Wo genau liegt Kurdistan?
Die Zukunft eines verstreuten Volkes in einer unruhigen Region von Vicken Cheterian
Erbil ist heute eine Boomtown, die ganze Stadt eine einzige Baustelle. Die alten Lehmziegelhäuser werden abgerissen, um Shoppingmalls, Hotels und Apartmenthäusern Platz zu machen. In den Außenbezirken schießen moderne Wohnsiedlungen für die neue kurdische Mittelklasse aus dem Boden. Die meisten neu eröffneten Geschäfte handeln mit Baumaterialien, Möbeln und Elektrowaren. Auf den breiten Straßen dominieren große Jeeps mit Allradantrieb. Überall sieht man Besucher und Urlauber aus dem übrigen Irak auf Einkaufstour. Kaufleute aus der Türkei, Manager aus dem Libanon, Hotelfachkräfte sind hergekommen, um ihr Glück zu machen. Aus der staubigen, steinigen Provinz ist in wenigen Jahren ein gelobtes Land geworden.
Die Geschichte hat es mit den Kurden nie gut gemeint. Als die europäischen Mächte nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches die Grenzen in der Region neu zogen, fiel für die Kurden kein eigener Staat ab. Stattdessen fanden sie sich auf vier Länder verteilt, als Minderheit in den Randgebieten der neuen Staaten. Der kurdische Nationalismus war in den 1920er Jahren noch schwach ausgebildet, entwickelte sich dann aber in dem Maße, in dem die Kurden marginalisiert, diskriminiert und unterdrückt wurden.1
„Zum ersten Mal seit Beginn der Neuzeit bietet die Geschichte den Kurden eine echte Chance,“ meint der kurdische Historiker Jabar Kadir im Hinblick auf die letzten 20 Jahre, beginnend mit der irakischen Invasion in Kuwait 1991, der anschließenden kurdischen Intifada und der Durchsetzung einer Flugverbotszone im Nordirak durch die USA. Letztere bedeutete für die Kurdengebiete einen effektiven Schutz vor dem irakischen Militär, der es ermöglichte, unter schwierigen Bedingungen ein eigenes Parlament zu wählen.
Aber Kadir räumt ein, dass die Kurden mit ihrer ewigen Zerstrittenheit auch selbst für Probleme in der Vergangenheit verantwortlich waren: „Die Bruchlinien verliefen zwischen den verschiedenen Clans und Stämmen, die sich als politische Parteien organisierten.“ Immer wieder gingen kurdische Guerillagruppen in der Türkei, im Iran und im Irak im Kampf gegen ein repressives Regime Bündnisse mit dem jeweiligen Nachbarstaat ein, der seinerseits seine kurdische Minderheit unterdrückte.
1991 bekamen die irakischen Kurden erstmals Unterstützung durch eine Macht außerhalb der Region – die USA. Zwölf Jahre später führte deren Invasion im Irak den Sturz der Baath-Diktatur herbei. Damit konnten die kurdischen Peschmerga nach Süden vorrücken und sämtliche kurdisch besiedelten Gebiete einnehmen, wobei ihnen auch ein Teil der Waffen des Saddam-Regimes in die Hände fiel.
Die irakischen Kurden und der Reichtum von Kirkuk
Die neue irakische Verfassung vom 2005 legitimierte die autonome kurdische Region im Norden des Landes, was die Erwartungen der Kurden im Iran, in Syrien und der Türkei beflügelte, die einen ähnlichen Status einforderten. Die Etablierung der Regionalen Regierung von Kurdistan (KRG) auf dem autonomen Gebiet und die Legalisierung der Peschmerga-Kämpfer machten das irakische Kurdistan zum neuen Zentrum der kurdischen Politik. Zugleich war ein neuer politischer Akteur in der Nahostregion geboren.
Nach dem Sturz des Saddam-Regimes waren die Kurden die einzige organisierte politisch-militärische Kraft im Land. Sie spielten eine zentrale Rolle als Unterstützer der US-Besatzungstruppen und bildeten den Kern der neuen irakischen Armee. Noch heute sind viele hochrangige Funktionsträger Kurden: vom Staatspräsidenten Dschalal Talabani über den Außenminister Hoschjar Sebari bis zum Generalstabschef der Armee, Babakir Zebari.
Die Übernahme so wichtiger Positionen bedeutete jedoch keineswegs, dass die Kurden auf nationaler Ebene echten politischen Einfluss gewannen. Das wurde spätestens im November 2012 deutlich, als sich die Krise zwischen der irakischen Zentralregierung unter Ministerpräsident al-Maliki und der KRG dramatisch zuspitzte. Vier Monate zuvor hatte al-Maliki eine neue Truppe namens „Operationskommando Dijla“ (Arabisch für Tigris) aufgestellt, die im November mit Infanterie- und Panzereinheiten in das Gebiet südlich von Kirkuk und im März 2013 in den Distrikt Sindschar nahe der syrischen Grenze einrückte, deren Bewohner überwiegend Kurden und Jesiden sind. Diese Truppe steht unter dem Kommando von General Abdel-Amir al-Zaidi, der unter Saddam Hussein an Operationen gegen die kurdische Bevölkerung beteiligt war. Das Vorrücken alarmierte die KRG-Führung, die ihrerseits Tausende ihrer Peschmerga in diese Region entsandte. Die reale Gefahr erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen der irakischen Armee und den kurdischen Kämpfern besteht fort, denn trotz intensiver Verhandlungen konnte der Konflikt bislang nicht beigelegt werden.
Die Politiker in Irakisch-Kurdistan behaupten, dass die Minderheiten in ihrem Gebiet sicher und gleichberechtigt leben können. In Erbil lässt sich das im Stadtteil Ainkawa überprüfen, wo die Christen ungehindert ihre Traditionen und ihre Lebensweise pflegen. Zwar haben die Peschmerga früher gegen christliche Gruppen gekämpft, aber die Repression unter dem Baath-Regime hat bewirkt, dass Kurden, Assyrer2 und Jesiden das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals entwickelt haben. Allerdings gibt es nach wie vor Spannungen zwischen der kurdisch dominierten Verwaltung (und Polizei) und der arabischen wie der turkmenischen Bevölkerung.
Das gilt vor allem für Kirkuk: Der Streit um die Stadt ist eine der Hinterlassenschaften des Baath-Regimes. Unter Saddam Hussein betrieb die Zentralregierung hier, wie in anderen Regionen, eine Politik der Arabisierung. Dabei ist Kirkuk von besonderer strategischer Bedeutung, weil die Region über rund ein Zehntel der irakischen Öl-und Gasvorkommen verfügt. Deshalb wurden etwa 300 000 Kurden – zusammen mit Assyrern und Jesiden – aus der Gegend vertrieben und durch sunnitische Araber ersetzt, die aus der östlichen Provinz Anbar umgesiedelt wurden, aber auch durch schiitische Araber aus dem Südirak.
Nach der Invasion der US-Truppen rückten die Peschmerga in die Gegend vor, die sie seither kontrollieren. Für diese offiziell als „umstritten“ definierten Gebiete sieht die neue irakische Verfassung in Artikel 140 „Korrekturen“ vor: Die arabischen Umsiedler sollen angehalten werden, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren, die vertriebenen Kurden dagegen entschädigt werden und in ihre alten Wohnorte zurückkehren können. Nach Abschluss dieser Rücksiedlung ist eine Volkszählung vorgesehen, danach soll ein Referendum darüber entscheiden, ob dieses Gebiet Teil der autonomen Kurdenregion wird. Dieses Referendum sollte ursprünglich schon 2007 stattfinden, aber bis heute gibt es dafür noch kein neues Datum.
Die Situation in Kirkuk ist das Abbild der Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Kurden, Bagdad und Erbil.3 Hier ist die Polizei in kurdischer Hand und die politische Macht liegt bei der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), deren Chef Staatspräsident Talabani ist. Aber auch die irakische Armee ist in den umstrittenen Gebieten präsent, wobei allerdings jede Truppenbewegung Proteste von kurdischer Seite auslöst. Die Regierung in Erbil blickt zudem mit wachsender Sorge auf die Verhandlungen zwischen Bagdad und Moskau über Waffenlieferungen in Höhe von mehreren Milliarden Dollar.4
Streit um das Kommando über die Peschmerga
Die territoriale Frage ist jedoch nicht der einzige Konfliktstoff. KRG und Zentralregierung streiten auch über die Interpretation der Verfassungsartikel, die sich auf die Rolle der Peschmerga beziehen. Die Kurden sehen ihre Streitkräfte als Teil der nationalen Militärmacht und beanspruchen Gelder und Rüstungsgüter aus dem irakischen Verteidigungsbudget. Andererseits aber wollen sie am autonomen Status der Peschmerga festhalten. Bagdad fordert dagegen, sie dem zentralen Militärkommando zu unterstellen.
Ein dritter Streitpunkt ist der Anspruch auf die Öl- und Erdgasvorkommen. Laut Verfassung stehen der KRG 17 Prozent der irakischen Staatseinnahmen zu, die größtenteils aus der Ölförderung stammen.5 Diese Gelder sind heute die wichtigste Quelle des relativen Wohlstands der Kurdenregion, aber auch die einzige Nabelschnur zwischen den kurdischen und den arabischen Territorien des Irak. Bagdad wirft Erbil allerdings vor, sich nicht an die Regeln zu halten, indem es Öl und Gas auf eigene Rechnung über die Türkei exportiert, ohne die Einnahmen an den zentralen Staatshaushalt abzuführen.6
Dass diese komplizierten Streitfragen noch nicht beigelegt sind, liegt auch an der persönlichen Animosität zwischen dem irakischen Regierungschef Nuri al-Maliki und KRG-Präsident Massud Barsani. Der Konflikt zwischen beiden rührt unter anderem daher, dass Barsani im Sommer 2012 maßgeblich an dem (gescheiterten) Versuch beteiligt war, ein Misstrauensvotum gegen al-Maliki zu organisieren. In Erbil hält man sich mit Kritik an Bagdad nicht zurück: „Al-Maliki wurde nicht direkt vom irakischen Volk gewählt“, argumentiert KRG-Außenminister Fallah Mustafa. Fuad Hussein, Kabinettschef und enger Vertrauter von Präsident Barsani, bezeichnet gar al-Malikis Amtssitz als „Fabrik zur Produktion von Problemen“.
Noch heute kann die irakische Armee mit militärischem Druck bei den Kurden ungeheure Ängste erzeugen. Seit der Gründung des irakischen Staats hat die kurdische Minderheit unter der Repression der Zentralregierung gelitten. Schon 1963, als das Baath-Regime an die Macht kam und die totalitäre Ideologie eines arabischen Nationalismus pflegte, erging es ihr übel. Noch schlimmer wurde es während des Irak-Iran-Kriegs (1980–1988), als Saddam Hussein nahezu eine Politik des Völkermords verfolgte.
Die Erinnerung an diese Zeiten ist in Kurdistan immer noch lebendig. Niemand hat den Giftgasangriff auf Halabdscha vergessen, bei dem 5 000 Menschen starben. Aber heute kommen neue Ängste hinzu: Ein militärischer Konflikt um die Region Kirkuk könnte die KRG ökonomisch schwer treffen und ausländische Unternehmen davon abhalten, weiter zu investieren. „Bagdad sieht neiderfüllt auf unsere sicheren Verhältnisse und unseren Wohlstand“, meint Fuad Hussein, „aber in Basra und Nasiriya ist die Lage auch stabil. Warum können sie nicht dort endlich das Problem der Wasser- und Stromversorgung lösen oder Krankenhäuser und Schulen bauen, statt F-16-Kampfflugzeuge zu kaufen?“
Der Druck aus Bagdad hat eine zweifache Wirkung. Zum einen sorgt er dafür, dass die traditionell zerstrittenen politischen Fraktionen der Kurden zusammenrücken. Selbst Staatspräsident Talabani kam nicht umhin, wie sein alter Rivale Barsani die Regierung in Bagdad zu kritisieren und aufzufordern, ihre Truppen zurückzuziehen und das „Operationskommando Dijla“ aufzulösen. Außerdem trägt der Druck aus Bagdad dazu bei, dass die neuen Konflikte innerhalb der kurdischen Gesellschaft, die im Gefolge des Ölbooms entstanden sind, den sozialen Zusammenhalt nicht wirklich gefährden.
Denn die Einnahmen aus dem Ölsektor, die im Übrigen höchst intransparent sind, haben auch zu einer neuen sozialen Polarisierung zwischen der extrem reichen herrschenden Klasse und dem Rest der Bevölkerung beigetragen. Zudem hat die Ausrichtung der gesamten Wirtschaft auf den Ölsektor alle anderen Wirtschaftsaktivitäten erstickt. Das gilt auch für den landwirtschaftlichen Sektor, was zur Folge hat, dass die Kurden des Irak den Großteil ihrer Lebensmittel importieren müssen.
Die zweite Wirkung der Spannungen zwischen Erbil und Bagdad besteht darin, dass die irakischen Kurden näher an die Türkei heranrücken. 2003 hatte Ankara sich gegen die Invasion der USA im Irak gestellt und den US-Bodentruppen die Erlaubnis verweigert, türkisches Territorium zu durchqueren. Man befürchtete damals, dass der Sturz des Saddam-Regimes zur Entstehung eines kurdischen Staates im Norden des Irak führen könnte, was der großen kurdischen Bevölkerungsgruppe in der Türkei wieder neue Hoffnung machen würde. Und die zeigte sich seit dem PKK-Aufstand im Jahr 1984 anhaltend widerspenstig.
Seitdem hat sich einiges getan. Das Verhältnis zwischen Ankara und Erbil hat sich zu einer sehr engen Kooperation verdichtet. Heute läuft praktisch der gesamte Außenhandel der KRG über die Türkei. Türkische Unternehmen haben kräftig in Irakisch-Kurdistan investiert, weshalb sie an künftigen Ölexporten aus der Kirkuk-Region, die von den Kurden kontrolliert werden, üppig mitverdienen könnten.7
Ankara ist sich der neuen Chancen, welche die irakische Kurdenregion bietet, durchaus bewusst und hat zu Barsani ein vertrauensvolles Verhältnis entwickelt. Die irakischen Turkmenen hat die Türkei schon immer unterstützt. Nun sieht sie sich auch als Garant für die Autonomie der irakischen Kurden. Während in den internationalen Medien ausgiebig über den Einfluss Teherans auf die irakische Regierung spekuliert wird, sorgt man sich in Bagdad weit mehr über den wachsenden Einfluss der Türkei auf diverse irakische Akteure und insbesondere auf sunnitische Politiker. So hat Ankara etwa dem früheren Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi, dem Verbindungen zum sunnitischen Terrorismus vorgeworfen werden, politisches Asyl in der Türkei gewährt.
Die Spannungen zwischen Bagdad und Erbil bringen Talabani und seine Partei in eine schwierige Lage. Da der irakische Präsident schwer krank ist, kann er nicht in der irakischen Innenpolitik vermitteln. Die PUK Talabanis ist die zweitgrößte Kurdenpartei im Irak und rivalisiert immer noch mit Barsanis KDP (Kurdische Demokratische Partei). Dabei unterhält die PUK traditionell gute Beziehungen zum Iran und ist deshalb in die neue Allianz zwischen Teheran und Bagdad eingebunden, während die KDP sich immer stärker nach Ankara orientiert.
In dem Maße, in dem sich die Zentralregierung unter al-Maliki konsolidiert, wächst der Widerstand gegen den Einfluss und die Ambitionen der Kurden.8 Die entscheidende Frage ist dabei, wo die neue Grenze der kurdischen Einflusszone gezogen wird und ob dies auf unblutige Weise geschehen kann.
Die Zukunft der irakischen Kurden hängt aber auch von der Entwicklung in Syrien ab. Dort werden die Kurden fast zwangsläufig von der syrischen Revolution profitieren. „Wir haben eine einmalige Chance“, meint Behjet Baschir, Repräsentant der Kurdischen Demokratischen Partei Syriens (KDPS) in Erbil. „Und die müssen wir unbedingt nutzen, denn sie wird sich kaum ein zweites Mal bieten.“ Für die Zukunft Syriens sieht er verschiedene Szenarien, aber selbst für den schlechtesten Fall sieht er die Kurden noch als Gewinner: „Zumindest werden sie die Herren in ihrer eigenen Region sein.“
Auch das Baath-Regime von Damaskus hat die syrischen Kurden übel behandelt. Getreu seiner Ideologie eines arabischen Nationalismus hat es die kurdische Identität nicht anerkannt. Die Kurden waren politisch und ökonomisch unterdrückt, etwa 100 000 von ihnen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, in den kurdischen Regionen wurden arabische Stämme angesiedelt. Als 2004 nach einem Fußballspiel in Dair az-Zur kurdische und arabische Fans aufeinander losgingen, wurde diese „kurdische Intifada“ brutal niedergeschlagen.
Die syrischen Kurden und der Bürgerkrieg
Den syrischen Kurden wurden auch kulturelle Rechte vorenthalten. In den Schulen durfte die kurdische Sprache nicht gelehrt werden, während andere Minderheiten wie Armenier und Assyrer – häufig sogar in derselben Region – das Recht auf eigene Schulen und auf Unterricht in ihrer Muttersprache hatten. Auch öffentliche Feiern zum kurdischen Neujahrstag (Nowruz am 21. März) waren verboten. Die Namen von Städten und Dörfern wurden arabisiert, alle Hinweise auf die kurdische Identität aus den Schulbüchern getilgt.9
Obwohl das Assad-Regime die eigene kurdische Bevölkerung wie Bürger zweiter Klasse behandelt hat, gewährte sie immer wieder kurdischen Guerillakämpfern aus der Türkei und dem Irak Unterschlupf, um sie als Hebel gegenüber Ankara und Bagdad zu benutzen. Der heutige Präsident des Irak lebte jahrelang in Damaskus, wo er auch 1975 seine Patriotische Bewegung (PUK) gründete. Doch es war eine andere Partei, die sich innerhalb der kurdischen Volksgruppe in Syrien am stärksten verankert hat: die auf türkischem Territorium entstandene PKK.
Die kurdischen Regionen im Nordosten Syriens waren auch keineswegs die Wiege des gegenwärtigen Aufstands. Zwar kam es in der größten kurdischen Stadt Qamischli mehrfach zu großen Demonstrationen, aber dem bewaffneten Kampf haben sich die syrischen Kurden hier nicht angeschlossen. Zwischen ihnen und den Aktivisten der syrischen Opposition gab es von Anfang an eine politische Differenz: Als 2011 der Syrische Nationalrat (SNC) gegründet wurde, forderten die kurdischen Aktivisten, der Nationalrat müsse die spezielle Leidensgeschichte der Kurden anerkennen und ihnen im künftigen Syrien ihre kulturelle Identität und das Recht auf politische Autonomie garantieren.
Die SNC-Führung hielt diese Forderungen für einen Ausdruck von kurdischem Chauvinismus. Sie forderten die syrischen Kurden auf, sich der Revolution anzuschließen; im Übrigen werde sich für die angesprochenen Probleme in einem künftigen demokratischen Syrien schon eine Lösung finden. Diese Reaktion verstärkte das Misstrauen der PKK-nahen syrischen Partei der Demokratischen Union (PYD), die im SNC ohnehin nur einen Handlanger Ankaras sahen: Schließlich war die syrische Oppositionsfront in Istanbul gegründet worden, und die dem SNC nahestehende „Freie Syrische Armee“ hat ihr Hauptquartier in der türkischen Provinz Hatay.
Das Assad-Regime wiederum war sehr darauf bedacht, die syrischen Kurden zu befrieden, um nicht noch eine weitere Front im Nordosten des Landes zu haben. 2011 gewährten die Behörden 300 000 ethnischen Kurden die Staatsbürgerschaft.10 Außerdem wurden einige kurdische politische Gefangene aus der Haft entlassen. Aber die Repression war damit keineswegs zu Ende, wie die Ermordung des kurdischen Aktivisten Maschaal Tammo zeigte, der im Oktober 2011 in Qamischli erschossen wurde.11
Die syrischen Kurden standen schon immer unter dem Einfluss kurdischer Organisationen in der Türkei und im Irak. Aber anders als die iranischen, türkischen und irakischen Kurden forderten sie von der Regierung in Damaskus niemals eine autonome Region oder gar einen eigenen Staat. Die erste Partei, die sich in Syrien für die kurdische Identität starkmachte, war die PYD, die 2003 als Ableger der PKK entstand.
Die 1978 von kurdischen Studenten in Ankara gegründete PKK ging 1984 zum bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat über. Anfangs wurde die Bewegung vom syrischen Regime unterstützt: Ihr Anführer Abdullah Öcalan lebte jahrelang in Damaskus, und die PKK konnte eigene Ausbildungslager in der Bekaa-Ebene im syrisch kontrollierten Teil des Libanon betreiben.
Damals rekrutierte die PKK auch syrische Kurden, was vom Assad-Regime insofern gefördert wurde, als diese vom syrischen Militärdienst freigestellt wurden. Beobachter schätzen, dass auch heute noch etwa ein Drittel der PKK-Kämpfer im Nordirak aus Syrien stammen. Seit Beginn der Guerilla-Operationen sollen zwischen 7 000 und 10 000 syrische Kurden in PKK-Uniform gefallen sein.12
Im September 1998 löste die Regierung in Damaskus – auf Betrieben Ankaras – die PKK-Ausbildungslager in der Bekaa-Ebene auf und verwies Öcalan des Landes. Nach einer hektischen Flucht durch mehrere Länder wurde der PKK-Chef am 15. Februar 1999 in Kenia von türkischen Geheimdienstagenten gefasst und nach Ankara geflogen. Danach entwickelte das Assad-Regime enge Beziehungen zur Türkei. Hunderte kurdischer Kämpfer wanderten in syrische Gefängnisse. Auch im Iran und in der Türkei geriet die PKK damals stark unter Druck, so dass sie sich in die Kandil-Berge im Nordosten des Irak zurückziehen musste. Der alte Satz „der einzige Freund des Kurden ist das Gebirge“ schien sich erneut zu bestätigen.
Doch dann kamen die arabischen Revolutionen und wirbelten die regionalen Bündnisse durcheinander. Ende 2011 rückten hunderte Kämpfer der PKK-PYD aus den Bergen in den syrischen Norden ein, den sie als „Westkurdistan“ bezeichnen. Als sich im Sommer 2012 der Bürgerkrieg auf Damaskus und Aleppo ausweitete und das Assad-Regime nicht mehr imstande war, das ganze Land zu kontrollieren, zog es seine Truppen auch aus einigen kurdischen Städten ab.
Zwei Fraktionen im Streit um den richtigen Weg
Im Juni 2012 übernahmen die PYD-Aktivisten die Kontrolle der nordsyrischen Städte al-Malikiyah, Ain al-Arab, Amuda und Afrin. Diese Entwicklung nährte Gerüchte, die PYD kooperiere mit der Regierung in Damaskus, was PYD-Sprecher Hussein Kojer klar dementiert: „Das Regime ist am Ende“, sagte er, man könne gar kein Bündnis mit ihm eingehen. Im Übrigen seien „Hunderte von Märtyrern“ der PYD in den Gefängnissen des Baath-Regimes gefoltert und getötet worden. Die Gerüchte über einen Pakt mit Assad würden von Ankara gestreut.
Das neue Selbstbewusstsein der PYD hat bei den anderen syrischen Parteien Misstrauen und in Ankara sogar Alarm ausgelöst.13 Die 16 Parteien der syrischen Kurden, die im Kurdischen Nationalrat (KNC) vertreten sind, haben angesichts der Stärke der PYD begonnen, eine eigene Militärmacht aufzubauen – und zwar mithilfe der irakischen Kurden. Tausende junge syrische Kurden sind aus der syrischen Armee desertiert und befinden sich in einem Lager im nordirakischen Dohuk, wo Peschmerga-Offiziere etwa 1 600 von ihnen militärisch ausbilden. Nach den Worten von Massud Barsani sollen sie „eine Rolle in Syrien spielen, wenn dort alles zusammenbricht und ein Vakuum entsteht“.14
Angesichts dieser Entwicklung ist zu befürchten, dass die PYD und der KNC um die Macht im syrischen Kurdistan konkurrieren werden. Am Ende könnte im schlimmsten Fall ein weiterer kurdischer Bruderkrieg stehen. Angesichts dieser Gefahr hat Barsani zwei Treffen der beiden Rivalen moderiert, die im Juni und im November 2012 in Erbil stattfanden. Dabei wurden Regeln für eine militärische und politische Koordination zwischen PYD und KNC beschlossen. Dennoch gibt es weiterhin starke Spannungen zwischen der PYD und einigen KNC-Gruppierungen, wenn es auch bislang noch nicht zu innerkurdischen Kämpfen auf syrischem Gebiet gekommen ist.
Und es zeichnet sich noch eine weitere Gefahr ab: ein Krieg zwischen kurdischen Kämpfern und syrischen Aufständischen. In Afrin und auch in Ashrafieh, einem Stadtteil von Aleppo, haben sich beide Seiten bereits Scharmützel geliefert. Die schwersten Kämpfe tobten drei Tage lang im November 2012 im Ort Ras al-Ayn an der syrisch-türkischen Grenze, wo kurdische Kräfte Kämpfern islamistischer Rebellengruppen gegenüberstanden. Die Kämpfe wurden durch einen formellen Waffenstillstand beendet, der aber nicht lange hielt: Im Januar 2013 kam es erneut zu bewaffneten Zusammenstößen.
Die syrischen Aufständischen werfen der kurdischen Guerilla vor, ihre Aktionen zu behindern und damit den Zielen des Regimes zu dienen. Umgekehrt hegt die PYD ein tiefes Misstrauen gegenüber der syrischen Opposition und insbesondere den islamistischen Bataillonen, denen sie den Zugang zu ihren Territorien verweigern.
Wenn die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien unter die umfassende Kontrolle der PKK-PYD geraten würden, wären sie zwischen zwei feindlichen Regionen eingeklemmt: der Türkei im Norden und den syrischen Rebellen im Süden. Die Kurdenregionen in Syrien bestehen aus flachem Land und sind für Guerilla-Operationen wenig geeignet. Die Kurden in Syrien scheinen zu schwanken,welcher der beiden kurdischen Fraktionen, die sich an den politischen Entwicklungen in der Türkei beziehungsweise im Irak ausrichten, sie sich zuwenden sollen. Wenn sie sich im wachsenden Chaos der syrischen Politik behaupten wollen, müssen sie unbedingt eine eigenständige Strategie entwickeln.
Friede in der Türkei?
Am 1. Januar 2013 berichteten türkische Medien über Verhandlungen zwischen dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem türkischen Geheimdienst. Die Gespräche sind offenbar bereits weit fortgeschritten, und kurdische Politiker erhielten die Erlaubnis, den PKK-Chef im Gefängnis zu besuchen, um Ankaras guten Willen zu untermauern. Zehn Tage später wurden drei PKK-Aktivistinnen in Paris ermordet, darunter Sakine Cansiz, eine Mitbegründerin der PKK. Die kurdische Seite sah das Attentat als Versuch, die Verhandlungen zu torpedieren.
An der Beerdigung der Ermordeten im türkischen Diyarbakir nahmen etwa 200.000 Menschen teil. Aber die Botschaft, die auf der Trauerfeier dominierte, lautete nicht Rache, sondern Frieden.
Trotz der Morde laufen die Verhandlungen zwischen Öcalan und der AKP-Regierung weiter. Der Vorsitzende des PKK-Exekutivrats, Murat Karayilan, kündigte Ende April an, am 8. Mai werde der Abzug aller PKK-Kämpfer aus der Türkei in den Nordirak beginnen. Ob die Verhandlungen tatsächlich zur Beendigung des Konflikts führen, der bislang 40.000 Menschenleben forderte, ist schwer zu prognostizieren. Sie könnten aber immerhin auf mögliche neue Bündnisse im Nahen Osten hinweisen.
Ankara hat seine Beziehungen mit der autonomen Kurdenregion im Nordirak zwar seit Längerem verbessert, aber der künftige Status der kurdischen Bevölkerungsgruppe in Syrien bleibt offen. In dieser Situation sind sowohl die türkische Regierung als auch die PKK schon deshalb an einem innertürkischen Waffenstillstand interessiert, weil beide dann den Rücken frei hätten, um stärkeren Einfluss auf die unsichere Entwicklung in Syrien zu nehmen. V.Ch.
Länder und Parteien
In der Türkei leben etwa 20 Millionen Kurden, hauptsächlich im Osten des Landes. Im türkischen Parlament sind sie mit 29 Sitzen durch die Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) vertreten, die der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahesteht. Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan rief im März 2013 zum Ende des bewaffneten Kampfes auf und steht in Verhandlungen mit der Regierung.
Im Irak mit seinen etwa 5 Millionen Kurden dominieren zwei politische Parteien: die Patriotische Union Kurdistans, deren Chef Dschalal Talabani gleichzeitig Präsident des Irak ist, und die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) unter Vorsitz des Präsidenten der Kurdenregion, Massud Barsani. Irakisch-Kurdistan ist eine durch die irakische Verfassung anerkannte autonome Region.
In Syrien leben knapp 2 Millionen Kurden, meist im Nordosten, aber auch verstreut im übrigen Staatsgebiet. Einflussreichste kurdische Partei in Syrien ist die PYD, die der türkischen PKK nahesteht. Der Kurdische Nationalrat, der sich aus 16 Parteien zusammensetzt, hat enge Verbindungen zur irakischen DPK. Zusammen mit der PYD hat er das Hohe Kurdische Komitee in Qamischli gegründet.
Im Iran gibt es rund 8 Millionen Kurden, die 1979 die Revolution unterstützten und sich später gegen das Regime wendeten. Die 1945 gegründete laizistisch orientierte Demokratische Partei des Iranischen Kurdistans (DPK-I) kämpft für regionale Unabhängigkeit und hat stark unter Repressionen zu leiden. Die der PKK nahestehende Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK, gegründet 2004) unternimmt bewaffnete Aktionen im Iran und unterhält Rückzugsbasen im Nordirak. Samir Hamma