf nur eine einzige Staatsangehörigkeit haben! Aber Budapest will um jeden Preis die ungarischen Bezirke von der restlichen Ukraine isolieren – natürlich um sie sich am Ende einzuverleiben.“ Darin sieht Kuzin ein „ernsthaftes Problem für die Sicherheit unseres Landes“.
In Viktor Orbans erster Amtszeit als Ministerpräsident von Ungarn wurde 2001 für Auslandsungarn ein sogenannter Statusausweis eingeführt, der den Zugang ins Land zum Studieren und Arbeiten erleichtert. Darüber hinaus schlossen Kiew und Budapest ein Abkommen, nach dem die Bewohner aus Ortschaften, die weniger als 50 Kilometer von der Grenze entfernt liegen, ohne Schengen-Visum nach Ungarn einreisen können.
Nachdem Orban im Mai 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident geworden war, können nun seit Januar 2011 die insgesamt 2,5 Millionen Auslandsungarn in Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine sogar einen ungarischen Pass beantragen, wobei die Ukraine eigentlich gar keine doppelte Staatsbürgerschaft zulässt. „Die ukrainische Justiz bestraft niemanden, der zwei Pässe besitzt – solange er es nicht an die große Glocke hängt“, rechtfertigt sich Istvan Toth, der ungarische Generalkonsul in Berehowe, vorsichtig. Er will zwar nicht sagen, wie viele Bürger der Ukraine ungarische Pässe beantragt haben5 , räumt aber ein, dass viel Geld aus Budapest nach Transkarpatien fließt, mit dem die Universität, die Kulturvereine und Organisationen am Leben erhalten werden.
„Dass die Auslandsungarn von der ungarischen Regierung unterstützt werden, ist doch ganz normal, aber es reicht leider nicht“, stellt Miklos Kovacs resigniert fest. Kovacs ist der Vorsitzende der Kulturellen Föderation in Transkarpatien (KMKSZ), die sich Viktor Orbans Partei Fidesz angeschlossen hat. „Wir werden von Jahr zu Jahr weniger, und es wird immer schwieriger, die ukrainischen Ungarn für die Verteidigung ihrer Interessen zu mobilisieren.“ In der Kultur sehe es zwar besser aus, aber das sei eigentlich auch nur Folklore. „In ein paar Jahren wird es uns nicht mehr geben – vielleicht noch als Gemeinschaft, aber nicht mehr als politisch aktive Kraft. Dann wird sich die ungarische Frage in der Ukraine endgültig erledigt haben.“
Viele denken, dass Orban den ungarischen Nationalismus im Ausland vor allem deshalb schürt, weil er gegen die Wirtschaftskrise im eigenen Land nichts ausrichten kann. Seit Orban nach dem Fidesz-Wahlsieg von 2010 wieder an der Macht ist, beobachtet man in den Nachbarländern mit ungarischen Minderheiten voller Sorge, wie der Ministerpräsident die Großungarn-Nostalgiker hofiert. Das „Grundgesetz Ungarns“, die neue Verfassung, die am 25. April 2011 unterzeichnet wurde, beschwört die christlichen Wurzeln und die „tausendjährige“ Geschichte des Landes und übernimmt ausdrücklich „Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn“. Dieser „kollektive Narzissmus“, sagt die ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky, „geht einher mit einem ständig kommunizierten Opfermythos, das heißt, die Ungarn, die Magyaren, sind Opfer der Geschichte, Opfer der äußeren Feinde und Opfer der inneren Feinde, […] und das gehört im Moment vor allem zu der Rhetorik der Regierung.“6
In Miskolc, dem größten Industriezentrum im Nordosten Ungarns, etwa 150 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, zerfallen die letzten Ruinen der einstigen Stahlfabriken. Noch Anfang der 1980er Jahre beschäftigte die Lenin-Stahlhütte über 18 000 Arbeiter, und zwei Drittel der 200 000 Einwohner der Stadt lebten von der Schwerindustrie. Diese Welt ist mit der Einführung der Marktwirtschaft untergegangen. „In den neunziger Jahren waren 30 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos“, erzählt György Mike, der im Rathaus von Miskolc – seit 2010 ebenfalls fest in der Hand von Fidesz – für die Staatsbetriebe zuständig ist. „Zwar entwickelten sich nach und nach der Textil- und der Bankensektor, um die Schwerindustrie abzulösen, aber die Leute häuften Schulden an; viele sind heute ruiniert.“ Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 schließen die Geschäfte in der Innenstadt, und die EU-Subventionen, mit denen beispielsweise das Rathaus renoviert wurde, reichen nicht mehr aus, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. „Der frühere sozialistische Bürgermeister hat die Schulden der Stadt auf das Dreifache anwachsen lassen. Wir bekommen keine Kredite mehr“, fährt Mike fort. Wegen der Krise, der allgemeinen und der persönlichen, hätten die Leute daraufhin massenweise für Fidesz gestimmt.
In den 1990er Jahren war Miskolc noch eine Hochburg der „Roten“. Inzwischen geht die rechtsextreme Jobbik-Partei („Bewegung für ein besseres Ungarn“) hier erfolgreich auf Stimmenfang. Bei den letzten Wahlen im April 2010 errang Jobbik 16,7 Prozent der Stimmen und 47 Parlamentssitze. In einem kleinen Büro in der Innenstadt betrachtet der Jobbik-Funktionär Miklos Arpad nachdenklich die Karte von „Großungarn“. „Dass Transkarpatien der Ukraine zugeschlagen wurde, ist einfach ungerecht. Auch die Ungarn in der Slowakei oder Siebenbürgen wollten sicher nicht von ihrem Mutterland abgeschnitten sein. Ungarn war tatsächlich das größte Opfer der Friedensverträge“, erklärt er. „In diesen Regionen leben immer noch sehr viele Ungarn. Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen.“
Mit den Pässen für Auslandsungarn will sich Viktor Orban in erster Linie Wählerstimmen sichern, aber auch den demografischen Niedergang aufhalten: Seit Anfang der 1990er Jahre hat Ungarn 350 000 Einwohner verloren, die Geburtenrate bewegt sich um 1,3 Kinder pro Frau und liegt damit weit unter der von Bevölkerungswissenschaftlern angenommenen „magischen Schwelle“ von 2,1 Kindern, bei der sich die Bevölkerung selbst reproduziert. Der Soziologe Zoltan Kantor glaubt allerdings nicht an den demografischen Schub durch die Auslandsungarn. Er betrachtet den „Trianon-Pass“ vielmehr als eine „natürliche nationale Bestätigung“: „Vor dem EU-Beitritt, etwa Ende der 1990er Jahre, hätte die Verteilung von Pässen die Auslandsungarn nach Ungarn locken können, aber heute nicht mehr – die Grenzen sind schließlich offen“, sagt er. „Allerdings hat Orban mit der Frage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten eines der wichtigsten Wahlkampfthemen von Jobbik an sich gerissen.“ Vielleicht schaffe es Orban damit sogar, diese Bewegung einzudämmen, meint Kantor.
In der Slowakei verfolgt man voller Sorge die nationalistischen Wahlversprechen der Orban-Regierung, zumal es zwischen den beiden Ländern häufig zu Unstimmigkeiten kommt. Robert Fico, der amtierende slowakische Ministerpräsident, der während seiner ersten Amtszeit mit der nationalistischen SNS, der Slowakischen Nationalpartei, koalierte, vermutete bereits kurz nach Orbans Wahlsieg vor fast drei Jahren, dass Fidesz ein neues Großungarn wie vor dem Trianon-Vertrag anstrebe, was für die Sicherheit der Slowakei ein Risiko darstelle. „Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn Tausende Staatsbürger die ungarische Nationalität annehmen: Die ungarischen Politiker würden sich aufführen, als gehörte der Süden der Slowakei zu ihrem Staatsgebiet!“7
Bereits im Juli 2009 hatte die Slowakei den Gebrauch des Ungarischen aus der Verwaltung und allen öffentlichen Räumen verbannt. Seit 2010 ist die doppelte Staatsbürgerschaft verboten; andernfalls droht der Verlust des slowakischen Passes. Die SNS, deren Vorsitzender Jan Slota die Ungarn als „Krebs im Körper der slowakischen Nation“ bezeichnet hatte, begrüßte die Entscheidung. „Die Maßnahme ist absolut legitim“, findet auch Cyril Lesko, der SNS-Ortsvorsitzende im ostslowakischen Presov. „Sonst kommt die ungarische Minderheit noch auf die Idee, sich abzuspalten.“
In der Slowakei leben etwa 500 000 Ungarn, vor allem im Süden, im Grenzgebiet zu Ungarn. Hinter dem Dorf Velke Raskovce, nicht weit von Kosice, beginnt eine sumpfige Ebene, die bis zum Horizont reicht. Die Sonne geht langsam unter. Jakab Elemer blickt nach Süden, in Richtung der ungarischen Grenze. „Wir sind Ungarn, aber slowakische Staatsbürger: Und wir wollen beides sein. Wir lassen uns von Budapest keine Vorschriften machen.“ Elemer ist einer von 14 Abgeordneten der Partei Most-Hid8 in der Narodna Rada, dem slowakischen Parlament. „2009 sind wir aus der Partei der ungarischen Gemeinde (SMK) ausgetreten, um einen eigenen Verband zu gründen, denn wir sehen uns nicht als ‚ethnische‘ Partei: Wir sind für die Integration in die slowakische Gesellschaft, ohne dass wir darum unsere Wurzeln und unsere Kultur verleugnen“, erklärt er. Das sind ganz neue Töne – die meisten Parteien der Auslandsungarn halten tatsächlich enge Verbindung mit Budapest –, doch sie kommen gut an: Bei den slowakischen Parlamentswahlen erreichte die Partei immerhin 8,1 Prozent, die SMK hingegen, die eine strengere nationalistische Linie vertritt, blieb unter der Fünfprozenthürde.
„Im Gegensatz zur Ukraine oder zu Rumänien gibt es in der Slowakei viele gemischte Ehen“, erzählt Antal Örkeny. „Die ungarischen Minderheiten haben keinen großen sozialen Einfluss, und es liegt in ihrem ureigenen Interesse, sich in die slowakische Gesellschaft zu integrieren.“ Für den Soziologen hängt die Identitätspolitik der Minderheiten weitgehend von den sozioökonomischen Gegebenheiten ab.
Im benachbarten Ungarn zeigt uns Istvanne Szöllösi, die Vertreterin des slowakischen Nationalrats im Dorf Bükkszentkereszt, wenige Kilometer von Miskolc entfernt, den Festsaal der Gemeinde, in dem slowakische Volksmusikkonzerte veranstaltet werden. „Mitte des 18. Jahrhunderts kamen unsere Vorfahren hierher, um in den Glasfabriken rund um Miskolc zu arbeiten“, erzählt sie. „Die Fabriken gibt es nicht mehr, aber wir sind in Ungarn sehr gut integriert. Niemand kommt auf die Idee, von hier wegzugehen.“ Zwar gibt es nach wie vor eine slowakische Grundschule, doch die Dorfbewohner, die noch die Sprache ihrer Eltern sprechen, sterben langsam aus. Aber diese Situation kann sich schnell ändern. „Wenn sich die wirtschaftliche Lage in Ungarn weiter verschlechtert und eine Auswanderung in die Slowakei interessant wird, werden sich die Leute von Bükkszentkereszt sicher ganz gern auf ihre Wurzeln besinnen“, prophezeit Antal Örkeny.
Als die Slowakei und Ungarn zusammen mit acht weiteren Staaten 2004 der Europäischen Union beitraten, war damit auch die Hoffnung verbunden, dass sich die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Renaissance des Nationalismus mit der allmählichen Aufhebung der Grenzen abschwächen würde. In einer stark idealisierten Vorstellung malte man sich aus, dass die Integration in die Europäische Union „Mitteleuropa“ wiederbeleben würde. Doch dann kam die Wirtschaftskrise, in deren Gefolge eine europapolitische Maßnahme nach der anderen missglückte, und die nationale Engstirnigkeit rückte wieder in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass die 2008 ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen hat: Sie zeigte, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt die Nationalstaatsbildung auf dem europäischen Kontinent offensichtlich doch noch nicht abgeschlossen war. Und dass sich Staatsgrenzen immer noch verschieben konnten.