Falsche Wahrheiten über Zypern
von Zenon Pophaidis
Vor allem in einigen nordeuropäischen Ländern ist es herrschende Meinung, dass Zypern seinen Finanzsektor zu dem Zweck aufgebaut habe, russischen Oligarchen und Großunternehmern illegale Operationen zu ermöglichen. Diese Wahrnehmung ist schlicht falsch. Denn die Entscheidung der politischen und ökonomischen Elite der Republik Zypern, das Land in ein regionales Finanz- und Wirtschaftszentrum zu verwandeln, wurde bereits in den 1980er Jahren getroffen. Diese wirtschaftspolitische Neuorientierung zielte schon deswegen nicht auf das russische Kapital, weil es so etwas gar nicht gab. Schließlich existierte damals noch die Sowjetunion.
Mit ihrer Strategie, Offshore-Geschäfte anzuziehen, nutzten die griechischen Zyprioten vielmehr einige komparative Vorteile wie die geografische Lage, eine gute und ausbaufähige Infrastruktur, ein funktionierendes Rechtssystem, das aufgrund der Kolonialzeit auf dem englischen Recht basierte, einen leistungsfähigen Banksektor und ein solides Netz von juristischen und finanziellen Dienstleistungen. Zusätzliche Anreize boten eine niedrige Unternehmenssteuer für Offshore-Firmen und laxe Regelungen für die Lizenzierung ausländischer Unternehmen. Das Ganze erwies sich als ziemlich erfolgreich, und viele Unternehmen verlegten ihren Sitz nach Zypern. Die Folge war eine Expansion des Finanzsektors und der entsprechenden Dienstleistungen. Nach der Auflösung der Sowjetunion führte die dortige ökonomische Anarchie zu einem enormen Abfluss von russischem Kapital, von dem ein Teil in Zypern landete, weil die entsprechenden Finanzinfrastruktur hier bereits vorhanden war.
Weitere Schübe erhielt dieser Entwicklungstrend durch den Beitritt der Republik Zypern zur Europäischen Union (2004) und zur Eurozone (2008). Dadurch veränderte sich das Image des Landes binnen kürzester Zeit radikal, und der zypriotische Finanzsektor wuchs weiter. Die Einführung des Euros erhöhte das Vertrauen der ausländischen Unternehmen und Investoren. Die zypriotische Regierung beließ den Unternehmenssteuersatz für nicht ausgeschüttete Gewinne bei 10 Prozent und vereinfachte das Einkommensteuergesetz. Zudem wurden bürokratische Prozeduren verschlankt, um eine „unternehmerfreundliche“ Umgebung zu schaffen.
Viel Kapital für eine kleine Insel
All das führte zu einer gewaltigen Steigerung der Kapitalzuflüsse, vor allem in Form von Einlagen bei den zypriotischen Banken. Und in dem Maße, in dem Tausende von Firmen die Basis ihrer Finanzoperationen nach Zypern verlegten, nahmen auch die Geldtransaktionen über die Banken zu. Die explodierenden Gewinne der zypriotischen Geldhäuser und anderer Firmen im Finanzsektor erzeugten eine allgemeine Euphorie. Das Volumen der Branche wuchs auf das Sieben- bis Neunfache des zypriotischen Bruttoinlandsprodukts (BIP).1 Von 2005 bis 2012 stiegen die zypriotischen Bankeinlagen von 38,1 Milliarden Euro auf 70,2 Milliarden, also um 84 Prozent. Nach der offiziellen Statistik beliefen sich Ende 2012 die Einlagen von Bürgern aus Nichteuroländern auf 21,5 Milliarden Euro oder 120 Prozent des zypriotischen BIPs.2
Dieser enorme Zufluss ausländischen Kapitals in die winzige zypriotische Volkswirtschaft erzeugte einen gewaltigen Liquiditätsüberschuss. Die Banken nutzten diese Gelder, um ihre Operationen auf ausländischen Märkten, vor allem in Griechenland, auszuweiten, womit sie übrigens schon vor dem EU-Beitritt Zyperns begonnen hatten. Das billige Geld führte zwischen 2004 und 2008 zu einer Immobilienblase und trieb die Preise auf ein unhaltbares Niveau. Die Aussicht auf vermeintlich hohe Profite lockte ausländische Investoren an, was die Immobilienpreise weiter anheizte. Diese Blase platzte 2008, also in der entscheidenden Phase der heraufziehenden globalen Finanzmarktkrise.
Der Kapitalzufluss und die damit einhergehende Kreditexpansion wirkte sich zudem negativ auf die Zahlungsbilanz aus, die seit Jahren ein Defizit aufwies. Das bedeutete nicht nur mangelnde Konkurrenzfähigkeit, sondern verwies auch auf das Problem schnell wachsender Importe. Dieser Importüberschuss stieg 2008 auf 18 Prozent und fiel erst 2011 wieder auf ein tragbares Niveau, als das rückläufige Wirtschaftswachstum auch die Importe schrumpfen ließ.3
Das Zahlungsbilanzdefizit war nur durch einen weiteren Kapitalzufluss zu finanzieren. Den wollten die Banken verstetigen oder sogar noch verstärken, indem sie ausländische Geldanlagen mit noch höheren Habenzinsen anlockten. Damit waren sie aber gezwungen, auch ihre Kreditzinsen zu erhöhen, die zuweilen über 10 Prozent anstiegen, was für alle Bereiche der zypriotischen Wirtschaft eine schwere Belastung darstellte und deren Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigte.
Auch beim Staatshaushalt spitzte sich die Lage zu, weil die Regierung mit einer verfehlten Politik das Defizit in die Höhe trieb, was sie zur Aufnahme teurer kurzfristiger Kredite zwang. Allerdings war das jährliche Haushaltsdefizit Zyperns wie auch die staatliche Gesamtverschuldung vor der großen Bankenkrise keineswegs dramatisch und deutlich niedriger als in anderen Euroländern. Andererseits konnte jeder sehen, dass der Bankensektor dermaßen aufgebläht war, dass ihn der Staat im Ernstfall nicht retten konnte. Das war der eigentliche Grund dafür, dass Zypern seit Mai 2011, als die Bankenkrise offenbar wurde, auf den internationalen Finanzmärkten nicht mehr kreditwürdig war.
Der nächste schwere Schlag war eine Folge der griechischen Krise. Mit dem Schuldenschnitt, der im Februar 2012 für die privaten Gläubiger Griechenlands beschlossen wurde, verloren die zypriotischen Banken etwa 4,5 Milliarden Euro, was etwa einem Viertel des zypriotischen BIPs entspricht. Zudem mussten die Filialen der zypriotischen Banken in Griechenland hohe Summen abschreiben, weil viele Kunden ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten.
Auch in Zypern selbst verschlechterte sich die Kreditbilanz rapide, vor allem als Folge der hohen Summen, die in den aufgeblähten Immobiliensektor geflossen waren. Dies hatte, wie zu erwarten, auch negative Folgen für die zypriotische Volkswirtschaft, die 2009 in die Rezession abrutschte. Zugleich spitzte sich die Krise im Finanzsektor derart zu, dass die beiden größten Banken staatliche Hilfen beantragen mussten. Die Regierung zögerte und beantragte erst mit erheblicher Verspätung – was die Lage nur noch verschärfte – einen Rettungsplan im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Nach langen Verhandlungen mit der Troika (EU, EZB und IWF) kam im November 2012 eine Vereinbarung, das sogenannte Memorandum, zustande.
Die große Frage lautet: Konnte das beschriebene Entwicklungsmodell überhaupt tragfähig sein? Die Antwort ist: in der extremen Ausprägung der letzten Jahre auf keinen Fall. Der überdimensionierte Bankensektor und die hohen Guthabenzinsen waren auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Es ist erstaunlich, dass fast die gesamte politische Klasse Zyperns dies nicht rechtzeitig erkannt und die Warnungen einheimischer Experten sowie der internationalen Ratingagenturen ignoriert hat.
Fatal war auch, dass die zypriotischen Aufsichtsinstanzen, vorweg die Zentralbank, nichts taten, um den absehbaren Bankencrash abzuwenden. Gefangen in ihrem ultraliberalen Dogma, ließen sie es zu, dass die Vorstandsgremien der Banken allein für die Einschätzung der Risiken verantwortlich waren.
Dennoch kann der Finanzsektor Zyperns durchaus lebensfähig bleiben, wenn eine vernünftige Politik umgesetzt wird. Die Entscheidung der Eurozone, den zypriotischen Bankensektor auf die Durchschnittsgröße der Mitgliedsländer zu reduzieren, ist nicht unbedingt richtig und auf lange Sicht auch nicht durchzusetzen. Denn Zypern besitzt, wie eingangs erklärt, eine Reihe komparativer Vorteile, die nicht einfach verschwinden werden. Viele ausländische Firmen werden die auch weiterhin nutzen, wenn sich die Wirtschaft einigermaßen erholt hat.
Radikale Wende in der Krisenpolitik
Die Republik Zypern hat ihre Gesetzgebung mit den einschlägigen EU-Normen schon in der Anpassungsphase vor ihrem Beitritt harmonisiert, was von EU-Kommission begutachtet und für korrekt befunden wurde. Zypern übernahm in der Folge alle Direktiven aus Brüssel, die sich auf das Problem der Geldwäsche beziehen. Auch der IWF und die Moneyval-Kommission des Europarats4 haben das zypriotische System in jüngerer Zeit gecheckt und positiv bewertet. Im Übrigen könnte die Eurozone, wenn das Problem nur eine zu laxe Kontrolle der Geldflüsse wäre, ohne Weiteres effektive Maßnahmen zur Eindämmung der Geldwäsche durchsetzen. Aber die Europäische Union wie die internationale Gemeinschaft haben es bislang versäumt, ein Regelwerk zu verabschieden, das für die notwendige Transparenz sorgen würde. Was auch für die einschlägigen Dienstleistungen der Großbanken gilt.5
Das heißt keineswegs, dass in Zypern in Sachen Geldwäsche alles mit rechten Dingen zuging. Einer der wenigen Fälle, durch die Zypern konkret und explizit belastet wird, geht auf die Aussagen des Moskauer Anwalts Sergei Magnitsky zurück, der 2009 im Gefängnis verstorben ist.6 Aber der ganze Komplex Geldwäsche ist seiner Natur nach so wenig transparent, dass es schwer ist, den eigentlichen Ursprung der russischen Gelder zu ermitteln, die sich um die ganze Welt bewegen. Von verschiedenen Experten wird der Umfang des russischen Kapitals, das auf zypriotischen Banken liegt, auf 20 bis 30 Milliarden Euro geschätzt, und die Geldumsätze dürften noch deutlich höher liegen. Gleichzeitig ist Zypern einer der größten ausländischen Investoren in Russland, was bedeutet, dass riesige Summen dieser Gelder in ihr Ursprungsland zurückfließen. All diese Transaktionen erfolgen legal auf Basis des Doppelbesteuerungsabkommens, das Nikosia und Moskau unterzeichnet haben.
Natürlich kann man berechtigte Zweifel an der ethischen Legitimation solcher Operationen haben, und die Praktiken der zypriotischen Banken und anderer Beteiligter sind ganz sicher verbesserungswürdig. Aber das gilt nicht nur für Zypern, sondern für viele andere Länder auch.
Die Beschlüsse, die am 15. und am 25. März von der Eurogruppe und dem IWF getroffen wurden, zielten eindeutig auf die Zerschlagung des zypriotischen Finanzsektors. Das Land benötigte 17 Milliarden Euro, um die beiden größten Banken zu rekapitalisieren, seine Staatsschulden zu refinanzieren und natürlich die erwarteten Haushaltsdefizite der nächsten drei Jahre abzudecken. Die Eurogruppe bewilligte eine Kredithilfe von 10 Milliarden Euro unter der Bedingung, dass Zypern die Rekapitalisierung seiner Banken aus eigenen Mitteln bewältigen konnte. Da dies ausgeschlossen war, verfügten die Finanzminister der Eurozone die Abwicklung der zweitgrößten Bank, der Laiki Trapeza. Damit verloren die Kontoinhaber der Laiki-Bank ihre gesamten Einlagen über der Grenze von 100 000 Euro. Und auch die Einleger bei der größten Bank, der Bank of Cyprus, müssen einen Haircut von 40 bis 60 Prozent (bei Einlagen über 100 000 Euro) hinnehmen. Damit verlieren zypriotische wie ausländische Kontobesitzer ganz erhebliche Geldsummen; wobei die Verluste von russischen Kapitaleignern auf mindestens 3 Milliarden Euro geschätzt werden.
Nachdem die zypriotische Regierung mit ihrem Ersuchen um russische Hilfe – wie zu erwarten – abgeblitzt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als die von der Eurozone diktierten Bedingungen zu schlucken. Zu diesem „Rettungsplan“ gehören eine Reihe von Sparmaßnahmen und ein Privatisierungsprogramm, die für Zypern außerordentlich hart sind. Zugleich bedeutet er eine radikale Wende in der Krisenpolitik der Eurozone. Auf einmal sollen die Bankkunden, die ein Konto unterhalten, für die Entscheidungen geradestehen, die leichtfertige Banker getroffen haben.
Damit sind neue moralische Maßstäbe etabliert, die das seit über hundert Jahren gültige Finanz- und Wirtschaftsmodell entscheidend verändern: Die Einlagen sind nicht mehr sicher. Falls dieses neue Modell darauf angelegt sein soll, den Finanzsektor zu stabilisieren, ist die Sache schiefgegangen. Erreicht wurde vielmehr das Gegenteil.
Was war die Alternative? Die Eurozone hätte Zypern einen langfristigen Plan zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Korrektur des Finanzsektors vorschlagen können und müssen. Stattdessen entschied man sich für die entgegengesetzte Methode. Die brutale Abwicklung des zypriotischen Finanzsektors wird eine Rezession zur Folge haben, Experten rechnen mit einem Einbruch von bis zu 25 Prozent des BIPs. Sobald die Kapitalverkehrskontrollen aufgehoben werden, dürfte eine Kapitalflucht einsetzen. Die Arbeitslosenrate wird bis zum Jahresende auf über 20 Prozent steigen (derzeit 15 Prozent). Das alles wird den Staatshaushalt treffen, und das heißt: Die öffentlichen Ausgaben werden gekürzt und die Steuern erhöht, was wiederum eine Abwärtsspirale auslöst, die schwer zu durchbrechen sein wird.
In den Medien wird bereits heftig diskutiert, ob Zypern aus der Eurozone austreten soll. Die Rückkehr zum Zypernpfund ist keine leichte Option, denn das Land wäre angesichts seiner Euro-Schulden sofort bankrott. Zudem bestünde die Gefahr einer Hyperinflation mit gravierenden politischen Konsequenzen, die sich auch auf die EU-Mitgliedschaft Zyperns auswirken könnten. Dennoch ist in der aktuellen Situation, die sich politisch und wirtschaftlich noch verschärfen kann, eine solche Entwicklung nicht auszuschließen. Das zukünftige Wirtschaftsmodell Zyperns dürfte sich vom alten nicht radikal unterscheiden. Das Land wird eine Dienstleistungsökonomie bleiben, und auch ein regionales Finanzzentrum, wenn auch in kleineren Dimensionen. Der Tourismussektor wird wohl an Bedeutung gewinnen, ebenso wie einzelne industrielle Nischenbereiche und Dienstleistungen in Bereichen wie Reedereimanagement, Gesundheits- und Bildungswesen. Ob die Hoffnungen auf eine künftige Erdgasförderung realistisch sind, ist noch nicht abzusehen (siehe Artikel von Niels Kadritzke).
Zurzeit ist die Regierung vor allem damit beschäftigt, das Bankensystem zu stabilisieren, wozu sie auf die Hilfe der EZB angewiesen ist. Sie tut zudem alles, um die Atmosphäre zu beruhigen und einen sozialen und politischen Minimalkonsens zu erhalten. In der Bevölkerung entwickelt sich nach dem anfänglichen Schock eine Stimmung der Wut. Die richtet sich zum Teil gegen die EU und insbesondere die deutsche Regierung, deren Entscheidungen als brutales Abstrafen empfunden werden. Mehr und mehr jedoch richtet sich der Volkszorn gegen die einheimische ökonomische und politische Elite richtet, die als gierige, korrupte und unfähige Klasse wahrgenommen wird.