Rasseln ohne Säbel
Im Konflikt mit Japan überschätzt China seine Kräfte von Shi Ming
Am 5. Februar 2013 gab es keine besonderen Vorkommnisse, nicht einmal schweren Seegang auf dem Ostchinesischen Meer nahe den Senkaku-Inseln, die auf Chinesisch Diaoyü Dao heißen. Aber dann wurde der chinesische Fischkutter „Zhelingyu 236382“ von der japanischen Küstenwache aufgebracht und sein Kapitän Shang Hengcai (56) verhaftet. Die Inseln waren lange schon ein Zankapfel zwischen beiden Staaten; seit August 2012 sind sie zum Krisenherd zwischen Peking und Tokio geworden. Shang soll nun in Japan der Prozess gemacht werden.
Dergleichen ist nichts Neues und eigentlich auch nichts Besonderes: Immer wieder wurden chinesische Fischer in den umstrittenen Seegebieten von japanischen Patrouillen aufgebracht. Oft kam es auch zu Gerichtsverfahren und Verurteilungen, trotz aller Proteste aus China. Bis heute verhalten sich beide Staaten unnachgiebig. Offiziell geht es um heiliges nationales Territorium, auf das keine der Regierungen verzichten darf.
Dennoch reagierte Peking am 5. Februar auf die Meldung aus Japan überhaupt nicht: Keine Protestnote kam aus dem Außenministerium, keine amtliche Nachrichtenagentur erwähnte die Verhaftung. Als einzelne Blogger mit übersetzten Meldungen aus dem Ausland Alarm zu schlagen suchten, brodelte es selbst im ketzerischen Internet nicht. Es schien, als ob Peking der heilige Boden egal wäre und 1,3 Milliarden Chinesen sich nicht für das Schicksal eines Landsmannes interessierten. Doch der Schein trügt.
Noch vor Monaten ging es hoch her. Am 10. September 2012 hatte die Regierung in Tokio die Senkaku-Inseln von einer japanischen Privatperson gekauft. Aus Protest schickte Peking 1 200 Fischkutter mit einer bewaffneten Eskorte in die umstrittenen Seegebiete. In 117 Städten kam es zu antijapanischen Demonstrationen. Kein Fußbreit chinesischer Erde darf von Japan annektiert werden, hieß es, kein Haar darf je einem Chinesen von einem Japaner gekrümmt werden! Chinas Nationalisten vermöbelten Fahrer japanischer Autos.
Und nicht nur der Volkszorn kochte hoch. Ein chinesischer Zerstörer zielte mit Feuerleitradar auf japanische Patrouillenboote. Japanische F-15 Kampfjets fingen chinesische Y-8-Aufklärer in dem umstrittenen Luftraum ab. Japanische Polizisten kaperten die Inseln, um den Anspruch auf das Territorium zu bekräftigen. Peking reichte Seekarten bei der UNO ein, die Chinas Recht auf das Archipel dokumentieren sollten.
Die schrillen politischen Töne machen deutlich, dass es um sehr viel mehr geht als um ein paar Inseln und das Schicksal einzelner Fischer. Japans rechte Politiker beschworen in dem TV-Sender NHK eine drohende chinesische Invasion. In Peking plädierten Militärs im Ernstfall für Bomben auf Tokio. Im Oktober besuchte Japans neuer Premier Shinzo Abe den umstrittenen Yasukuni-Schrein.1 Ende 2012 konterte Chinas neuer KP-Chef Xi Jinping bei der Inspektion von Raketeneinheiten mit einem Appell an die Streitkräfte: Sie müssten fähig sein, jede Schlacht gegen jeden Feind nicht nur zu wagen, sondern auch zu gewinnen.
Aber die Regierung in Peking ging noch einen Schritt weiter: Zum ersten Mal seit Beginn der Reformpolitik 1978 organisierten sie einen Wirtschaftsboykott. Touristikunternehmen stornierten Reisen nach Japan. Toyota beklagte große Umsatzeinbrüche in China. Auch ein Währungsabkommen wurde suspendiert, das es China und Japan erleichtern soll, ihren bilateralen Handel (im Umfang von 300 Milliarden Dollar pro Jahr) in eigener Währung zu verrechnen, um das Dollarrisiko zu minimieren.
Die Wirtschaftsexperten stritten, wen der Boykott zuerst ruinieren würde – China oder Japan? Die Zahlen zeigen es: Der bilaterale Handel ging 2012 insgesamt um 3,9 Prozent zurück, dabei wirkten sich der Streit erst ab Mitte September auf den Handel aus. Von diesem Rückgang entfiel der Löwenanteil auf Chinas Exporte nach Japan, die um 10 Prozent sanken. Ähnliches bei den Investitionen: Die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in China gingen für das ganze Jahr 2012 um 4 Prozent zurück, im Januar 2013 waren es schon 7 Prozent. Am stärksten halten sich Geldgeber aus den USA, Japan und der pazifisch-asiatischen Region zurück.
In diesem Konflikt zwischen der zweitgrößten und der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt schätzt China die Situation nicht richtig ein. Führende Politiker machen Stimmung gegen Japan in dem Glauben, Japan könne ohne China niemals aus seiner jahrzehntelangen Rezession herausfinden. Deshalb könne man das Land straffrei abstrafen. Das ändert sich nun.
Mitte März trat die neue japanische Regierung Abe den Verhandlungen über die sogenannte Trans Pacific Partnership (TPP) bei. Sofort schrillten in Peking die Alarmglocken. Wirtschaftsexperten wie Ma Yu warnen: „Kommt die TPP unter Führung der USA und mit Beteiligung Japans zustande, wird China globalwirtschaftlich marginalisiert.“ Und Mei Yuxin, Berater des Handelsministeriums in Peking, sagt ganz offen: „Für japanische Technologielieferungen, etwa im IT-Bereich, haben wir kaum Ersatzmöglichkeiten.“ Dagegen ließen sich chinesische Lieferungen leicht aus anderen Quellen ersetzen.2
Am 27. März äußerte das Parteiorgan der KP, Renmin Ribao, die Befürchtung, Japans Beitritt zur TPP könnte sich gegen China richten: Angesicht dessen, was die TPP von ihren Teilnehmern fordere, womit er etwa Umwelt- und Sozialstandards im Auge hatte, könne China „beim heutigen Entwicklungsstand unmöglich dabei sein“. Im Klartext: Würde China sich an einer TPP beteiligen, müsste es im globalen Wettbewerb auf Konkurrenzvorteile verzichten, die auf billiger Arbeitskraft und laxen Umweltkontrollen beruhen.
Die Chinesen bleiben nicht untätig. Gegenüber der TPP favorisieren sie die von den Asean-Staaten angeschobene RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), eine Freihandelszone mit 300 Millionen Konsumenten. Doch sie werden von dem Albtraum geplagt, die Japaner könnten die potenziellen Partner abspenstig machen.
Tatsächlich unterstützt Tokio die Philippinen im Konflikt mit China um Inseln im Südchinesischen Meer.3 Das Gleiche gilt für Vietnam. Weitere Asean-Staaten wie Indonesien oder Malaysia haben ihren Beitritt zur TPP fest zugesagt. Anfang März hat Japan auch Birma (Myanmar) umgerechnet 11,8 Milliarden Euro Schulden quasi erlassen; das Land war bis dato der engste Verbündete Pekings. Die chinesischen Investitionen in Birma liegen mit 12,54 Milliarden Euro nur wenig höher als die japanischen. Sollte die geplante Investition in das Wasserkraftwerksprojekt Myitsone entfallen, das Rangun 2011 wegen Umweltbedenken gestoppt hatte, würde China als Investor sogar hinter Japan zurückfallen.
Prügel für Fahrer japanischer Autos
Japan versucht sich aus seiner Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffimporten zu lösen, etwa bei den seltenen Erden, die es zu 90 Prozent aus China bezieht. Als 2010 der Konflikt um die Senkaku-Inseln erstmals eskalierte, unterbrach Peking tagelang die Lieferungen. Daraufhin engagierte sich Japan anderswo. Ende 2012 begann das erste japanisch-kasachische Joint Venture mit der Förderung seltener Erden, die dieses Jahr 1 500 Tonnen erreichen und bis 2017 auf über 5 000 Tonnen gesteigert werden soll.
Mitte November sagte Japans Außenminister Gemba fünf zentralasiatischen Staaten Finanzhilfen in Höhe von 700 Millionen Dollar zu, die der Erschließung von Vorkommen seltener Erden dienen sollen. Zum Vergleich: Im Zeitraum 2001 bis 2011 investierte China in Zentralasien rund 8 Milliarden Dollar, verteilt auf über zehn Branchen. Auch in Birma, Indien und in der Mongolei engagiert sich das Hightech-Land Japan sowohl finanziell als auch politisch, um seine Abhängigkeit von Peking zu reduzieren.
Je weniger Trümpfe Peking gegenüber Tokio in der Hand behält, desto unsicherer wird seine Politik gegenüber einem Land, dem die Herrscher Chinas seit über 100 Jahren nie über den Weg trauten. 1895 hatte Japan in einer einzigen Seeschlacht die gesamte chinesische Kriegsflotte vernichtet. Bis 1945 kontrollierte es Chinas wichtigste Städte und Industrien. Danach bekundete die chinesische KP stets ihre Entschlossenheit, diese Schmach zu vergelten.
Inzwischen zeichnet sich auch in China eine Wirtschaftsflaute ab. Experten der Akademie der Sozialwissenschaften in Peking (Cass) sehen Chinas Wachstum, das 2012 noch 7,8 Prozent erreichte, ab 2014 nur noch bei knapp 6 Prozent. Aber schon 2011 registrierte die Staatssicherheit 130 000 gewalttätige Protestaktionen. Sinkt das Wachstum weiter, dürfte diese Zahl weiter ansteigen. Wenn die KP-Führung das Volk nicht mehr mit der Steigerung des – ungerecht verteilten – Wohlstands bei Laune halten kann, muss sie es auf andere Weise versuchen. Das Mittel der Wahl wäre ein internationaler Konflikt, der kontrollierbar erscheint. Deshalb hat Peking mit dem Streit um die Inseln im Ostchinesischen Meer jahrelang gepokert, blieb aber stets darauf bedacht, die wirtschaftlichen Auswirkungen zu begrenzen und keinen größeren geopolitischen Konflikt zu riskieren.
Jetzt aber wird der Einsatz deutlich und gefährlich erhöht. Staatschef Xi Jinping hat ein seit Ende des Kalten Kriegs geltendes Tabu gebrochen. Peking demonstriert den Willen, sich mit der asiatischen Großmacht Japan notfalls auch militärisch anzulegen. Deshalb rührt man kräftig die Propagandatrommel – und schießt dabei schon mal ein Eigentor: So inseriert man, um dem Gegner zu imponieren, voreilig und allen Regeln der Geheimhaltung widersprechend, die modernsten chinesischen Waffensysteme, wie die Tarnkappenjets Typ J-20/21 und Typ J-30/31, die es laut Werbung mit der US-amerikanischen F-35 oder der russischen MiG-35 aufnehmen könnten. Dabei befinden sich beide Kampfjets noch in der Entwicklung und ihre Triebwerke müssen aus Russland gekauft werden.
Xi Jinping soll bei seinem Antrittsbesuch in Moskau Ende März über 1 000 Triebwerke und dazu 24 MiG-35 und zwei U-Boote bestellt haben, wie der chinesische Staatssender CC-TV verkündete. Als daraufhin die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass meldete, Moskau sei nicht zur Lieferung bereit, kam die Klarstellung: Die Verhandlungen dauern noch an, und ein Technologietransfer sei nicht vorgesehen. Das heißt: Selbst wenn der Großkauf zustande kommt, wird China nicht über die Kapazitäten verfügen, um einen Luftkrieg gegen das mit US-Kampfjets ausgerüstete Japan zu gewinnen. China rasselt also mit Säbeln, die es gar nicht hat.
Innerhalb der Sicherheitspartnerschaft zwischen Japan und den USA wurde seit 2003 ein Raketenabwehrsystem (Theater Missile Defense, TMD) aufgebaut, das auch Südkorea und (unausgesprochen) Taiwan einschließt. Angesichts der jüngsten Drohungen aus Nordkorea wurde das TMD weiter verstärkt. Zudem unterhalten die japanischen „Selbstverteidigungskräfte“ ein gemeinsames Kommando mit der US-Militärbasis auf der Insel Guam. China könnte also mit Japan keinen Krieg führen, ohne auch Guam anzugreifen, das heißt den USA den Krieg erklären.
Beim Antrittsbesuch des japanischen Regierungschefs Abe bei Obama im März wurde beschlossen, die militärischen Operationen noch enger zu koordinieren. Besonders alarmierend für Peking ist dabei, dass Japans Schnelle Eingreiftruppen wie auch Marine und Luftwaffe auf Kommandoebene mit einem der wichtigsten US-Stützpunkte nahe Tokio koordiniert werden sollen. Zudem plant das Pentagon eine enge Koordination für den Fall, dass China versuchen sollte, die Senkaku-Inseln gewaltsam zurückzuerobern.
Langfristig treibt Chinas Strategen eine weitere Sorge um: Das Sicherheitsabkommen Japans mit den USA könnte Nachahmer in Süd- und in Südostasien finden. Mit Vietnam verhandelt Washington schon länger über eine Marinebasis.4 Die Philippinen und Singapur bewerben sich aktiv um US-Militärbasen. Beide Länder haben bereits gemeinsame Manöver mit der japanischen – und der australischen – Marine im Südchinesischen Meer abgehalten.
Auch Chinas Rivale Indien geht auf Japan zu. Gefährdet ist auch das von Peking stets für sicher gehaltene Bündnis mit dem Regime in Birma, das durch japanische Investitionen und Sicherheitsgarantien der USA geködert werden könnte. All das bestärkt die Nationalisten wie die Ultralinken in ihrer Angst vor der Entstehung einer Art asiatischen Nato, die sich gegen China richtet und in der Japan eine führende Rolle spielt.
2009 schrieb Luftwaffenoberst Dai Xu, ein militärischer Falke, ein Buch mit dem Titel „Die C-förmige Umzingelung“. Darin warnt er vor einer Einkreisung Chinas für den Fall, dass außer Birma auch noch Nordkorea kippe, das ein Drohpotenzial auch für Japan darstelle. Diese düstere Vision wurde weder durch die Pflichtoptimisten der Parteizentrale zensiert noch wurde der Autor gemaßregelt. Dai äußert sich inzwischen in vielen Talk- und Bloggerrunden über den Konflikt um die Senkaku-Inseln. Seine Ansichten wurden von den Wirtschaftsliberalen lange belächelt, die in der ökonomischen Interdependenz zwischen China, Japan und den USA eine Sicherheitsgarantie für China sehen. Aber heute ist die Wirtschaft selbst zu einer treibenden Kraft der Konfrontation geworden.
Angesichts der immer ernster werdenden „Sicherheitslage des Vaterlandes“ befürworteten Liberale die Öffnung nach Westen und eine Versöhnung mit Japan. Die Linken halten das für Hochverrat, mit Verweis auf den pro-westlichen Kurs von Michail Gorbatschow, der für Chinas Marxisten den Zusammenbruch der Sowjetunion herbeigeführt hat. Zu diesem Streit hat die in Machtkämpfe verstrickte KP-Führung bis zum 18. Parteitag im November 2012 geschwiegen. Seitdem hat der neue Parteichef Xi Jinping nur einen einzigen Leitsatz formuliert: Die Apokalypse der Sowjetunion werde sich in China niemals wiederholen. Das werde er, Xi, mit aller Kraft verhindern.
Der konservative Generalmajor und Fernsehkommentator Luo Yuan fordert eine neue chinesisch-russische Allianz, die gegen das Gespann Japan/USA gerichtet ist. Aber es äußern sich auch andere Akteure, an denen die Führung nicht mehr vorbeikommt. So fordert der mächtige Staatskonzern China Oil, die milliardenteuren Bohrinseln vor den Senkaku-Inseln dürften nicht länger ungenutzt vor sich hin rosten. Man könne keine Rücksicht mehr darauf nehmen, dass Chinas Landwirtschaft Reis für den japanischen Markt produziere oder dass die Fabriken von Schanghai japanische Elektrochips brauchten. Schließlich könnten Chinas Fischtrawler alle Meere der Region leerfischen, wenn die Volksmarine den Geleitschutz übernehmen würde.
Doch in diesem Fall müsste Peking sämtliche Konflikte militärisch austragen: mit Japan, Südkorea, Vietnam und den Philippinen – aber auch mit Russland, dem von General Luo Yuan bevorzugten Bündnispartner. Moskau pflegt freilich bei direkten Konflikten rabiater zu reagieren als die Japaner, die Kapitän Shang nur vor Gericht stellen. Im Februar 2009 hatte die russische Küstenwache einen Kutter aus China unter Feuer genommen, angeblich mit 500 Schüssen. Die Zahl der Toten ist bis heute unbekannt.